Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

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Donnerstag, 28. Juni 2018

Schuldige Luftballons, fehlende Spirituosen und Magic Mike im Kinderwagen: Kinderfeste sind kein Spaziergang


Ich bin stets bemüht, den möglichst vielseitig interessierten Leser anzusprechen. Daher finde ich auch nichts daran befremdlich, direkt nach einem Artikel über Swingerclubs und Wege zur Eheöffnung eine Story über Kinderfeste zu veröffentlichen. Auch wenn ich es mir manchmal gerne anders herum wünsche: derzeit besuche ich letztgenannte Veranstaltungen öfters als die körperbetonte Erwachsenenvariante. Das liegt primär daran, dass die Müllerkinder leider immer noch nicht aus dem Alter heraus sind, in dem man bei Hüpfburgen den Spaß und nicht die Bakterien sieht und sekundär an Sarahs „Robbenmann“-Trauma vom letzten Clubbesuch. Letztlich leben Müllers in einer Art Scheindemokratie, in der man zumindest manchmal den Kindern Mitspracherecht bei der Freizeitgestaltung einräumt (und sei es nur für's Gewissen), Sarah und Marco haben als Gegenstück der Quattroehe so eine Art doppelte Staatsbürgerschaft und nehmen nicht an jedem Entscheid teil, entgehen dadurch aber auch in der Mehrheit der Teilnahme an Kinderfesten. Das ist auch gut so. Für die Kinder. Und vor allem für Sarah.

Schon vor über 30 Jahren schafften es solche Events nicht, mir ehrlich positive Emotionen zu entlocken.
Meistens läuft es ja so: Man fährt einige Wochen täglich auf dem Weg zur Schule möglichst so schnell an den Plakaten für solche Veranstaltungen vorbei, dass man hofft, die Kinder könnten auf Grund der Geschwindigkeit die quasi vorbeifliegenden bunten Buchstaben und Clownsnasen nicht erfassen. Irgendein Kind aus der Klasse posaunt dann aber heraus, dass es mit seinen offenbar distanzgeminderten und grenzwahnsinnigen Eltern genau dieses Fest am Wochenende besuchen wird und so nimmt das Unglück seinen Verlauf. „Mutti, da könnten wir doch auch mal hingehen.“ „Wir könnten es aber auch lassen.“ - „Aber…!?“ Hat also wieder nicht geklappt.

Man hofft bis wenige Minuten vor dem Aufbruch zum bunten Reigen aus Schmetterlingen mit Zahnlücken und rothaarigen DarthVaders zumindest auf meteorologische Kooperation obwohl einem unterbewusst völlig klar ist, dass es schon Scheiße regnen müsste, um die Kinder noch von ihrem freudbetontem Plan abzubringen. Ist ja eigentlich auch egal ob es regnet oder arschkalt ist, wir sind ja eh im Bubblefußball. Dass Frau Mutter nur knapp an einer Nierenbeckenentzündung vorbeischrammt, während sie Jacken und Rucksäcke haltend wie ein Lakai im Matsch wartet, weil unter allen schützenden Bäumen Gruppen aus Müttern mit Babybäuchen oder Kinderwagen stehen, wird billigend in Kauf genommen.

Schon mehrfach habe ich direkt beim Erblicken der ersten Menschenansammlungen im Umfeld solcher Festivitäten leidvoll feststellen müssen, dass ich schon wieder den Flachmann vergessen und noch nicht mal Zugriff auf einen Handtaschenprosecco habe. Freilich kann man diesen groben Planungsfehler niemandem anderen außer mir selbst zur Last legen. Dass sich der Alkoholausschank bei Familienfesten allerdings in der Regel auf Bier und süßen Sekt beschränkt, betrachte ich als groben Affront.

Man kann sich im privaten Umfeld andere Eltern und Kinder so gut es geht vom Hals halten, indem man den notwendigen Smalltalk auf ein „Hallo“ beschränkt. Als Lehrer allerdings ist man quasi dienstlich zu mehr als einer Begrüßungsfloskel verpflichtet. Da die Mehrzahl der Eltern und Kinder Dienstpflicht von echtem Interesse allerdings nicht unterscheiden können, wird einem in der Freizeit oft unmenschlich viel Interaktionsbereitschaft abverlangt. 
Mein Lehrerdasein und die dienstlich verpflichtende Bekanntschaft mit den Eltern der geschätzten Schülerpersönlichkeiten ist übrigens auch ein tragender Grund für den großen Bogen, den ich um öffentliche Badeanstalten mache. Ich möchte Frau Meier weder im Badeanzug sehen noch ihren sieben Kindern dabei zuschauen, wie sie sich endlich mal ihre schmutzigen Ohren waschen.

Hier auf dem Land ist ein Kinderfest ja immer auch ein Ereignis, dass sich nicht allein durch die Anwesenheit der unfertigen Menschen im Arbeitstitel sowie ihrer Erziehungsberechtigten definiert. Wenn sonst nichts los ist, trifft man dort nämlich auch die pubertären Möchtegernerwachsenen, die sich in Ermangelung eines Autoscooters immer noch lieber im Dunstkreis einer Bastelstraße aufhalten, als zu Hause zu sein. 
Während ich mir morgens beim Einlass vor der Schule einen Spaß daraus mache, ihnen ein Guten Morgen abzunötigen indem ich möglichst durchdringend beim Grüßen mit Aufforderungscharakter unter ihre Basecaps oder durch das Makeup starre, genieße ich es in der Öffentlichkeit außerordentlich, wenn die reifenden Persönlichkeiten lieber Abstand halten. Das tun zum Glück die Meisten. Es gibt aber auch Individuen wie Justin. Ich schrieb bereits schon einmal eine ausführliche Abhandlung über den distanzgeminderten Jugendlichen. Nein, nicht der Justin aus der Dritten, den die Polizei abführen musste, sondern der große Justin, der mir einmal einen kompletten Einkauf kommentierte wie Béla Réthy ein WM-Spiel.

Auf diesen Justin treffe ich auch heute. Schon von weitem sehe ich ihn am Fußweg vor dem Einlass stehen und schaue angestrengt in die geschätzt 150Grad Blickwinkel, die sich mir jenseits seines Anblicks bieten. Ich bin ja kein Arsch und definitiv hätte ich ihm huldvollerweise mit dem Standard-Hallo im Vorbeigehen bedacht, wollte aber äußerst gerne auf überflüssigen Blickkontakt auf langer Distanz verzichten. Justin allerdings scheint das nicht zufrieden zu stellen. Es gibt sie, diese Schüler deren Körpergröße eine entgegengesetzte Proportionalität zum Intellekt darstellt. Justin ist einer von ihnen. Deswegen tritt der 1,95große, lederbejackte aber bartlose Lulatsch urplötzlich direkt vor den verdutzten Herrn Müller, schneidet ihm quasi den Weg ab und stellt sich so vor mich, dass selbst die hinter mir her laufenden Müllerkinder einen Haken schlagen müssen, als läge bei MarioKart plötzlich eine Bananenschale kurz vorm Zieleinlauf. 
„Hallo, Frau Müller“ höre ich es von oben, während sich die Brusttaschen seiner Jacke knapp über meiner Augenhöhe befinden. „Hallo Justin“, erwidere ich ohne meine Schrittgeschwindigkeit zu verringern und mit einem großen Schritt in bester TakeshisCastle-Manier um die zwei Längenmeter Dummheit herum. 
„Wer war das denn?“ fragt mich Herr Müller zu Recht erschrocken. 
„Ein Schüler.“ – „Ah.“

Drinnen sind die Kinder genauso schnell weg, wie das Geld. Und weil sie zwar leider noch nicht zu alt für Kinderfeste sind, aber immerhin alt genug um sich dort weitgehend alleine zu bewegen, bleibt es den Müllers erspart auf Rutschen zu klettern oder Hüpfburgen zu betreten. Für die Hüpfburg fehlt der Alkohol, auch wenn der Gedanke, mit einem gezielten 65kg-Hops eine ganze Gruppe Fünfjährige über die aufblasbare Burgmauer zu katapultieren, durchaus einen ernstzunehmenden Reiz darstellt. Aber man hält sich dezent im Hintergrund – das verringert auch das Risiko angesprochen zu werden. Ein freundliches Nicken dahin, ein „Hallo“ dort hin. Nein, ich will nicht in deinen Kinderwagen schauen. Es sei denn Magic Mike und seine Kumpels sitzen drin und reichen mir ein Sektchen. Wie Babys aussehen, weiß ich schon. 

