Auch für diesen Artikel habe ich auf Recherche im engeren Sinne verzichtet. Es handelt sich um meine Erfahrungen, auf deren Grundlage ich mir getraut habe, eine Meinung zu bilden. Personen, denen diese Meinung nicht gefällt, dürfen mir dies gerne mitteilen oder vom x in der rechten oberen Bildschirmecke Gebrauch machen...
Ein
Zehnjähriger fragt den Lehrer wenige Minuten nach Unterrichtsbeginn, ob er zur
Toilette dürfe. Der Lehrer verbietet den Gang zum Klo, woraufhin der Junge
einpieschert. Von Lehrer, Klassenkameraden und Schulleiter wird das Kind gerügt
und sogar ausgelacht. Es folgt eine dreiwöchige Krankschreibung des Jungen
sowie eine Anzeige durch die Mutter gegen den Pädagogen. (So passiert kürzlich im Süden Deutschlands und von diversen Medien ausführlich besprochen)
Ohne Zweifel, in diesem
Fallbeispiel ist einiges schief gelaufen. Wir wissen nicht, ob der Junge
psychische oder organische Probleme hatte – ebenso wenig wissen wir das vom Klassenlehrer, den
Mitschülern, dem Schulleiter, dem Arzt oder gar der Mutter. In seinem Verlauf ein
unglücklicher Einzelfall, die Diskussion zum Problem jedoch ist ebenso uralt
wie haarsträubend und steht für mich sinnbildlich für den Ursprung unseres
Bildungsproblems.
Der Umstand, sowohl Lehrerin
als auch Mutter von schulpflichtigen Kindern zu sein, sorgt zwar für ein fast
unmenschliches hohes gefordertes Maß an Interaktionsfähigkeit mit anstrengenden
Eltern und nötigt mir die Anwesenheit auf viel zu vielen Elternabenden pro
Schuljahr ab, ermöglicht mir aber zugleich bei der Pipi-Diskussion einen
Standpunkt einzunehmen, der irgendwo zwischen
Schwarz und Weiß liegt - ganz im Gegensatz zum Standpunkt mit Nullradius vieler
Mütter und anderer Menschen mit viel Meinung aber wenig Ahnung.
Fakt ist, dass ein Lehrer,
der verantwortlich dafür ist, dass sich mein Kind in die Hose macht und es vor
allem dann noch vor der Klasse bloß stellt, auch von mir äußerst unangenehmen Mutterbesuch
bekommen würde. Das steht fest.
Fakt ist aber ebenso, dass
die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben und sich an Tagesstrukturen anzupassen,
eine Grundkompetenz bei Schulanfängern darstellt. Dass einige Erstklässler das
noch lernen müssen ist völlig klar.
Nicht jeder wird im späteren Leben Freiberufler. Es reicht schon Lehrer zu werden, um nicht täglich die
Chance zu haben zwischen 8 und 12 Uhr zur Toilette zu gehen oder gar etwas zu
essen. Von Kassierern, Fabrikarbeitern oder Berufskraftfahrern reden wir gar
nicht erst.
Vor einiger Zeit
unterrichtete ich probeweise eine Gruppe Vorschüler für ein paar Tage. Zum Unterricht,
einer Art Beobachtungs- und Diagnosephase, gehören auch standardisierte Testverfahren,
bei denen Instruktionen und Testbedingungen wichtig sind um Ergebnisse später
objektiv verwerten zu können. Mitten in einer Aufgabe beschließt einer der Sechsjährigen
plötzlich ganz dringend pullern zu müssen und weil Harndrang genauso ansteckend
wie Gähnen ist, müssen plötzlich fünf von sechs Kindern. Um die Aufgabe zu
beenden, hätte ich noch zwei oder drei Minuten gebraucht. Natürlich hab ich
alle sofortgehen lassen. Das Ganze hat mich gute zehn Minuten gekostet, inklusive
Öffnen und Schließen diverser Reißverschlüsse und Hosenknöpfe sowie der Suche
eines Verschollenen, der den Weg zurück vom Klo zum Klassenzimmer nicht fand.
Die Testergebnisse sind streng genommen nicht verwertbar. Aber das nimmt man
eben in Kauf um Pfützen und Anzeigen zu vermeiden. Die Kinder kamen direkt aus
dem Kindergarten, dort geht man wenn man möchte. Halloo, ich bin kein Unmensch… .
