Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 30. Mai 2018

Cast of Absurdistan 2.0: Ein Klassenporträt ODER Neue Äffchen braucht das Land


Nach dem Erfolg des Artikels „Cast of Absurdistan – Alle meine Äffchen“, welchen ich vor etwa einem Jahr veröffentlichte, möchte ich es nicht versäumen, dem interessierten Leser im Hinblick auf das bevorstehende Ende dieses Schuljahres den diesjährigen Cast of Absurdistan, also 2.0 mit dem Titel „Neue Äffchen braucht das Land“ vorzustellen. Wie auch im letzten Klassenporträt war ich aus Gründen des Datenschutzes bemüht, zu den Originalnamen der Kinder ein zumindest für mich und mein Empfinden passendes Äquivalent zu finden. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen sind daher rein zufällig.


Nicht nur die in Kürze zu schreibenden Zeugniseinschätzungen und damit wieder die schier unlösbare Aufgabe, die unangenehme Wahrheit in möglichst wertschätzende und ermutigende Worte zu verpacken und dennoch den Eltern, die bei der Aufgabe, ihren Kindern zumindest einen Teil ihrer Intelligenz zu vererben nicht gerade auf eine reiche Mitgift zugreifen konnten, einen Wink mit dem Zaun zu verpassen. Jedes Jahr erneut papiergewordener Iron Man.

Nein, zwar stimmte mich die erzwungene Übernahme der ersten Klasse, über die ich im Artikel „Lieber ein Kevin in der Hand als die Charlotte auf dem Dach“ bereits ausführlich berichtete, nicht gerade freudvoll. Aber wie ich das zum Beispiel auch vom Yoga kenne, bei dem ich Asanas, die ich nicht kann und die mir weh tun zunächst hasse und mit nachlassendem Schmerz immer besser meistere, habe ich mich mittlerweile so gut an die kleinen Rotznasen gewöhnt, dass mir die erneut bevorstehende Trennung von einigen Pflänzchen meines intellektuellen Mischwaldes, doch etwas zu schaffen macht. Nicht zuletzt, weil ich die Art der Veränderung pädagogisch so gar nicht vertreten kann, eine Änderung der Gesetzeslage und die Chefetage mir diesen Schritt jedoch abnötigte. Einige gehen, einige bleiben und einige kommen.

All die jenigen, die mir heute und in den verbleibenden Wochen dieses Schuljahres den Arbeitstag mit ihrer herzerwärmenden Anwesenheit und ihrem zuckersüßen kindlich-unverdorbenen Wesen verzaubern, sollen heute gewürdigt werden.

Beginnen wir mit Fabian, dem regelmäßigen Leser womöglich bereits als Rotzbläschenvulkan bekannt. Fabian klingt an vier von fünf Schultagen beim Atmen wie ein Poolfilter mit Herbstlaubfüllung. Und als könnte ich mir aus dieser Geräuschkulisse die frohe Kunde nicht selbst entnehmen, begrüßt er mich an solchen Tagen meist mit den rhinophonen Worten: „Frau Müllaaa, ich bin bissl krank.“ Aha. Fabian ist für mindestens dreiviertel meiner Kranktage in diesem Jahr verantwortlich, denn er ist es auch, der dank feinmotorischer Fähigkeiten eines 93jährigen Parkinsonpatienten mit zwei linken Händen an denen sich jeweils fünf Daumen befinden, ständig meine Hilfe beim Schreiben benötigt. Und wisst ihr womit sich Kind die krustige Schnupfennase abwischt, wenn gerade kein Taschentuch in der Nähe ist und die Zunge zu kurz zum popeln ist? Richtig, mit dem Handrücken. An dem klebt Frau Müller dann fest, wenn sie spontan zur Schreibhand greift bevor Fabian Gelegenheit hatte, seine kostbare Körperflüssigkeit abzulecken. Ach ja, ich wollte ressourcenorientiert schreiben. Also zu Beginn des Schuljahres beschäftigte sich Fabian häufig sehr vertieft damit, die kleinen Fädchen zwischen seinen Fingern zu beobachten, wenn er sie mit einem ordentlichen Spuckeklecks dazwischen auseinander streckte. Vermutlich hat er seine Studien dazu inzwischen abgeschlossen. Auch riesige Spuckepfützen auf seinen Arbeitsblättern, die er so lange versuchte trocken zu reiben bis das Papier ein Loch hatte, habe ich lange nicht mehr beobachten können. Außerdem ist Fabian sowas wie das Klassenbrain. Immer dann, wenn ich eine Frage stelle, die ernsthaftes Nachdenken erfordert (kommt hin und wieder vor), haut Fabian so ordentlich einen raus, dass es sich mein Hirn kurz vor der Selbstzerstörung durch Verzweiflung noch einmal anders überlegt.