Das Sektchen aus der Hand des Strippers würde mir auch helfen, die unsägliche Beschallung zu ertragen. Die Tatsache, dass Helene Fischer mit Cabalier und dem Gorilla mit der Sonnenbrille random und in Dauerschleife laufen, spricht erstens nicht gerade für Schlager, beleidigt zweitens den Gorilla und sorgt drittens für noch mehr schlechte Laune. Weiter laufen, die Augen verdrehen und sich über die Betreuer an den Ständen wundern, die wirken, als bräuchten sie selbst Betreuung.

Zum Glück will keiner der Müllerjungs geschminkt werden. Von geschminkten Kindern bin ich gleich mehrfach traumatisiert. Einmal als ich zu einem Stadtfest in acht Stunden Akkordarbeit gefühlt 200 rosa Glitzerschmetterlinge produzierte und ein paar Jahre später in der Hälfte der Zeit auf unserem Schulhof ebenso viele Eisprinzessinnen. Eine Tätigkeit, deren Ausführung von einem Campingstuhl aus eigentlich das anschließende Notfall-Wiederbeleben durch einen talentierten Chiropraktiker nötig macht. Den Todesstoß versetzte mir schließlich der deckend in rot und schwarz geschminkte dreijährige Minimüller mit den Worten „Ich bin Beidersmänn (Spiderman)!“ Auge in Auge mit meinem ivoryfarbenen Brautkleid.

Nein, heute genügen beiden Jungs die unzähligen luftgefüllten Piratenschiffe, Rutschen und Hindernisbahnen, deren Gesamtkeimpopulation dank einer Million sockenloser Kinderfüße sicherlich die einer rumänischen Autobahntoilette übersteigt.
 
Mein Lieblingsmensch an diesem Tag ist der mürrische kleine alte Zuckerwatterverkäufer mit der schmuddeligen Schürze in seinem Retrocampingwagen, der sich mit der Mutter anlegt, die sein Softeis erst zu klein und dann zu teuer findet. Aber Hauptsache einen Hipsterkinderwagen im Wert eines 14-Tage-AI-Türkeiurlaubs vor sich herschieben.

Wir sind schon auf dem Weg zum Ausgang weil es zum Glück endlich beginnt ernstzunehmend zu regnen, als der kleine Müller aus keinerlei rationalen Gründen beschließt, unbedingt noch einen Luftballon zu benötigen. Die gibt es geschenkt und darum steht auch eine riesige Schlange vor den beiden Praktikanten mit der Heliumflasche. „Du willst dich nicht ernsthaft hier anstellen für einen Luftballon!?“ Und da steht er auch schon. Man überbrückt also die Wartezeit, wohnt zumindest vom Rande des Festzeltes aus dem Programm des Alleinunterhalters bei und stellt sich die dringende Frage, ob es für oder gegen das Talent des Tribute-to-Howard-Carpendale-Performers spricht, wenn er als Programmpunkt für Sonntagnachmittag um vier in Kuharschhausen geplant ist, nur damit Tante Heidruns graue Kaltwelle im Takt vor sich hin wippt.

„Kuck mal Mama, ich hab…“ und da fliegt der gelbe Luftballon auch schon zielgerichtet und imaginär mit ausgestrecktem Mittelfinger Richtung Himmelblau während der kleine Müller traurig den eben noch euphorisch in die Luft gestreckten Arm sinken lässt und leise „Scheiße“ sagt. 
„Siehste!? Heliumluftballons sind Mist. Sie fliegen weg, landen irgendwo im Wald oder im Meer. Dort werden sie von wilden Tieren gefressen und die sterben dann daran. Die sollten längst verboten sein.“  Kaum vorstellbar, aber die Miene des Minimüllers verdunkelt sich noch mehr. Daran kann auch die Maxipackung Quarkkräppelchen nichts ändern. Die Tatsache, dass man im Anschluss an den Besuch solcher Veranstaltungen als Eltern die Kochverweigerungskarte mit der „Ihr habt doch schon gegessen“-Begründung ausspielen kann, ist für mich der einzige ernstzunehmende Vorteil.

Zuhause angekommen dekontaminiert man die Kinder am besten mit einem Wannenbad. Der kleine Müller wirkt immer noch emotional stark angeschlagen. Der Luftballon, dieses Arschloch. Als er im Bett liegt, entschuldige ich mich bei ihm. „Sorry“ sag ich, „das war nicht in Ordnung, dass ich dich nicht getröstet habe, als dir der Luftballon weggeflogen ist. Du hattest dich ja extra angestellt und dich so gefreut als du einen hattest. Ich hätte mir ja auch die Zeit nehmen können und dir gleich ordentlich erklären können, dass diese Luftballons nicht gut sind. Tut mir leid.“ – „Schon gut, Mama.“

Schon gut? Is das alles? Bin ich die Einzige in der Familie, die die hohe Kunst der Selbstreflexion beherrscht? „Entschuldigung Mama, dass du mit uns da hin gehen musstest und wir dich noch nicht mal daran erinnert haben, einen Sekt einzupacken. Sorry, dass du mit den Müttern unserer Kumpels reden musstest und schlechte Musik deine Ohren quälte. Es tut uns leid, dass das billige Tiefkühlbrötchen zu deiner Rostbratwurst noch nicht mal getoastet war. Und wir entschuldigen uns auch dafür, dass die Sonne nicht geschienen hat und das Thermometer nicht wenigstens 20 Grad zeigte.“ Das wäre zumindest ansatzweise eine angemessene Reaktion gewesen. Was soll’s: als Eltern gibt man halt. Und wenn es nur zweifünfzig für ne Limo sind. 

Mich würde ja mal interessieren, ob es Studien zu späten Traumata bei Lehrerkindern gibt. Are there Erfahrungsberichte anywhere? Her damit.

Traumata und effektive Bewältigungs-
möglichkeiten gibt es in unregelmäßigen
Abständen vor allem bei Frau Müller auf
FACEBOOK. Garantiert ohne Luftballons.
Dafür aber mit Mehrweg-Penisstrohhalm. 
Also am besten gleich abonnieren. 