Vor kurzem übernahm ich die
Leitung einer ersten Klasse. Am ersten Tag meldet sich Ronny eine Viertelstunde
nach Beginn der zweiten Stunde: „Duuuu, kannisch ma bullrn gehn?“, noch bevor
ich antworten kann, ruft einer seiner Klassenkameraden „Ich aauuch!“ dazwischen
und zusätzlich schnellen zwei weitere Hände in die Höhe. Ich antworte mit
folgendem Vortrag: „Ihr seid jetzt in der Schule. Hier haben wir Pausen um zu
essen, zum trinken und auch um auf die Toilette zu gehen. Daran solltet ihr
denken. Versucht bitte auszuhalten so gut ihr könnt. Wenn es jemand gar nicht
mehr aushält, dann fragt noch einmal, bevor es in die Hose geht.“ Ronny hat an
diesem Tag nicht mehr gefragt. Und auch keiner seiner Mitschüler. In den Wochen
nach Schulbeginn hat er es noch drei oder vier Mal versucht und immer die
gleiche Antwort erhalten. Seine Hose ist trocken geblieben.
An dieser Stelle möchte ich, für alle denen das bisher entgangen ist, noch einmal erwähnen, dass ich an einer Förderschule arbeite. Ich lehne mich einfach mal so weit aus dem Fenster zu behaupten, dass man etwas, das bei den meisten Kindern mit oft umfassenden Entwicklungsstörungen und -verzögerungen funktioniert, doch eigentlich auch vom Durchschnittsgrundschüler erwarten kann.
In einer sechsten Klasse,
welche ich einige Jahre leitete, versuchte sich ein Junge regelmäßig durch
Toilettengänge vom Unterricht zu entziehen. Der Gute war und ist kein
unbeschriebenes Blatt, aktuell ist er vom Unterricht suspendiert und schon
damals eilte ihm sein Ruf voraus, unter anderem gerne unbeobachtet durchs
Schulhaus zu tingeln und allerhand Kreatives anzustellen. In der zweiten Hälfte
der Stunde fragte er, ob er zur Toilette dürfe. Natürlich durfte er nicht. Ich
verwies ihn auf das baldige Unterrichtsende. Kurz vor Schluss bemerkte ich seinen wirklich
gequälten Gesichtsausdruck und die wässrigen Augen. Um Schlimmeres zu vermeiden
entließ ich ihn in Richtung Porzellanausstellung.
Dennoch höre ich immer
wieder von Kollegen aus den kleineren Klassen, von größeren und kleineren
verunfallten Geschäften vor Erreichen der rettenden Räumlichkeiten. Zum Glück hörte ich bisher nur davon. Selbstverständlich weiß ich, dass auch ich früher
oder später an die Wechselsachen im Schrank ran muss.
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Manche Blogger haben nicht nur Meinung sondern auch Ahnung. Und "wenige manche" können zusätzlich noch so wunderschöne T-Shirts mit Aussage machen. Coffeepotdiary kann das. |
Zurück zur
Einstiegsgeschichte. In der Kommentarspalte zum Artikel ging eine 21 jährige
Kinderlose, die angab beruflich mit Paragraphen zu tun zu haben (Ich vermute,
sie ist Rechtsanwaltsgespielin …äh… gehilfin.) auf alle los, die sich auch nur
ansatzweise für die Lehrer und kritisch gegenüber der Reaktion der Mutter aussprachen. Paragraph
X… Nötigung …Paragraph Y … Körperverletzung und so weiter und so weiter. Hüa,
ihr Paragraphen, spürt ihr die Sporen!?
Eine Dame mit Wohnsitz
im Glücksbärchiland warf mir vor, Kinder zu hassen und den Beruf verfehlt zu
haben, nur weil ich behauptete, dass die Prinzen und Prinzessinnen nicht immer
nur wollen weil sie gerade müssen. Und wie abfällig ist überhaupt der Ausdruck
Prinzen und Prinzessinnen. Ja, wie abfällig ist das eigentlich? Fragt ihr
Übermamis und Babybloggerinnen mit den Bauchzwergen euch das auch manchmal?