Dann ist da Finn. Finn ist ebenso temperamentvoll wie charmant. So charmant und temperamentvoll, dass ihm die Betreuung durch mich allein nicht ausreicht. Und er ist der Schildkrötenjunge. Erinnert ihr euch noch an unseren ersten Wandertag, bei dem die kleinen Hobbybiologen glaubten, im Mittelgebirgswald eine Schildkröte entdeckt zu haben? Auf Facebook berichtete ich davon. Finn schert sich nicht viel um Individualdistanzen, auch nicht um die von Waldbewohnern. Nur mit Mühe gelang es mir die müllersche Lehrerinnencontenance zu bewahren, als mir die (Schild)kröte zwischen Finns Händen ihre hilflos hervorquellenden Augen entgegenstreckte und zu sagen schien: „Frau Müller, hättest du nicht einfach in den Zoo gehen können?“. 

Finns Stoffwechsel ist überaus aktiv – so aktiv, dass ihm der Inhalt seiner eigene Brotdose nur selten über den vierstündigen Vormittag bringt und er sich daher schon häufig als Taschen- äh.. Dosendieb ein Zubrot ergatterte. Scheinbar gibt es in jeder Klasse einen unglaublichen Hulk, in meiner letzten Klasse war es Justin, der mir den Abtransport im Streifenwagen einbrachte, in dieser ist es Finn. Wenn der sich verwandelt, kann man den Rest der Klasse und sich selbst nur noch in Sicherheit bringen oder läuft Gefahr, von umher fliegenden Stühlen und Tischkanten, mit dem Potential Zehen zu zermalmen, erwischt zu werden. Außerdem benötigen Außenstehende, wie zum Beispiel die Schulzahnärztin meine Dolmetscherdienste, da Finn eine Sprache spricht, die vermutlich eine Mischung aus Klingonisch und Suaheli ist. Wenn man sich ein wenig einhört, geht’s aber. Finns Stärke ist seine Fähigkeit, Arbeitsaufträge quasi nebenbei sowohl zu erfassen als auch zu erledigen. Während man als Beobachter durch seine merkwürdige Angewohnheit abgelenkt wird, auf Dingen herum zu kauen, die nicht dafür gedacht sind oder aber all seine Schreibgeräte in ihre ursprünglichen Bestandteile zu zerlegen, sind am Ende der Stunde dennoch alle Aufgaben erledigt.

Shanaia und Shakira sind eineiige Zwillinge. Und weil sie nicht nur gleich aussehen (ich kann sie bis heute nicht auseinanderhalten) sondern auch gleich liebenswert sind, erwähne ich sie gemeinsam. Kennt ihr Dideldumm und Dideldei aus Alice im Wunderland? Shanaia und Shakira sind zwar weder übergewichtig noch glatzköpfig aber wallendes rotes Haupthaar und ein ziegenähnliches Wesen sorgen für genauso viel Liebreiz. Der Look ist Programm. Und mehr gibt es über diese Beiden auch nicht zu sagen.


Sophie ist meine persönliche Stalkerin. Zu jedem Pausenklingeln steht sie pünktlich neben meinem Tisch, streichelt meinen Arm oder krault mir ungeachtet meiner Abneigung gegenüber nicht notwendigen Berührungen durch ungewaschene Kinderhände, den Rücken und säuselt mir dabei feengleich „Meine Frau Müller“ ins Ohr. Mit dem richtigen Filter und passender Musik könnte das durchaus der Opener einer Folge Tatort sein. Keine Ahnung ob Sophie Synästhesie begabt ist oder einfach nicht lesen kann, jedenfalls schaut sie mir beim Lesen permanent ins Gesicht. Und ich dachte immer, man liest aus Händen. Wenn etwas in meinem Gesicht stünde, dann sicher nicht „Momo und Papa TUN malen“ sondern so etwas wie „Herr, reiß die Erde auf!“ oder „Steinmetz ist sicher auch ein total interessanter Beruf“.

Ein ganz putziger Bub ist auch Ronny. Nicht. Wenn Ronny mich mit hängender Unterlippe und einer Zunge, die scheinbar so groß ist, dass sie nicht ganz in den Mund passt, anschaut und in jeder Pause aufs Neue fragt „Kannisch ma pullrn gehen?“ und dabei ebenso regelmäßig die Antwort „Du weißt, dass du in der Pause gehen darfst. Du brauchst nicht zu fragen“ bekommt, dann springt mein Herz vor Glück fast aus der Pädagogenbrust. Wenn wir eine Stunde lang darüber sprechen, dass jeder Mensch an jeder Hand fünf Finger hat (abgesehen von der Einfachheit halber unerwähnten Ausnahmen), kann ich mir sicher sein, dass Ronny am nächsten Tag jeden einzelnen seiner Finger zählt, wenn ich ihn nach der Anzahl seiner Finger frage. Egal ob man Ronny lobt, ermuntert oder auf Streichholzschachtelgröße zusammenfaltet, Ronnys Reaktion gleicht stets der eines Findlings in der mecklenburgischen Grundmoräne an einem Dienstagabend bei einem aufkommenden Sommergewitter. Ein Klassiker: „Ronny, schau mal. Ich habe zwei Bonbons. Eins ist hier in der offenen Hand. Wie viele Bonbons sind denn jetzt in der geschlossenen?“. Ronny mit dem Zauberblick: „Fünf?“