Mittwoch, 30. Mai 2018

Cast of Absurdistan 2.0: Ein Klassenporträt ODER Neue Äffchen braucht das Land


Nach dem Erfolg des Artikels „Cast of Absurdistan – Alle meine Äffchen“, welchen ich vor etwa einem Jahr veröffentlichte, möchte ich es nicht versäumen, dem interessierten Leser im Hinblick auf das bevorstehende Ende dieses Schuljahres den diesjährigen Cast of Absurdistan, also 2.0 mit dem Titel „Neue Äffchen braucht das Land“ vorzustellen. Wie auch im letzten Klassenporträt war ich aus Gründen des Datenschutzes bemüht, zu den Originalnamen der Kinder ein zumindest für mich und mein Empfinden passendes Äquivalent zu finden. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen sind daher rein zufällig.


Nicht nur die in Kürze zu schreibenden Zeugniseinschätzungen und damit wieder die schier unlösbare Aufgabe, die unangenehme Wahrheit in möglichst wertschätzende und ermutigende Worte zu verpacken und dennoch den Eltern, die bei der Aufgabe, ihren Kindern zumindest einen Teil ihrer Intelligenz zu vererben nicht gerade auf eine reiche Mitgift zugreifen konnten, einen Wink mit dem Zaun zu verpassen. Jedes Jahr erneut papiergewordener Iron Man.

Nein, zwar stimmte mich die erzwungene Übernahme der ersten Klasse, über die ich im Artikel „Lieber ein Kevin in der Hand als die Charlotte auf dem Dach“ bereits ausführlich berichtete, nicht gerade freudvoll. Aber wie ich das zum Beispiel auch vom Yoga kenne, bei dem ich Asanas, die ich nicht kann und die mir weh tun zunächst hasse und mit nachlassendem Schmerz immer besser meistere, habe ich mich mittlerweile so gut an die kleinen Rotznasen gewöhnt, dass mir die erneut bevorstehende Trennung von einigen Pflänzchen meines intellektuellen Mischwaldes, doch etwas zu schaffen macht. Nicht zuletzt, weil ich die Art der Veränderung pädagogisch so gar nicht vertreten kann, eine Änderung der Gesetzeslage und die Chefetage mir diesen Schritt jedoch abnötigte. Einige gehen, einige bleiben und einige kommen.

All die jenigen, die mir heute und in den verbleibenden Wochen dieses Schuljahres den Arbeitstag mit ihrer herzerwärmenden Anwesenheit und ihrem zuckersüßen kindlich-unverdorbenen Wesen verzaubern, sollen heute gewürdigt werden.

Beginnen wir mit Fabian, dem regelmäßigen Leser womöglich bereits als Rotzbläschenvulkan bekannt. Fabian klingt an vier von fünf Schultagen beim Atmen wie ein Poolfilter mit Herbstlaubfüllung. Und als könnte ich mir aus dieser Geräuschkulisse die frohe Kunde nicht selbst entnehmen, begrüßt er mich an solchen Tagen meist mit den rhinophonen Worten: „Frau Müllaaa, ich bin bissl krank.“ Aha. Fabian ist für mindestens dreiviertel meiner Kranktage in diesem Jahr verantwortlich, denn er ist es auch, der dank feinmotorischer Fähigkeiten eines 93jährigen Parkinsonpatienten mit zwei linken Händen an denen sich jeweils fünf Daumen befinden, ständig meine Hilfe beim Schreiben benötigt. Und wisst ihr womit sich Kind die krustige Schnupfennase abwischt, wenn gerade kein Taschentuch in der Nähe ist und die Zunge zu kurz zum popeln ist? Richtig, mit dem Handrücken. An dem klebt Frau Müller dann fest, wenn sie spontan zur Schreibhand greift bevor Fabian Gelegenheit hatte, seine kostbare Körperflüssigkeit abzulecken. Ach ja, ich wollte ressourcenorientiert schreiben. Also zu Beginn des Schuljahres beschäftigte sich Fabian häufig sehr vertieft damit, die kleinen Fädchen zwischen seinen Fingern zu beobachten, wenn er sie mit einem ordentlichen Spuckeklecks dazwischen auseinander streckte. Vermutlich hat er seine Studien dazu inzwischen abgeschlossen. Auch riesige Spuckepfützen auf seinen Arbeitsblättern, die er so lange versuchte trocken zu reiben bis das Papier ein Loch hatte, habe ich lange nicht mehr beobachten können. Außerdem ist Fabian sowas wie das Klassenbrain. Immer dann, wenn ich eine Frage stelle, die ernsthaftes Nachdenken erfordert (kommt hin und wieder vor), haut Fabian so ordentlich einen raus, dass es sich mein Hirn kurz vor der Selbstzerstörung durch Verzweiflung noch einmal anders überlegt.

Dann ist da Finn. Finn ist ebenso temperamentvoll wie charmant. So charmant und temperamentvoll, dass ihm die Betreuung durch mich allein nicht ausreicht. Und er ist der Schildkrötenjunge. Erinnert ihr euch noch an unseren ersten Wandertag, bei dem die kleinen Hobbybiologen glaubten, im Mittelgebirgswald eine Schildkröte entdeckt zu haben? Auf Facebook berichtete ich davon. Finn schert sich nicht viel um Individualdistanzen, auch nicht um die von Waldbewohnern. Nur mit Mühe gelang es mir die müllersche Lehrerinnencontenance zu bewahren, als mir die (Schild)kröte zwischen Finns Händen ihre hilflos hervorquellenden Augen entgegenstreckte und zu sagen schien: „Frau Müller, hättest du nicht einfach in den Zoo gehen können?“. 

Finns Stoffwechsel ist überaus aktiv – so aktiv, dass ihm der Inhalt seiner eigene Brotdose nur selten über den vierstündigen Vormittag bringt und er sich daher schon häufig als Taschen- äh.. Dosendieb ein Zubrot ergatterte. Scheinbar gibt es in jeder Klasse einen unglaublichen Hulk, in meiner letzten Klasse war es Justin, der mir den Abtransport im Streifenwagen einbrachte, in dieser ist es Finn. Wenn der sich verwandelt, kann man den Rest der Klasse und sich selbst nur noch in Sicherheit bringen oder läuft Gefahr, von umher fliegenden Stühlen und Tischkanten, mit dem Potential Zehen zu zermalmen, erwischt zu werden. Außerdem benötigen Außenstehende, wie zum Beispiel die Schulzahnärztin meine Dolmetscherdienste, da Finn eine Sprache spricht, die vermutlich eine Mischung aus Klingonisch und Suaheli ist. Wenn man sich ein wenig einhört, geht’s aber. Finns Stärke ist seine Fähigkeit, Arbeitsaufträge quasi nebenbei sowohl zu erfassen als auch zu erledigen. Während man als Beobachter durch seine merkwürdige Angewohnheit abgelenkt wird, auf Dingen herum zu kauen, die nicht dafür gedacht sind oder aber all seine Schreibgeräte in ihre ursprünglichen Bestandteile zu zerlegen, sind am Ende der Stunde dennoch alle Aufgaben erledigt.

Shanaia und Shakira sind eineiige Zwillinge. Und weil sie nicht nur gleich aussehen (ich kann sie bis heute nicht auseinanderhalten) sondern auch gleich liebenswert sind, erwähne ich sie gemeinsam. Kennt ihr Dideldumm und Dideldei aus Alice im Wunderland? Shanaia und Shakira sind zwar weder übergewichtig noch glatzköpfig aber wallendes rotes Haupthaar und ein ziegenähnliches Wesen sorgen für genauso viel Liebreiz. Der Look ist Programm. Und mehr gibt es über diese Beiden auch nicht zu sagen.