Hasse ich Kinder? Hasse ich
Eltern? Hasse ich meinen Job? Hasse ich Menschen? Hm. Gute Frage. Ich hab das
sicher schon mal so oder so ähnlich irgendwo geschrieben. Wahrscheinlich auch
mehrfach. Auch wenn das die Kopfstimme oft aus vollster Überzeugung schreit,
weiß die Bruststimme instinktiv, dass ich meine Arbeit vermutlich nicht zur
tatsächlichen Zufriedenheit aller Beteiligten machen würde, wenn ich von
generalisiertem Hass angetrieben werden würde.
Es ist vielmehr eine Art
Kette. Eltern bringen mich dazu sie zu hassen, weil sie sich verhalten wie
überhebliche Arschlöcher, die mir meine Arbeit erklären wollen und glauben,
Paragraphen sind mehr wert als Entwicklungspsychologie, Konsequenz und
Einfühlungsvermögen. Nicht selten produzieren Arschlocheltern Mini-Arschlöcher,
die dem Lehrer mit der Erhabenheit eines 130cm großen Pablo Escobars gegenübertreten.
Richtig, das bringt mich dazu manchmal Kinder zu hassen. Und dann eben „ganz
manchmal“ auch meinen Job. Wer hat schon Lust auf einen Job, bei dem einen von
Anderen ständig gesagt wird, wie man ihn besser oder überhaupt richtig macht.
Überlegt noch jemand Lehrer zu werden? Nein? Warum denn bloß?
Als ich vor fast 30 Jahren
eingeschult wurde, wäre keiner auf die Idee gekommen mit dem Lehrer eine
Diskussion über Toilettengänge anzufangen. Beschissene Lehrer gab und gibt es –
damals wie heute. Die neue Klassenlehrerin meines Bruders zum Beispiel, die den
kleinen Kerl nach dem Umzug behandelte wie einen Aussätzigen – bis meine Mutter
ihr die Müllerin machte. Oder die erste Lehrerin des großen Müllers, die ihm erst eine LRS und dann auch noch ADHS andichten wollte - bis der Schulpsychologe ihm einen überdurchschnittlichen IQ diagnostizierte. Statt sich damit auseinanderzusetzen, empfahl sie den Müllers einen Schulwechsel...
Wir brachten früher am Lehrertag
Blumen mit zur Schule und ich möchte behaupten, dass aus den meisten von uns
fähige Erwachsene wurden, denen die herkömmliche Struktur eines Schultags nicht
geschadet hat. Keiner wäre auf die Idee gekommen, Lehrer unter den Generalverdacht
des Machtmissbrauchs und Sadismus zu stellen. Nein, damals genossen Lehrer sogar noch eine Art Respekt und
Ansehen. Nichts Übertriebenes. Nur das Gefühl, sich für seine Arbeit nicht
rechtfertigen oder gar schämen zu müssen.
Dann passierte etwas, dessen
Anfänge ich gar nicht genau beschreiben kann, weil ich zu diesem Zeitpunkt in
den späten Neunzigern verweilte und Sonnenblumen an mein Loveparade-Kostüm
nähte. Jedenfalls mussten Kinder plötzlich kleine Erwachsene sein, die ihre
Grenzen selbst definieren durften und für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse eigenverantwortlich
sein sollten. Wie soll denn so ein Kind sonst später wissen was es will, wenn
ihm der eigene Wille im Kindesalter abtrainiert wird. Es soll bitte spielen,
essen, trinken, pullern, vermeiden und überhaupt machen was es will. Wo genau da die
Grenzen bezüglich des Alters und dem, was eine Gesellschaft aushalten kann,
sind – darüber lässt sich sicher streiten.
Versteht mich nicht falsch.
Ich habe nichts gegen Fortschritt. Ich danke Gott für Pampers, bin froh dass
weibliche Hysterie nicht mehr mit Stromschlägen oder gar Vibratoren behandelt
wird und freue mich, dass bei Zahnschmerzen heute nicht mehr dieselben Methoden
wie vor 200 Jahren angewandt werden. Ich halte es aber für falsch, alles was „alt“
ist sofort als „veraltet“ und damit als „falsch“ anzusehen. Logisch müssen wir
kritisch bleiben, hinterfragen, uns weiterbilden und neue Erkenntnisse mit bestehenden Methoden
abgleichen.