Tim hat einen echten Weg hinter sich. Nachdem er nämlich im ersten Halbjahr jede seiner Handlungen mit der nachdrücklichen Forderung „Ich brauch mal Hilfeee!“ anging, beginnt er mittlerweile selbstständig mit der Arbeit und fragt mich nach zwei Minuten „Meinst du so?“. Tim ist ein wirklich WIRKLICH liebenswertes Kerlchen, auch wenn ich mich in Förderstunden mit ihm manchmal fühle, als würde ich versuchen einem Hund oder einer Katze das Lesen zu lernen. Du wünschst dir nichts mehr, als das er es endlich schafft Mi, Ma oder Mo zu lesen und ein L von einem P zu unterscheiden, wirst aber statt mit einem Lernerfolg, mit einem ebenso verständnislosen wie niedlichen Hundeblick belohnt. Immerhin.

Carsten sagt nicht viel aber wenn er etwas sagt, dann bringt er es auf den Punkt. Mit der Stimme von Feivel dem Mauswanderer, bittet er mich „meinen Hintern einzuziehen“ damit er zum Abwischen an die Tafel kommt. Und nach einem Klassenanschiss, der sich zumindest in meinen Augen gewaschen hat und mit „Das ist NICHT lustig“ endet, schiebt er das schweinsteigersche „Aber funny“ nach. So pointiert wie Carsten sein kann, wenn er sich sicher fühlt, so stumm ist er, wenn er etwas verbockt hat. Da für quatscht Carstens Mutter jeden Elternabend in die ewigen Jagdgründe und sorgt mit ihrem Auftritt sogar bei den hartgesottensten Anwesenden für ein Übermaß an Fremdscham. 

Ich erwähnte es bereits: Justins sind das Salz in der Suppe des Klasseneintopfs und so darf er auch in Klasse 1 nicht fehlen. Justin erinnert mich optisch an Caillou aus der gleichnamigen Kinderserie, vor allem dann, wenn Justins Papa mal wieder die Haarschneidemaschine geschwungen und den Familienfriseur gespielt hat. Das nennen wir es nicht ganz schlüssige Verhältnis von Kopfgröße zum Körperbau ist bei beiden Jungen gleich. Justin ist das Lämpchen mit der niedrigsten Wattzahl. Und wenn er mich nicht gerade durch das fortwährend geräuschvolle laterale Einsaugen seines Speichels an den Rande des Wahnsinns treibt, dann spätestens wenn er voller Überzeugung versucht, den letzten verbleibenden Stein aus der vierten Etage des bereits gefährlich schwankenden Jengaturms zu ziehen. Mit Justin Logikaufgaben lösen fühlt sich an, als würde man versuchen, ein Domino in einem Trampolin aufzubauen, während eine ganze Kindergartengruppe darin springt. Unser gemeinsamer Start gestaltete sich etwas schwierig, nachdem er mir täglich mit grimmiger Miene beteuerte, dass er morgen nicht mehr kommt und seiner Mama sagt, dass ich gar nicht lieb sei. Nichts von allem geschah, aber die Bäche seiner Trotztränen versiegten immerhin.

Irgendwie hab ich sie trotzdem alle gern und das Hühnerfrikassee der Seniormüllerin ist kein Hühnerfrikassee, wenn kein Mais dran ist. Ihr wisst was ich meine. Wie oben bereits erwähnt, werden mich einige der kleinen Schwachstrompersönlichkeiten verlassen, dafür werden mir aber auch einige neue Passagiere in den Bus der Erkenntnis gesetzt. So widerwillig ich zu Beginn des Schuljahres war, nachdem man mir meine großen Äffchen weggenommen hatte, so wehmütig bin ich heute. Was mir Mut macht, ist der Gedanke an Tiefkühlfrikassee, das zwar nicht schmeckt wie von Muttern aber auch lecker ist. Ganz ohne Mais.

Das hat wesentlich mehr Spaß gemacht,

als echte Zeugnisse zu schreiben.

Spaß macht mir auch,

euch via FACEBOOK über Absurdistan

und Neues aus der Müllermansion

zu informieren. Also HIER reinschauen


Mittwoch, 23. Mai 2018

Ballermann im Krankenhaus: Zweiklassengesellschaft zwischen Speichelersatzspray und Minibar



Ich war in den letzten Monaten unfreiwillig Tester einiger Leistungen unserers Gesundheitssystems. Nachdem ich im letzten Post vor dem Hintergrund der idyllischen Schwarzwaldklinik meine persönliche Krankenhaus-Historie dargelegt habe, geht es heute mit den jüngsten Ereignissen weiter. 
 
In einem Zustand irgendwo zwischen wach und Tiefschlaf fühle ich das Aufeinanderschlagen meiner Zahnreihen und höllische Schmerzen. Irgendwer zerrt an mir herum. „Frieren sie?“ fragt jemand aus der Ferne. Ich murmle etwas, dass die Frage bejahen soll und kurze Zeit später wird es warm und mein Körper hört auf zu zittern. 
„Hier ist die Klingel. Drücken sie wenn was ist!“ sagt die Stimme jetzt schon etwas näher und jemand schiebt mir das Kästchen mit dem Knopf unter die Hand. In den nächsten Stunden kehrt das Bewusstsein zurück während sich der Vorgang Drücken – Warten – Haben sie Schmerzen? – Hm! – Spritze – Entspannung einige Male wiederholt. Mittlerweile habe ich das Gefühl unter dieser Decke mit Warmluftgebläse zu schmelzen. Also wieder drücken.