Sophie ist meine persönliche Stalkerin. Zu jedem Pausenklingeln steht sie pünktlich neben meinem Tisch, streichelt meinen Arm oder krault mir ungeachtet meiner Abneigung gegenüber nicht notwendigen Berührungen durch ungewaschene Kinderhände, den Rücken und säuselt mir dabei feengleich „Meine Frau Müller“ ins Ohr. Mit dem richtigen Filter und passender Musik könnte das durchaus der Opener einer Folge Tatort sein. Keine Ahnung ob Sophie Synästhesie begabt ist oder einfach nicht lesen kann, jedenfalls schaut sie mir beim Lesen permanent ins Gesicht. Und ich dachte immer, man liest aus Händen. Wenn etwas in meinem Gesicht stünde, dann sicher nicht „Momo und Papa TUN malen“ sondern so etwas wie „Herr, reiß die Erde auf!“ oder „Steinmetz ist sicher auch ein total interessanter Beruf“.

Ein ganz putziger Bub ist auch Ronny. Nicht. Wenn Ronny mich mit hängender Unterlippe und einer Zunge, die scheinbar so groß ist, dass sie nicht ganz in den Mund passt, anschaut und in jeder Pause aufs Neue fragt „Kannisch ma pullrn gehen?“ und dabei ebenso regelmäßig die Antwort „Du weißt, dass du in der Pause gehen darfst. Du brauchst nicht zu fragen“ bekommt, dann springt mein Herz vor Glück fast aus der Pädagogenbrust. Wenn wir eine Stunde lang darüber sprechen, dass jeder Mensch an jeder Hand fünf Finger hat (abgesehen von der Einfachheit halber unerwähnten Ausnahmen), kann ich mir sicher sein, dass Ronny am nächsten Tag jeden einzelnen seiner Finger zählt, wenn ich ihn nach der Anzahl seiner Finger frage. Egal ob man Ronny lobt, ermuntert oder auf Streichholzschachtelgröße zusammenfaltet, Ronnys Reaktion gleicht stets der eines Findlings in der mecklenburgischen Grundmoräne an einem Dienstagabend bei einem aufkommenden Sommergewitter. Ein Klassiker: „Ronny, schau mal. Ich habe zwei Bonbons. Eins ist hier in der offenen Hand. Wie viele Bonbons sind denn jetzt in der geschlossenen?“. Ronny mit dem Zauberblick: „Fünf?“

Tim hat einen echten Weg hinter sich. Nachdem er nämlich im ersten Halbjahr jede seiner Handlungen mit der nachdrücklichen Forderung „Ich brauch mal Hilfeee!“ anging, beginnt er mittlerweile selbstständig mit der Arbeit und fragt mich nach zwei Minuten „Meinst du so?“. Tim ist ein wirklich WIRKLICH liebenswertes Kerlchen, auch wenn ich mich in Förderstunden mit ihm manchmal fühle, als würde ich versuchen einem Hund oder einer Katze das Lesen zu lernen. Du wünschst dir nichts mehr, als das er es endlich schafft Mi, Ma oder Mo zu lesen und ein L von einem P zu unterscheiden, wirst aber statt mit einem Lernerfolg, mit einem ebenso verständnislosen wie niedlichen Hundeblick belohnt. Immerhin.

Carsten sagt nicht viel aber wenn er etwas sagt, dann bringt er es auf den Punkt. Mit der Stimme von Feivel dem Mauswanderer, bittet er mich „meinen Hintern einzuziehen“ damit er zum Abwischen an die Tafel kommt. Und nach einem Klassenanschiss, der sich zumindest in meinen Augen gewaschen hat und mit „Das ist NICHT lustig“ endet, schiebt er das schweinsteigersche „Aber funny“ nach. So pointiert wie Carsten sein kann, wenn er sich sicher fühlt, so stumm ist er, wenn er etwas verbockt hat. Da für quatscht Carstens Mutter jeden Elternabend in die ewigen Jagdgründe und sorgt mit ihrem Auftritt sogar bei den hartgesottensten Anwesenden für ein Übermaß an Fremdscham. 

Ich erwähnte es bereits: Justins sind das Salz in der Suppe des Klasseneintopfs und so darf er auch in Klasse 1 nicht fehlen. Justin erinnert mich optisch an Caillou aus der gleichnamigen Kinderserie, vor allem dann, wenn Justins Papa mal wieder die Haarschneidemaschine geschwungen und den Familienfriseur gespielt hat. Das nennen wir es nicht ganz schlüssige Verhältnis von Kopfgröße zum Körperbau ist bei beiden Jungen gleich. Justin ist das Lämpchen mit der niedrigsten Wattzahl. Und wenn er mich nicht gerade durch das fortwährend geräuschvolle laterale Einsaugen seines Speichels an den Rande des Wahnsinns treibt, dann spätestens wenn er voller Überzeugung versucht, den letzten verbleibenden Stein aus der vierten Etage des bereits gefährlich schwankenden Jengaturms zu ziehen. Mit Justin Logikaufgaben lösen fühlt sich an, als würde man versuchen, ein Domino in einem Trampolin aufzubauen, während eine ganze Kindergartengruppe darin springt. Unser gemeinsamer Start gestaltete sich etwas schwierig, nachdem er mir täglich mit grimmiger Miene beteuerte, dass er morgen nicht mehr kommt und seiner Mama sagt, dass ich gar nicht lieb sei. Nichts von allem geschah, aber die Bäche seiner Trotztränen versiegten immerhin.

Irgendwie hab ich sie trotzdem alle gern und das Hühnerfrikassee der Seniormüllerin ist kein Hühnerfrikassee, wenn kein Mais dran ist. Ihr wisst was ich meine. Wie oben bereits erwähnt, werden mich einige der kleinen Schwachstrompersönlichkeiten verlassen, dafür werden mir aber auch einige neue Passagiere in den Bus der Erkenntnis gesetzt. So widerwillig ich zu Beginn des Schuljahres war, nachdem man mir meine großen Äffchen weggenommen hatte, so wehmütig bin ich heute. Was mir Mut macht, ist der Gedanke an Tiefkühlfrikassee, das zwar nicht schmeckt wie von Muttern aber auch lecker ist. Ganz ohne Mais.

Das hat wesentlich mehr Spaß gemacht,

als echte Zeugnisse zu schreiben.

Spaß macht mir auch,

euch via FACEBOOK über Absurdistan

und Neues aus der Müllermansion

zu informieren. Also HIER reinschauen


Mittwoch, 13. Dezember 2017

Alle Jahre wieder: Herr, lass' Glühwein und Ohrenstöpsel regnen!

Im letzten Jahr gab es an dieser Stelle den GAYZEMBER. In diesem Jahr blieb mir  LEIDER die Mehrzahl der zuckerwattig-zauberhaftigen Erlebnisse mit meinen homosexuellen Einhornfreunden verwehrt, weswegen es mir nicht möglich war einen ganzen GAYZEMBER 2018 inhaltlich zu füllen. Verzeiht mir also, wenn ich es wie alle mache und irgendwas über Weihnachten schreibe. Es ist ein bisschen wie mit Glühwein. Eigentlich ist es immer nur Glühwein - allerdings kommt es auf die Qualität an. Und manchmal auch auf den entsprechenden Schuss. Bei mir gibt's viel Schuss. Mit ohne Aufpreis.


An sich mag ich Weihnachten. Mir bleibt im Grunde auch gar nichts anderes übrig, dann da wo ich herkomme wird Weihnachten zelebriert. So sehr, dass es sogar eine Art Weihnachtstourismus ins Land der Müllerin gibt und an den Wochenenden volkskunstgeile Rentner massenhaft von Reisebussen ausgespuckt werden. 