Aber wir müssen uns auch revidieren können, spätestens dann, wenn
die freie Entfaltung im Kindergarten in Gleichgültigkeit mündet und zur Folge
hat, dass manche Schulanfänger noch nie mit Schere und Leimstift hantiert haben
und Mütter mit der Kunstlehrerin diskutieren, weil es eben für den ansonsten
perfekt gemalten Schneemann nur eine Zwei gibt wenn er grün und nicht weiß ist.
Entwicklungsforscher
machen einen guten Job. Zweifelsohne. Ihre Arbeit ist wichtig. Aber das beste
Rindfleisch nützt nichts, wenn der Hobbykoch es klopft wie ein Schnitzel.
Mamas, lest euren Kindern
vor, lasst sie ohne Helm und Sicherungsseil aufs höchste Klettergerüst des Spielplatzes und
vergesst ruhig mal das Hände waschen nach dem Rehe füttern aber bitte BITTE
glaubt nicht länger, dass die Bereitschaft sich auch mal anzupassen und Regeln
anzuerkennen oder die Fähigkeit sich auch mal unangenehmen Herausforderungen zu stellen etwas Schlechtes sind. Ihr erzieht sie sonst zu respektlosen
und nicht belastbaren Jugendlichen, die den Satz des Pythagoras nicht kennen dafür aber die
Nummer des Familienanwalts und die noch in der Ausbildung lieber krank feiern
als bei Schneeregen mit dem Bus zur Berufsschule fahren, vor lauter Selbstverständlichkeit
aber Homestories auf Snapchat posten.
Kürzlich schauten wir den
dritten Teil von Fack ju Göhte im Kino – ein wenn auch stellenweise stark mit
dem Stilmittel der Übertreibung garniertes Abbild unserer Bildungslandschaft.
Warum hat sich das so entwickelt, fragt mich Sarah, ich meine wir waren auch
manchmal kacke zu den Lehrern und hatten keinen Bock aber SO?
Weil man vor ein
paar Jahren glaubte, fähige Erwachsene zu produzieren indem man ihnen als Kindern
suggerierte, dass ihre Individualität das kostbarste Gut ist. Das ist richtig
und wichtig. Darüber sämtliche Grundkompetenzen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens zu vernachlässigen oder gar als Schwäche zu betrachten, stellt
sich spätestens jetzt als falsch heraus.
Kommen wir zum Abschluss
nochmal zurück zum Pipi-Problem und die Debatte um den Umgang mit einem
Grundbedürfnis, welche sinnbildlich für den kontroversen Wert schulischer Bildung und damit einher gehenden Regeln und Normen steht. Kinder verweichlichen, sie dürfen wann sie wollen alles was sie
wollen und notfalls wird das mit richterlicher Gewalt durchgesetzt.
„Meine Mama
hat gesagt, du darfst mir das gar nicht verbieten.“
Bääääm. Danke Mama! Danke,
dass sich unser pädagogisches Wirken so gut ergänzt. Danke, dass du mit deiner
Rechtsbehelfsbelehrung dein Kind optimal auf die Schule vorbereitet hast.
Danke.
Und Mäuschen, Prinz,
Räuberchen oder Püppi: Hätte dir die Mama mal lieber gelernt, wie man sich
Anforderungen stellt ohne zur Vermeidung aufs Klo zu flüchten, wie man Regeln
und Standards des Zusammenlebens achtet und Bedürfnisse auch mal zumindest
vorübergehend unterdrückt
anstatt Misstrauen zu säen, gegenüber einer Person
über deren beruflichen Erfolg auch ein Vertrauensverhältnis zwischen allen am Bildungsprozesse beteiligten entscheidet.
Aber
nein. Wir wünschen uns selbstbewusste Kinder, die wissen was sie wollen und
ihre Ziele energisch verfolgen. Was wir bekommen sind Arschlöcher, die
wahrscheinlich anderen schon mit 21 Jahren ihren Job erklären. Diese kleinen
Arschlöcher wissen nicht, dass das Du hinter Frau Müller keinen Sinn macht aber
sie wissen was ein Anwalt ist. Sie lernen nicht, dass es sich lohnen kann sich
anzustrengen. Warum auch. Entweder macht‘s Mutti oder eben der Anwalt.
Los geht's.
Ich hab Lust mit euch zu diskutieren.
Wenn du Frau Müller
dann heißt das nicht,
dass du mit dem Pipi machen
bis zur Pause warten musst.
Aaaber du verpasst nix mehr
im Lehrerzimmer.