Allmählich werde ich wacher. Mein Mund fühlt sich an wie brandenburgischer Waldboden im Hochsommer. Ein Drücker auf die Klingel. Nein, diesmal nicht Aua. Jetzt Durst. „Aber sie dürfen nichts trinken. Der Arzt hat nichts darüber ins OP-Protokoll geschrieben.“ Sie kommt wieder mit einer kleinen Sprühflasche. Angesichts meines immer noch leicht vernebelten Geistes wäre „Bitte mal den Mund aufmachen“ als Aufforderung, verbunden mit Abwarten für einen Sekundenbruchteil, angemessen gewesen. Stattdessen sprüht sie mir eine Flüssigkeit mitten ins Gesicht, die geschmacklich stark an das erinnert, was man nach dem Zähneputzen ins Waschbecken spuckt. Danke dafür.

Auf dem Überwachungsmonitor kann ich neben meinen Vitalfunktionen die Uhrzeit ablesen, es ist gleich fünf Uhr morgens. „Schwester! Schwester! Schweeeeester! Ich muss mal!“ ruft die Stimme eines offenbar männlichen Erwachsenen über den Gang. Die Tür ist nur angelehnt. An den Hilferuf schließt sich minutenlanges Stöhnen und Jammern an. Nach zehn Minuten ist Ruhe. Das ganze Hörspiel findet im Anschluss etwa stündlich statt, immer pünktlich dann wenn ich mich an der Schwelle vom Dusel zum Schlaf befinde.

Gegen sieben schreitet ein Arzt herein. Außer seinen Namen und seine Funktion hat er mir nichts zu sagen, dafür fällt das Schließen von Türen anscheinend nicht in seinen Aufgabenbereich. Ich überlege, angesichts des stattlichen Luftzugs zwischen Tür und offenem Fenster, wie der kleine Häwelmann angetrieben vom Laken als Segel, in meinem Bett auf den Flur hinauszurollen.

Eine weitere Stunde später stürmen sechs Ärzte zwischen 30 und 60 Jahren mein Zimmer und glotzen mir auf meinen nackten Unterleib. Trotz der Verbände ist mein Tattoo auf dem Schambein, eine subtile aber dennoch eindeutige Aufforderung zu Handlungen erotischer Natur in verspielten Lettern, deutlich zu sehen und bleibt nicht unkommentiert. Sehr fein, lacht ruhig. Ich sprühe ohnehin gerade vor Sexappeal. Nachdem ich die Schwester darauf hingewiesen habe, dass ich zuletzt vor 12 Stunden etwas getrunken hatte, dafür aber schwitze wie ein Teilnehmer des Iron Man und offenbar auch keine Infusion an irgendeinem der Kabel und Schläuche an meinem Körper baumelt, erbittet sie von der Männerrunde die Erlaubnis mir etwas zu trinken zu geben. Bitte, sie soll trinken. Danke, das war mir euer dummer Spruch wert.

Allmählich geht mir die Geschäftigkeit auf dieser Überwachungsstation auf den Keks. Ich sehne mich nach einem Kämmerchen, in dem ich in Ruhe mit meinem Schmerz kommunizieren kann ohne dass Türen fliegen, jemand um Hilfe schreit oder Alarmtöne erklingen. Drei Stunden später werde ich auf die Pflegestation verlegt. Ruhe sollte ich dort nicht finden. Dafür fand ich Berta.

Was war zuvor geschehen? Ich bin kein großer Fan von Ärzten und Krankenhäusern. Ein Arztbesuch verlangt mir in der Regel mehr Motivation ab als ein 10.000-Teile-Puzzle einer Allgäuer Bergwiese. Wenn es mir also nicht richtig richtig schlecht geht, therapiere ich mich bevorzugt selbst mit einem Medikamentencocktail aus Ignoranz, Globuli und Paracetamol. So richtig richtig schlecht ging es mir eigentlich auch nicht, aber irgendein Gefühl und Herr Müller sagten mir, es sei wohl doch besser zum Freitagabend die Notaufnahme aufzusuchen. 
„Nein, beim Hausarzt war ich nicht, der macht nämlich Freitagmittag Feierabend. War ja nich so schlimm, bis jetzt. Jetzt hab ich aber Fieber und komische Schmerzen!“ – „Na dann setzen se sich ma!“. Das tat ich und so saßen wir die nächsten anderthalb Stunden.