Soweit so gut. Wenn man an der Autobahn wohnt, hört man irgendwann den Verkehr nicht mehr. Für mich bedeutet Weihnachten, dass Weinkonsum jenseits abendlicher Dunkelheit relativiert wird solange die Spirituose dampft und sich in einer bunten Henkeltasse befindet. 
Keiner wundert sich über den Grinch als WhatsappProfilbild und im Radio laufen diese wunderbaren Weihnachtsschinken, die alle hassen. „Last Christmas“, "Driving home for Christmas" und Band Aid… sorry Leute, ich liebe es. Ich steh' sogar auf dieses uralte Mundartliedgut aus meiner Region, das jedem Auswärtigen ein Stirnrunzeln aufs Gesicht zaubert.  Und "Sind die Lichter angezündet" ist sowas wie Ritalin für eine Frau Müller, die kurz davor ist, jemanden mit Kräuselband zu erdrosseln.

Weihnachten ist ganz okay. Noch okayer sind Schnapspralinen im Adventskalender und Mäntel, die lang genug sind um unter der Last des Christstollens anschwellende Arschbacken und Oberschenkel zu kaschieren. Temperatur und Witterungsbedingungen legitimieren Netflix statt Outdoor. Bis an diesen Punkt hat die Weihnachtszeit etwas Beseeltes und Heimeliges. Hygge heißt das doch neudeutsch, oder?
 
Mit der Hygge isses aber spätestens vorbei, wenn das große Müllerkind Montagabend sagt: „Ach Mama, morgen Abend um sechs is das Weihnachtskonzert unserer Schule!“ Und weil ich die Hoffnung nicht aufgebe (oder einfach dumm und naiv bin), frage ich wie jedes Jahr: „Machst du da mit?“ 
– selbstredend macht er da mit. Es ist eine christliche Schule. Natürlich machen da alle mit. Und wo findet das Weihnachtskonzert einer christlichen Schule statt. Yeeehaa – sechs Richtige: In der Kirche natürlich. Freude, Freude!

Nun fragen sich die Kenner unter den Lesern sicherlich, warum eine Frau wie ich, mit einem quasi nichtvorhandenem Verhältnis zum christlichen Glauben, ihr Kind an eine solche Schule schickt. Wie soll ich das erklären. Hier auf dem Lande hat man bei der Entscheidung für eine Schule die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Ich bin an sich ein Lokalpatriot und kaufe meine Weihnachtsgans beim Dorfbauern. Und auch bei der Auswahl der Grundschule gab ich zunächst der Bildungseinrichtung in Steinwurfentfernung eine Chance. Das Problem war allerdings, dass die Philosophie der Chancengeberei nicht auf beiden Seiten funktionierte und die Klassenlehrerin des großen Müllers anscheinend kein Fan der BigBangTheory war. Jedenfalls konnte sie mit dem leicht nerdigen Leistungsverweigerer, welcher sechs Jahre zuvor meinem Becken entsprang, nicht viel anfangen. 

Erlösung fanden wir tatsächlich in den flexibleren Unterrichtsmethoden und einem sehr viel humaneren Menschenbild der Privatschule in christlicher Trägerschaft aus dem Nachbarort. Nützt eben nix. Jetzt verweilt der große Müller eben dort und bereichert den Unterrichtsalltag mit glaubenskritischen Diskussionseinwürfen und unser Weihnachtsfest alljährlich mit einer Veranstaltung, bei der wir mitten unter betenden Menschen weilen.

Einziger Lichtblick ist der Weihnachtsmarkt direkt vor der Kirchentür. Zwei Tassen Glühwein mit Schuss vor Beginn des Programms ermöglichen mir zwar, das Ganze geistig durchzustehen, spätestens nach der ersten Viertelstunde nötigt mir meine Blase allerdings einen Besuch auf dem Heiligen Stuhl, also der Kirchentoilette, ab. Bemerkenswert finde ich, dass es dort angesichts der gesteigerten Luftfeuchtigkeit des alten Gemäuers, feuchtes Toilettenpapier direkt von der Rolle gibt. 

Es folgen 60 Minuten Inferno aus Kindern, die Instrumente foltern – Blockflöte from Hell – und pickligen Milchbärten, die mit brüchigem Bass den Einsatz beim Kanon verpassen. Die Kombination aus einer Geige, die klingt als würde sie das Lied vom Tod spielen und nicht „Leise rieselt der Schnee“, der Wirkung des Glühweins und der erhöhten Konzentration elterlicher Glückshormone in der Luft versetzt mich in einen tranceähnlichen Zustand in dem ich halluziniere, dass dem kleinen rothaarigen Mädchen aus dem Mittelgang plötzlich gewundene Hörner und Hufe wachsen und es dem Pfarrer an die Kehle springt.

Herr Müller reißt mich aus meinem Tagtraum, als er mich fragt ob es eigentlich erlaubt ist in der Kirche zu essen. „Hallooo? Weißt du wie egal mir das ist? Kuck, dort drüben, die stillt. Also kannst du auch essen. Außerdem wurde mir hier nie eine Hausordnung oder irgendwelche Nutzungsbedingungen präsentiert. Ich hab nichts unterschrieben.“
Herr Müller kramt in meiner Handtasche nach den gebrannten Mandeln vom Weihnachtsmarkt. Und während er mitten im Gebet mit der Tüte raschelt und geräuschvoll Mandeln knuspert, denke ich: Ein Eismann, so wie im Kino. Das wäre jetzt gut. Dann wäre auch ein Schild am Kirchenportal mit der Aufschrift „Verzehr von mitgebrachten Speisen und Getränken verboten“ legitim. Vermutlich würde ich Nachos mit Käsedipp essen. Hier drin isses ja schon kalt. Kirchen haben ein schlechtes Catering.

Weil wir nicht wie gute Eltern schon vor Einlass an der Kirchentür standen um die Plätze mit der besten Sicht zu ergaunern, sondern lieber zum Dienstagabend das Tagesgeschäft der Budenbetreiber auf dem Weihnachtsmarkt retteten, sitzen wir jetzt hinten irgendwo am Rand auf den Stühlen quer zur Betrichtung. Das hat den Nachteil, dass einen beim Mandeln knuspern strafende Blicke aus allen Richtungen treffen und man nur kurz einen Blick aufs im Klassenverband singende Müllerkind werfen kann. Unschlagbarer Vorteil dieser Plätze ist allerdings, dass man die betenden und singenden Menschen beobachten kann. Das ist echt lustig. Wer Walking Dead kuckt, kann die Faszination am Menschen verstehen.

Den krönenden Abschluss eines solchen Events bilden die Kinder mit den Kollektekörbchen am Ausgang. Herr Müller kann den Sanifair-Wertbon vom Autobahnklo nicht so schnell finden und ich entschließe mich spontan die Edeka-Treuepunkte doch lieber in neue Steakmesser zu investieren. Also klimpert man im Vorbeigehen nur kurz mit den Fingern im Kleingeld des Körbchens. Ihr wisst schon, wegen Weihnachtskarma und wegen des Eindrucks. 