„Soll ich ihren Mann jetzt holen?“ fragte mich die Schwester nach den Eingangsuntersuchungen. Ich bejahte und sie rauschte ab. Den Kerl, der zwanzig Sekunden später in der Türe stand, hatte ich noch nie gesehen. „Das ist der falsche Mann!“ sagte ich und sie dampfte wieder ab. Kurz nach Herrn Müller, der im zweiten Anlauf seiner Frau richtig zugeordnet wurde, rollte ein Arzt samt Ultraschallgerät herein. In den nächsten zwei Stunden kamen noch weitere zwei Ärzte aus anderen Fachbereichen plus deren Ultraschallgeräte dazu. Ergebnis des Konsiliums: wir wissen, dass wir nichts wissen aber wir müssten da mal reingucken. Arzt Nummer vier – seines Zeichens Anästhesist – stieß hinzu und dann ging alles ganz schnell. 
Übrigens sollten wir Deutschen uns mal ernsthaft Gedanken über unsere Sprache machen, wenn einem Nicht-Muttersprachler das Wort „kotzen“ geläufiger ist als „übergeben“ oder „erbrechen“. Das nur so am Rande.

Man machte also Nägel mit Köpfen oder besser gesagt Patienten mit Narkosen. Nach der letzten Narkose bei einer ambulanten OP (die zwischen dieser und der in der Schwarzwaldklinik) hatte ich die Sache eigentlich in guter Erinnerung. Nach einer Leck-mich-am-Arsch-Pille gepflegt auf den OP-Tisch schweben, ein lallendes Schwätzchen mit dem Team und im Aufwachraum ein Eis für den eben noch intubierten Hals kann man schon ertragen. Diesmal musste aber alles recht flott gehen. Not-OPs auf nicht nüchternen Magen sind ziemlich unentspannt. Es folgte ein Filmriss bis zum Nahtod durch Erfrieren auf der Aufwachstation.

Zurück zu Berta. Man brachte mich also nach diesem intensivmedizinischen Horror in ein Dreibettzimmer. Ich hatte mir, wie bereits erwähnt, etwas Ruhiges ruhigeres erwartet. Stellt euch vor ihr verlasst den Ballermann und geht, um runterzukommen, in den Megapark. Und Berta ist Jürgen Drews. Guter Vergleich. Kurz: vom Vorzimmer der Hölle direkt in die Hölle. 
Nachdem ich mit meinem Bett über jede Schwelle des Krankenhauses gerattert war, öffnete sich eine Tür und dahinter hörte ich eine Stimme, die überaus kleidsam für eine Barkeeperin der ältesten Kneipe St.Paulis hätte sein können. Berta hatte morgens gegen elf Besuch von ihrem Mann und es gab jede Menge Verwandte und Bekannte durch den Kakao zu ziehen.

Hier werden Patienten schneller kalt als ihre Betten...

Wenn man jahrelang neben einem Flughafen wohnt, hört man die Triebwerke der startenden Maschinen irgendwann nicht mehr. Sobald es allerdings Änderungen in der Geräuschkulisse gibt, horcht man auf und der Prozess der Habituation startet neu. Bertas Mann gab sich mit der Putzfrau nämlich die Klinke in die Hand. Zum Inhalt der nun folgenden Konversation kann ich nicht viel sagen, Gesprächsatmosphäre und Lautstärke erinnerten an ein Vorstandstreffen der Hells Angels-Leadership.

Diese Dame im fortgeschrittenen Alter war aber nicht nur im Dialog nervig. Selbst im Monolog erweckte sie fortwährend meine negative Aufmerksamkeit. Wie ein Perpetuum Mobile für Klänge produzierte sie fortwährend Schallwellen indem sie schmatzte, laut seufzte, nach dem Essen fünfzehn bis zwanzig Mal aufstieß oder jede ihrer Handlungen kommentierte. Mit meinem Schlafplatz direkt neben der Wand zum Bad durfte ich quasi, ähnlich wie bei diesen Blinden-Kommentaren im Fernsehen, bei ihrer Körperkultur morgens und abends live dabei sein. Verschlafen konnte ich ihren Gang zum Bad keinesfalls, da sie das Ende meines Bettes konsequent als Stütze für ihre wackligen Gehversuche nutzte und mich dabei jedes Mal durchschüttelte.

Die Frau in dem Bett zwischen Blubber-Berta und mir war Philanthropin aus Überzeugung und schaffte es ein Ying zu meinem Yang zu erzeugen. Zumindest bis die Nervensäge am zweiten Abend explosionsartigen Durchfall bekam. Berta schaffte es nicht rechtzeitig bis zum Klo und hinterließ eine Spur, die es sogar dem Förderschul-TKKG leicht gemacht hätte, sie in ihrem gefliesten Versteck zu orten. Ihr war das natürlich unangenehm und sie versuchte nach Kräften das Malheur mit Klopapier zu beseitigen. Sauber genug für die einzige Schwester der Schicht, nicht sauber genug jedoch für die zwei frisch am Verdauungstrakt operierten Zimmergenossinnen, mich eingeschlossen. 
„Ich kann ja wohl jetzt keine Endreinigung machen. Das sieht doch sauber aus. Desinfizieren sie sich die Hände wenn sie im Bad waren. Und hier. Ich stelle noch eine Packung Desinfektionstücher hin.“ Aha. Das ist also der Umgang mit möglichen Magen-Darm-Viren und Krankenhauskeimen in einem Klinikum mit über 600 Betten und deutschlandweiten Filialen

Herrn Müller hatte das gereicht um seiner Frau gleich am nächsten Tag ein Zimmer auf der Wahlleistungsstation zu buchen. Es erwartete mich neben einer Minibar, einem Blumenarrangement auf dem Nachttisch, einem Bademantel und der Tageszeitung eine Mitbewohnerin, die zwar genauso alt wie Berta war, allerdings stumm zu sein schien und sich das Bewegungsmuster mit einem Chamäleon teilte. Herrlich, das war fast wie alleine sein. Über die Schreie der Patienten auf den psychiatrischen Stationen unter uns, die sich ins idyllische Vogelgezwitscher vor dem Fenster mischten, sehe ich da gerne hinweg. Alles war besser als Berta und ihre Kamikaze-Diarrhoe.

Kurze Gegenüberstellung „Feldlazarett versus ärztlich begleiteter AIl Inklusive-Urlaub“:

Kassenfinanziert

  • -      ein TV-Gerät für drei Patienten. Es herrscht das Recht des Ältesten.
  • -      „Salat? Gibt’s nur Mittwochs. Eier nur Sonntags. Ich könnte ihnen eine Gewürzgurke anbieten.“
  • -      Klingeln bei Durst, Schwester erscheint nach 15 Minuten und verspricht gleich etwas zu bringen. Sie wurde nie wieder gesehen.
  • -      Nachtschwester: welche Nachtschwester?
  • -      Blutergüsse von Thrombosespritzen, die auch zwei Wochen später  noch schmerzen
  • -      Verbandswechsel auf Nachfrage oder alle drei Tage

Privatzahler

  • -      SKY oder auf Wunsch DVDs, mit im Programm: „Stirb langsam“ und „Stirb an einem anderen Tag“, Nicht mit auf der Liste "Sudden Death" oder "Haus der stummen Schreie"
  • -      „Was wünschen sie als Beilage zum großen Salatteller? Putenbrust? Feta? Thunfisch?“ – beim Servieren: „Ach, mir ist heute doch nicht nach Salat.“ – „Kein Problem. Möchten sie vielleicht eine Suppe? Tomate? Spargel? Kartoffel?“
  • -      Minibar und Wasser in Glasflaschen auf dem Servicewägelchen zweimal am Tag, nicht zu vergessen das Kuchenwägelchen am Nachmittag
  • -      Nachtschwestern vorhanden und mit Special-Skills im Bereich „Türen leise schließen“ ausgestattet
  • -      Wettbewerbsorientiertes Spritzensetzen mit dem Ziel möglichst keine dauerhaften Spuren zu hinterlassen.
  • -      Verbandswechsel täglich, Arzt binnen dreißig Minuten, Blutwerte in einer Stunde, Entlassungspapiere nach etwa 10 Minuten druckerwarm

Der spitzfindige Bildbetrachter könnte meinen, der Kassenpatient isst, was dem Selbstzahler nicht anstand. Tatsächlich waren die Karotten aber erst würfelförmig und DANACH rund. Wir müssen die Kirche im Dorf lassen.
  
Was soll ich sagen. Egal ob Tapetenkleister mit Blumenkohlaroma zu Mittag oder langsam gedünsteter Lachs im Nudelbett. Krank sein ist kacke. Punkt. Ich scheiß auf Pay-TV und Gerbera auf dem Nachttisch. Ich bin nicht verwöhnt. Zumindest nicht in jeder Hinsicht. Selbstversorgerurlaub oder Camping? Warum nicht. Was ist also die Hard- und Software eines Genesungsprozesses? Aus meiner Sicht: Hygiene und ein Minimum an Menschlichkeit. Schwestern, die eine ganze Station alleine stemmen müssen und dadurch so überarbeitet sind, dass Patienten für sie zu Anonymen werden sind der falsche Weg. Während die Schwarzwaldkliniken dieser Welt geschlossen werden, wachsen die Franchise-Krankenhäuser und Versorgungszentren sowie deren Bettenzahlen ins Unermessliche. Möglichst viele Patienten so wirtschaftlich wie möglich abgefertigt.

Halt. Ich wollte eigentlich gar nicht politisch werden. Nachdem in den letzten acht Monaten insgesamt dreimal in meinem Inneren herumgedoktert wurde, reicht es jetzt langsam. Ich habe für euch eine kassenfinanzierte Methode getestet, bei der man Gewicht reduziert indem man sich nicht lebenswichtige Organe oder Teile davon entfernen lässt. War scheiße, hat nicht funktioniert mit der Körperoptimierung, zumal nach solch einer Aktion Bauchmuskeltraining für mindestens acht Wochen Tabu ist. Also macht mir solche Aktionen eher nicht nach. Und wenn, dann seht zu, dass ihr ein Bett in der Schwarzwaldklinik erwischt.

Und noch etwas: alle Indikationen, die diesen ganzen Schnippelkram notwendig machten, waren pillepalle im Vergleich zu dem, was so viele andere Konsumenten von Leistungen unseres Gesundheitssystems binnen zum Teil wochen- oder monatelanger Krankenhausaufenthalte ertragen müssen. Oft mit gelinde gesagt beschissenen Diagnosen. Ich zieh den Hut vor euch.