Das mit dem Eindruck hat übrigens noch nie funktioniert, weswegen dem jüngeren Müllerkind die Beschulung mit Gottes Segen verwehrt wurde. Der geht jetzt in die Dorfschule nahe der Müllermansion und dank gesteigerter Anpassungsbereitschaft seinerseits und seitens seiner Lehrerin verglichen mit der Causa „Müllerkind 1“ klappt das auch ganz gut. Schade eigentlich für die Seelenfänger unterm Kruzifix, denn der jüngste Müller ist der Einzige mit Glaubensambitionen in der Familie. Nun gut, ich denke auch er lernt noch, dass die Gebrüder Grimm und StarWars glaubwürdiger sind.

Der Versammlungsort, an dem ich Ende der Achtziger eingeschult und den die Dorfbewohner Volkshaus nannten, wurde wenige Jahre nach meiner Schulanfangszeremonie dem Erdboden gleich gemacht. Das lag nicht an mir oder meinem Matrosenkleidchen von damals, sondern viel mehr an der Bausubstanz, die den neuen Standards nicht entsprach oder schlicht weg am Wandel der Zeit. Denke ich. Heute steht dort ein schmucker Prunkbau der Freiwilligen Feuerwehr. 
Da jedoch im Spritzenhaus zu wenig Platz für die Familien von acht Grundschulklassen ist und eine Bestuhlung der örtlichen Turnhalle zu aufwendig wäre, greift auch die staatlich-weltlich finanzierte Grundschule natürlich auf welchen Veranstaltungsort für das obligatorische Weihnachtsprimborium zurück? Selbstverständlich! Auf die Kirche!

Zwei Kirchenbesuche in einer Woche. Eigentlich ein Fall für Amnesty International, wie ich finde. Aber ich mach ja gerne den Märtyrer. Weil alle wissen, dass Zeit kostbar ist, Grundschüler sich besonders lange konzentrieren können und die Grundschullehrerinnen unter den Dörflern hier ein besonderes Geltungsbedürfnis haben, geht dieser darstellerische Schwanzvergleich der Unterstufenpädagogik ganze zwei Stunden. 

Immerhin wurden dieses Jahr die Eintrittskarten pro Familie auf Drei beschränkt. Entweder die Brandschutzbeauftragten der örtlichen Feuerwehr haben nach dem Chaos des letzten Jahres die Auflagen verschärft oder eine der Mütter im Elternbeirat hatte genau wie ich nicht im Schlafsack vor der Kirche übernachtet, um einen der wenigen Sitzplätze mit Blick auf die Aktionsfläche zu bekommen und musste ebenso auf graue Kaltwellen, Halbglatzen und die Digitalkamera-haltenden Filzärmel in gedeckten Farbtönen von Urgroßtante Ursula und Stiefschwippschwager Herbert starren.

Aktionsfläche ist das Stichwort. Die Architektur einer Kirche ist nicht gemacht für eine Revue mit 170 halben Menschen unter 1.50m. Sie ist gemacht für genau einen Selbstdarsteller, der viel zu viele Jahre Studium und damit vermutlich staatliche Ausbildungsförderung darauf verschwendet hat, etwas sehr hanebüchenesaus einem Buch zu studieren, dass mich bei der Lektüre in die Gefühlswelt eines Legasthenikers mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom schlüpfen lässt. Dieser Selbstdarsteller steht sonntags auf dem eigens für ihn gezimmerten hölzernen Podest und erzählt entweder schräges Zeug oder übersetzt grundlegende Regeln eines friedlichen und respektvollen Miteinanders ins Wort von Jesus Crispus. 

Jedenfalls haben alle frommen Menschen einen guten Blick auf den Referenten des Herrn. Ich habe jetzt nur einen guten Blick auf seine leere Kanzel und die geschnitzten Hipster in weißen Bettlaken an der Wand. Kinderstimmen kommen aus dem Off und Lautstärke steigt bei einigen Jungtalenten proportional mit gesanglicher Inkompetenz.
Hatte ich schon erwähnt, dass es in unserem Dorf  nur einmal im Jahr an einem einzigen Adventssonntag nachmittags öffentlich Glühweinausschank gibt. Dieser Tag ist nicht heute. Und der Ort, an dem das Büdchen steht, ist auch mehr als eine Becherfüllung von der Kirche entfernt.

Wie dem auch sei: wenn ich nach zu viel Tag – und dieser Tag war verdammt viel Tag für einen einzigen Tag – noch so nüchtern bin, ist der Grat zwischen resignierter Starre und emotionalem Ausbruch schmal. Es war nur Glück für die fremde Frau hinter dem großen Müllerkind, dass Herr Müller zwischen ihm und mir saß, als sie ihn recht unfreundlich aufforderte, das Handyspielen zu unterlassen. Niemand hätte den Bitchfight zum Ende des Programms dokumentieren können, weil alle Handyakkus am 6-Minuten-Löffelpolka starben. Und wenn das Kind nicht Handy zocken darf, dann faltet es eben Origami-Schwäne aus den herumliegenen Krippenspielflyern für Heilig Abend.

Ob nun ein flüchtiger Blick auf mein vor Publikum popelndes Kind, ein beherztes Gähnen seinerseits just in dem Moment als sich die Kaltwellen und Halbglatzen vor mir lichten oder aber ein mit inbrünstiger Mimik und Gestik vorgetragenes Lied: Bekommt Kinder, haben sie gesagt. Sie machen Freude, haben sie gesagt. Tun sie auch. Nur manchmal muss man die Freude eben suchen.

zwar nicht beim Geschenke einpacken oder
Teig ausrollen, aber möglicherweise
lenkt sie euch davon ab. Ob das jetzt
besser oder schlechter ist,
müsst ihr selbst entscheiden. Also
brav liken. Dann bringt euch auch
der Weihnachtsmann einen Gutschein
für den Drogeriemarkt. Oder so. 

Mittwoch, 22. November 2017

„Frau Müllaaa, ich muss mal pullern!“ – Zwischen Bildungsmisere, häufigem Harndrang und Arschlöchern in verschiedenen Größen



Auch für diesen Artikel habe ich auf Recherche im engeren Sinne verzichtet. Es handelt sich um meine Erfahrungen, auf deren Grundlage ich mir getraut habe, eine Meinung zu bilden. Personen, denen diese Meinung nicht gefällt, dürfen mir dies gerne mitteilen oder vom x in der rechten oberen Bildschirmecke Gebrauch machen...

Ein Zehnjähriger fragt den Lehrer wenige Minuten nach Unterrichtsbeginn, ob er zur Toilette dürfe. Der Lehrer verbietet den Gang zum Klo, woraufhin der Junge einpieschert. Von Lehrer, Klassenkameraden und Schulleiter wird das Kind gerügt und sogar ausgelacht. Es folgt eine dreiwöchige Krankschreibung des Jungen sowie eine Anzeige durch die Mutter gegen den Pädagogen. (So passiert kürzlich im Süden Deutschlands und von diversen Medien ausführlich besprochen)

Ohne Zweifel, in diesem Fallbeispiel ist einiges schief gelaufen. Wir wissen nicht, ob der Junge psychische oder organische Probleme hatte – ebenso wenig wissen wir das vom Klassenlehrer, den Mitschülern, dem Schulleiter, dem Arzt oder gar der Mutter. In seinem Verlauf ein unglücklicher Einzelfall, die Diskussion zum Problem jedoch ist ebenso uralt wie haarsträubend und steht für mich sinnbildlich für den Ursprung unseres Bildungsproblems.

Der Umstand, sowohl Lehrerin als auch Mutter von schulpflichtigen Kindern zu sein, sorgt zwar für ein fast unmenschliches hohes gefordertes Maß an Interaktionsfähigkeit mit anstrengenden Eltern und nötigt mir die Anwesenheit auf viel zu vielen Elternabenden pro Schuljahr ab, ermöglicht mir aber zugleich bei der Pipi-Diskussion einen Standpunkt einzunehmen, der irgendwo zwischen Schwarz und Weiß liegt - ganz im Gegensatz zum Standpunkt mit Nullradius vieler Mütter und anderer Menschen mit viel Meinung aber wenig Ahnung.

Fakt ist, dass ein Lehrer, der verantwortlich dafür ist, dass sich mein Kind in die Hose macht und es vor allem dann noch vor der Klasse bloß stellt, auch von mir äußerst unangenehmen Mutterbesuch bekommen würde. Das steht fest.

Fakt ist aber ebenso, dass die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben und sich an Tagesstrukturen anzupassen, eine Grundkompetenz bei Schulanfängern darstellt. Dass einige Erstklässler das noch lernen müssen ist völlig klar. 

Nicht jeder wird im späteren Leben Freiberufler. Es reicht schon Lehrer zu werden, um nicht täglich die Chance zu haben zwischen 8 und 12 Uhr zur Toilette zu gehen oder gar etwas zu essen. Von Kassierern, Fabrikarbeitern oder Berufskraftfahrern reden wir gar nicht erst.

Vor einiger Zeit unterrichtete ich probeweise eine Gruppe Vorschüler für ein paar Tage. Zum Unterricht, einer Art Beobachtungs- und Diagnosephase, gehören auch standardisierte Testverfahren, bei denen Instruktionen und Testbedingungen wichtig sind um Ergebnisse später objektiv verwerten zu können. Mitten in einer Aufgabe beschließt einer der Sechsjährigen plötzlich ganz dringend pullern zu müssen und weil Harndrang genauso ansteckend wie Gähnen ist, müssen plötzlich fünf von sechs Kindern. Um die Aufgabe zu beenden, hätte ich noch zwei oder drei Minuten gebraucht. Natürlich hab ich alle sofortgehen lassen. Das Ganze hat mich gute zehn Minuten gekostet, inklusive Öffnen und Schließen diverser Reißverschlüsse und Hosenknöpfe sowie der Suche eines Verschollenen, der den Weg zurück vom Klo zum Klassenzimmer nicht fand. Die Testergebnisse sind streng genommen nicht verwertbar. Aber das nimmt man eben in Kauf um Pfützen und Anzeigen zu vermeiden. Die Kinder kamen direkt aus dem Kindergarten, dort geht man wenn man möchte. Halloo, ich bin kein Unmensch… .
  
Vor kurzem übernahm ich die Leitung einer ersten Klasse. Am ersten Tag meldet sich Ronny eine Viertelstunde nach Beginn der zweiten Stunde: „Duuuu, kannisch ma bullrn gehn?“, noch bevor ich antworten kann, ruft einer seiner Klassenkameraden „Ich aauuch!“ dazwischen und zusätzlich schnellen zwei weitere Hände in die Höhe. Ich antworte mit folgendem Vortrag: „Ihr seid jetzt in der Schule. Hier haben wir Pausen um zu essen, zum trinken und auch um auf die Toilette zu gehen. Daran solltet ihr denken. Versucht bitte auszuhalten so gut ihr könnt. Wenn es jemand gar nicht mehr aushält, dann fragt noch einmal, bevor es in die Hose geht.“ Ronny hat an diesem Tag nicht mehr gefragt. Und auch keiner seiner Mitschüler. In den Wochen nach Schulbeginn hat er es noch drei oder vier Mal versucht und immer die gleiche Antwort erhalten. Seine Hose ist trocken geblieben.

An dieser Stelle möchte ich, für alle denen das bisher entgangen ist, noch einmal erwähnen, dass ich an einer Förderschule arbeite. Ich lehne mich einfach mal so weit aus dem Fenster zu behaupten, dass man etwas, das bei den meisten Kindern mit oft umfassenden Entwicklungsstörungen und -verzögerungen funktioniert, doch eigentlich auch vom Durchschnittsgrundschüler erwarten kann.

In einer sechsten Klasse, welche ich einige Jahre leitete, versuchte sich ein Junge regelmäßig durch Toilettengänge vom Unterricht zu entziehen. Der Gute war und ist kein unbeschriebenes Blatt, aktuell ist er vom Unterricht suspendiert und schon damals eilte ihm sein Ruf voraus, unter anderem gerne unbeobachtet durchs Schulhaus zu tingeln und allerhand Kreatives anzustellen. In der zweiten Hälfte der Stunde fragte er, ob er zur Toilette dürfe. Natürlich durfte er nicht. Ich verwies ihn auf das baldige Unterrichtsende. Kurz vor Schluss bemerkte ich seinen wirklich gequälten Gesichtsausdruck und die wässrigen Augen. Um Schlimmeres zu vermeiden entließ ich ihn in Richtung Porzellanausstellung.

Dennoch höre ich immer wieder von Kollegen aus den kleineren Klassen, von größeren und kleineren verunfallten Geschäften vor Erreichen der rettenden Räumlichkeiten. Zum Glück hörte ich bisher nur davon. Selbstverständlich weiß ich, dass auch ich früher oder später an die Wechselsachen im Schrank ran muss.

Manche Blogger haben nicht nur Meinung sondern auch Ahnung. Und "wenige manche" können zusätzlich noch so wunderschöne T-Shirts mit Aussage machen. Coffeepotdiary kann das.
 
Zurück zur Einstiegsgeschichte. In der Kommentarspalte zum Artikel ging eine 21 jährige Kinderlose, die angab beruflich mit Paragraphen zu tun zu haben (Ich vermute, sie ist Rechtsanwaltsgespielin …äh… gehilfin.) auf alle los, die sich auch nur ansatzweise für die Lehrer und kritisch gegenüber der Reaktion der Mutter aussprachen. Paragraph X… Nötigung …Paragraph Y … Körperverletzung und so weiter und so weiter. Hüa, ihr Paragraphen, spürt ihr die Sporen!?

Eine Dame mit Wohnsitz im Glücksbärchiland warf mir vor, Kinder zu hassen und den Beruf verfehlt zu haben, nur weil ich behauptete, dass die Prinzen und Prinzessinnen nicht immer nur wollen weil sie gerade müssen. Und wie abfällig ist überhaupt der Ausdruck Prinzen und Prinzessinnen. Ja, wie abfällig ist das eigentlich? Fragt ihr Übermamis und Babybloggerinnen mit den Bauchzwergen euch das auch manchmal?

Hasse ich Kinder? Hasse ich Eltern? Hasse ich meinen Job? Hasse ich Menschen? Hm. Gute Frage. Ich hab das sicher schon mal so oder so ähnlich irgendwo geschrieben. Wahrscheinlich auch mehrfach. Auch wenn das die Kopfstimme oft aus vollster Überzeugung schreit, weiß die Bruststimme instinktiv, dass ich meine Arbeit vermutlich nicht zur tatsächlichen Zufriedenheit aller Beteiligten machen würde, wenn ich von generalisiertem Hass angetrieben werden würde.

Es ist vielmehr eine Art Kette. Eltern bringen mich dazu sie zu hassen, weil sie sich verhalten wie überhebliche Arschlöcher, die mir meine Arbeit erklären wollen und glauben, Paragraphen sind mehr wert als Entwicklungspsychologie, Konsequenz und Einfühlungsvermögen. Nicht selten produzieren Arschlocheltern Mini-Arschlöcher, die dem Lehrer mit der Erhabenheit eines 130cm großen Pablo Escobars gegenübertreten. Richtig, das bringt mich dazu manchmal Kinder zu hassen. Und dann eben „ganz manchmal“ auch meinen Job. Wer hat schon Lust auf einen Job, bei dem einen von Anderen ständig gesagt wird, wie man ihn besser oder überhaupt richtig macht. Überlegt noch jemand Lehrer zu werden? Nein? Warum denn bloß?