Und nun Schluss. Es soll nicht der Eindruck von Wartezimmer-Smalltalk entstehen. Nächste Woche schreibe ich mal wieder was Schlüpfriges, denke ich.

Bonusheftchen und IGEL-Leistungen gibt es bei mir nicht.
Wohl aber eine Facebook-Präsenz, die als Vorsorge dafür, nichts zu verpassen zwar hoch wirksam ist, allerdings von den Krankenkassen 

Mittwoch, 16. Mai 2018

Spielzeug für Erwachsene, ein hungriger Abend und anders lieben


Ein Artikel, für alle die sich bei all der Theorie fragen, wie man eine Quattroehe ganz praktisch lebt.

„Ich haaaabe was zu berichten!“ platzt es aus Sandra heraus, meiner Fachfrau für Kunststoffnägel, mit denen man auch mehrere Kubikmeter kantigen Kies in neu angelegten Gartenteichen verteilen kann, die man sich aber beim Yoga versehentlich auch mal im Nagelbett bis aufs Blut umkrempelt und dann nur dank meditativ begünstigter Schmerzresistenz nicht alle Mit-Yogis aus dem Shavasana zurück holt. Sandra hat einen Pathos in der Stimme, als hätte sie die letzten drei Nächte mit allen Chippendales auf einmal verbracht. Dabei macht sie mit Armen und Händen eine Geste, vermutlich zum Druckausgleich um nicht zu platzen.

Sandra kenne ich schon lange und Sandra kannte die Quattroehe schon, als Facebook sie noch nicht kannte. Wenn ich spüre, dass Menschen mit der Wahrheit gut zurechtkommen, dann mache ich auch kein Geheimnis aus unserem Lebensstil. Wer Fragen hat, der möge fragen, dann bekommt er auch eine Antwort. Sandra modellierte meine Nägel schon, als die Müllers noch monogam unterwegs waren und als Airbrush-Design noch angesagt war. Um genau zu sein, löste sie den netten Vietnamesen ab, der mir seine undefinierbaren Pinseleien immer mit den Worten „iiist Kuunst“ und diesem charmanten asiatischen Lachen schmackhaft zu machen versuchte. 

Mit Sandra habe ich French Nails, oder wie sie es nennt „Porno-Nägel“, genauso gemeinsam verbal beerdigt wie die Vorgänger von Sarah und Marco. Sandra lebt in ihrer Ehe sicherlich aufgeschlossener als der deutsche Durchschnitt, hat Shades of Grey gelesen aber kritisch analysiert, könnte sich allerdings niemals vorstellen, ihren Mann wenn auch nur kurz, eineranderen Frau zu überlassen.

„Ich habe ein neues Spielzeug, du weißt schon, dieses Teil, das du mal bei Facebook gewinnen wolltest, weil es leogemustert war“, strahlt sie mich an. Ich muss kurz überlegen. Sie hilft mir auf die Sprünge. 
„Ach daaaas! Ich erinnere mich. Ist schon ein Stückchen her. Das hat uns die Dildofee damals vorgestellt. Wir durften nur an der Nasenspitze probieren. Sie hat gemeint, wer das Ding hat, braucht eigentlich keinen Mann mehr. Mir war das Ding schlicht zu teuer.“ 
„Jaaa“, sagt sie, „die günstige Version war jetzt im Angebot, da hab ich zugeschlagen. Also, ich muss sagen... ich wusste nicht wohin mit mir - ich bin unter einer Minute gekommen.“ Dabei rutscht sie aufgeregt auf ihrem Stuhl herum und unterbricht sogar das Feilen.

Wir diskutieren noch ein Weilchen über Sinn und Unsinn von Sexspielzeug. Ich persönlich bin kein all zu großer Fan. Mir ist das Zeug meistens in Nachtschränkchentemperatur einfach zu kalt und mir fehlt das Gewicht eines Mannes, der auf mir liegt. Bei allen Höhepunkten, die ich mir dank Technik und medizinischem Silikon verschaffen konnte, während Herr Müller vor ein paar Jahren einige Wochen beruflich im Ausland verweilte, fehlte mir stets das Gefühl, postorgasmisch gegen circa 80 Kilo anatmen zu müssen. Wenn Zementsäcke nicht so staubig wären, hätte ich in dieser Zeit möglicherweise den einen oder anderen Baumarkt von innen gesehen.

Weil die Müllerin eben aber auch nur eine Frau ist, verfehlt Werbung aus vertrauenswürdigen Quellen in Verbindung mit einem unschlagbaren Sonderangebot ihre Wirkung nicht. Dank des Hermesboten (Zeus hab ihn selig) rappelte es drei Tage später bei Müllers im Karton in neutraler Verpackung.
„Ich hab ein neues Spielzeug, das müssen wir unbedingt ausprobieren“ schreibe ich Sarah und Marco und hoffe dabei vermutlich vergeblich, dass vor allem Sarah vorfreudige Aufgeregtheit aus meiner Nachricht herausliest. 