Als ich vor fast 30 Jahren eingeschult wurde, wäre keiner auf die Idee gekommen mit dem Lehrer eine Diskussion über Toilettengänge anzufangen. Beschissene Lehrer gab und gibt es – damals wie heute. Die neue Klassenlehrerin meines Bruders zum Beispiel, die den kleinen Kerl nach dem Umzug behandelte wie einen Aussätzigen – bis meine Mutter ihr die Müllerin machte. Oder die erste Lehrerin des großen Müllers, die ihm erst eine LRS und dann auch noch ADHS andichten wollte - bis der Schulpsychologe ihm einen überdurchschnittlichen IQ diagnostizierte. Statt sich damit auseinanderzusetzen, empfahl sie den Müllers einen Schulwechsel...

Wir brachten früher am Lehrertag Blumen mit zur Schule und ich möchte behaupten, dass aus den meisten von uns fähige Erwachsene wurden, denen die herkömmliche Struktur eines Schultags nicht geschadet hat. Keiner wäre auf die Idee gekommen, Lehrer unter den Generalverdacht des Machtmissbrauchs und Sadismus zu stellen. Nein, damals genossen Lehrer sogar noch eine Art Respekt und Ansehen. Nichts Übertriebenes. Nur das Gefühl, sich für seine Arbeit nicht rechtfertigen oder gar schämen zu müssen.

Dann passierte etwas, dessen Anfänge ich gar nicht genau beschreiben kann, weil ich zu diesem Zeitpunkt in den späten Neunzigern verweilte und Sonnenblumen an mein Loveparade-Kostüm nähte. Jedenfalls mussten Kinder plötzlich kleine Erwachsene sein, die ihre Grenzen selbst definieren durften und für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse eigenverantwortlich sein sollten. Wie soll denn so ein Kind sonst später wissen was es will, wenn ihm der eigene Wille im Kindesalter abtrainiert wird. Es soll bitte spielen, essen, trinken, pullern, vermeiden und überhaupt machen was es will. Wo genau da die Grenzen bezüglich des Alters und dem, was eine Gesellschaft aushalten kann, sind – darüber lässt sich sicher streiten.

Versteht mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen Fortschritt. Ich danke Gott für Pampers, bin froh dass weibliche Hysterie nicht mehr mit Stromschlägen oder gar Vibratoren behandelt wird und freue mich, dass bei Zahnschmerzen heute nicht mehr dieselben Methoden wie vor 200 Jahren angewandt werden. Ich halte es aber für falsch, alles was „alt“ ist sofort als „veraltet“ und damit als „falsch“ anzusehen. Logisch müssen wir kritisch bleiben, hinterfragen, uns weiterbilden und neue Erkenntnisse mit bestehenden Methoden abgleichen. 

Aber wir müssen uns auch revidieren können, spätestens dann, wenn die freie Entfaltung im Kindergarten in Gleichgültigkeit mündet und zur Folge hat, dass manche Schulanfänger noch nie mit Schere und Leimstift hantiert haben und Mütter mit der Kunstlehrerin diskutieren, weil es eben für den ansonsten perfekt gemalten Schneemann nur eine Zwei gibt wenn er grün und nicht weiß ist.

Entwicklungsforscher machen einen guten Job. Zweifelsohne. Ihre Arbeit ist wichtig. Aber das beste Rindfleisch nützt nichts, wenn der Hobbykoch es klopft wie ein Schnitzel.

Mamas, lest euren Kindern vor, lasst sie ohne Helm und Sicherungsseil aufs höchste Klettergerüst des Spielplatzes und vergesst ruhig mal das Hände waschen nach dem Rehe füttern aber bitte BITTE glaubt nicht länger, dass die Bereitschaft sich auch mal anzupassen und Regeln anzuerkennen oder die Fähigkeit sich auch mal unangenehmen Herausforderungen zu stellen etwas Schlechtes sind. Ihr erzieht sie sonst zu respektlosen und nicht belastbaren Jugendlichen, die den Satz des Pythagoras nicht kennen dafür aber die Nummer des Familienanwalts und die noch in der Ausbildung lieber krank feiern als bei Schneeregen mit dem Bus zur Berufsschule fahren, vor lauter Selbstverständlichkeit aber Homestories auf Snapchat posten.

Kürzlich schauten wir den dritten Teil von Fack ju Göhte im Kino – ein wenn auch stellenweise stark mit dem Stilmittel der Übertreibung garniertes Abbild unserer Bildungslandschaft. Warum hat sich das so entwickelt, fragt mich Sarah, ich meine wir waren auch manchmal kacke zu den Lehrern und hatten keinen Bock aber SO? 
Weil man vor ein paar Jahren glaubte, fähige Erwachsene zu produzieren indem man ihnen als Kindern suggerierte, dass ihre Individualität das kostbarste Gut ist. Das ist richtig und wichtig. Darüber sämtliche Grundkompetenzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu vernachlässigen oder gar als Schwäche zu betrachten, stellt sich spätestens jetzt als falsch heraus.

Kommen wir zum Abschluss nochmal zurück zum Pipi-Problem und die Debatte um den Umgang mit einem Grundbedürfnis, welche sinnbildlich für den kontroversen Wert schulischer Bildung und damit einher gehenden Regeln und Normen steht. Kinder verweichlichen, sie dürfen wann sie wollen alles was sie wollen und notfalls wird das mit richterlicher Gewalt durchgesetzt. 
„Meine Mama hat gesagt, du darfst mir das gar nicht verbieten.“ 
Bääääm. Danke Mama! Danke, dass sich unser pädagogisches Wirken so gut ergänzt. Danke, dass du mit deiner Rechtsbehelfsbelehrung dein Kind optimal auf die Schule vorbereitet hast. Danke.
Und Mäuschen, Prinz, Räuberchen oder Püppi: Hätte dir die Mama mal lieber gelernt, wie man sich Anforderungen stellt ohne zur Vermeidung aufs Klo zu flüchten, wie man Regeln und Standards des Zusammenlebens achtet und Bedürfnisse auch mal zumindest vorübergehend unterdrückt 
anstatt Misstrauen zu säen, gegenüber einer Person über deren beruflichen Erfolg auch ein Vertrauensverhältnis zwischen allen am Bildungsprozesse beteiligten entscheidet. 

Aber nein. Wir wünschen uns selbstbewusste Kinder, die wissen was sie wollen und ihre Ziele energisch verfolgen. Was wir bekommen sind Arschlöcher, die wahrscheinlich anderen schon mit 21 Jahren ihren Job erklären. Diese kleinen Arschlöcher wissen nicht, dass das Du hinter Frau Müller keinen Sinn macht aber sie wissen was ein Anwalt ist. Sie lernen nicht, dass es sich lohnen kann sich anzustrengen. Warum auch. Entweder macht‘s Mutti oder eben der Anwalt. 

Los geht's. 
Ich hab Lust mit euch zu diskutieren.
Wenn du Frau Müller 
dann heißt das nicht,
dass du mit dem Pipi machen 
bis zur Pause warten musst. 
Aaaber du verpasst nix mehr
im Lehrerzimmer.