Ich bin Lehrer. Für das Erziehen meiner eigenen Kinder werde ich nicht bezalht, pflege ich zu sagen. Wie es allerdings oft im Leben ist, gelingen die Dinge besonders gut, bei denen man es nicht zwanghaft perfekt machen will. Das ist der Grund, warum die Müllerkinder recht pflegeleicht sind und so öfters mal bei ihren Kumpels nächtigen dürfen. Gelegentlich geißle ich mich unter der verständnislosen Reaktion Herrn Müllers auch selbst und erlaube fremden Kindern die Übernachtung in der Müllermansion. Punkte fürs Karmakonto und erhöhte Chancen auf kinderfrei Abende in der Zukunft. So auch am Tag des Eintreffens dieses von Sandra so fulminant angekündigten Wundergeräts.

Mal wieder raus aus dem Einteiler und schick essen gehen lautete der Plan. Auch und vor allem deshalb, weil keiner Bock hat, etwas zu kochen. Eine Quattroehe ist eben auch eine Ehe und wenn man nicht aufpasst, verbringt man zu viele Abende in Wohlfühlacryl auf dem Sofa und teilt nur die Freuden des StreamingTV miteinander. Also was Hübsches anziehen und denken: „Als ich den Onesie anhatte, war die Speckrolle noch nicht da.“ 
Danach kurz jammern, nichts anzuziehen zu haben, theatralisch mit dem imaginären Handrücken vor der Stirn in die Gruppe schreiben „Geht alleine. Ich komm nicht mit. Ich hab nichts anzuziehen“ plus Heulsmiley, Totenkopfsmiley und Smiley mit verdrehten Augen und auf ihn gerichteter Pistole und dann etwas aus dem Schrank holen, das man versehentlich eine Nummer zu groß gekauft hat, nur um sich gleich darüber zu freuen, dass das Teil nicht ganz so stramm sitzt, wie man erwartet hätte.

Man wählt ein Restaurant mit Bedacht, in dem die Portionsgröße dem schmalen Grat zwischen Sarahs vernichtendem Gesichtsausdruck bei Hunger und Unzufriedenheit und dem Fresskoma einer belgischen Mastgans entspricht. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass vier Menschen sich die Bäuche haltend, wie gekeulte Robben auf dem Sofa liegen und nur stöhnen, weil jede Bewegung schmerzt bis sie schließlich einschlafen. Ehe eben. 

Der Italiener heute ist aber ein Volltreffer, abgesehen von der langen Wartezeit nach unserer Bestellung, in der wir Sarah mehrfach nur knapp davon abhalten können, die spielenden Kinder zwischen den Tischen in den am Sommergarten gemütlich vorbei rauschenden Fluss zu schubsen und mit ihrem alles durchdringenden Laserblick den mit Tellern für die anderen Gäste vorbei eilenden Kellner in Brand zu setzen. Zerstreuung bereiten uns die verwirrten Blicke der Umsitzenden, über deren Köpfen von Zeit zu Zeit Fragezeichen bezüglich der „Wer mit Wem“-Konstellation immer dann aufploppen, wenn wir die beim Anstoßen üblichen Zärtlichkeiten austauschen.

Zu Hause angekommen geht alles ganz schnell. Zum Glück ist man beim Stillen dieser unanständigen Art von Hunger nicht auf die Motivation und Expertise der Küchenhilfen angewiesen. Hungriger Sex braucht keine Spielzeuge. Es ist ein bisschen so wie der Fressflash am Kühlschrank, bei dem man die Mayo direkt aufs Roastbeef quetscht und alles animalisch in den Mund stopft um es ohne zu kauen runter zu würgen. Der designstarke Neuerwerb aus dem Internetversandhandel für Erwachsene liegt die ganze Nacht mit ungeduldig blinkendem Akku-LED neben dem Bett und sieht Szenen, für die man selbst den Katzen die Augen mit Seife waschen müsste. Letztere gucken allerdings deutlich vorwurfsvoller angesichts all des Keuschens und der rhythmischen Bewegungen. Zu guter Letzt starren sie lieber die Wohnungstüre an. Jeder, der damals seine Eltern beim Kopulieren gehört oder gar versehentlich gesehen hat, kann die Gemütslage der Katzen vermutlich bestens nachvollziehen.

Eine Stunde später liegen vier Menschen nackt im Bett, quatschen und lachen. Lachen, weil sie Szenen aus jenem gemeinsamen Urlaub gefühlt zum tausendsten Mal revuepassieren lassen, in dem ich den schüchternen Darm erfand und Herr Müller erst den fast antiken Schlüssel der ungarischen Toilettentür abbrach, sich anschließend McGyver-mäßig selbst einen Dietrich bastelte und damit für seine Befreiung sorgte, nur damit Marco, dessen Darm kein bisschen schüchtern war, die Tür von innen zu halten musste, während der mit einer Wasserpumpenzange bewaffnete aber weder der deutschen noch englischen Sprache mächtige Vermieter sich an der Tür zu schaffen machte. Hätten wir vor der Tür nicht alle so lachen müssen, wäre es uns vielleicht mit aussagekräftigen Gesten möglich gewesen, dem motivierten Ungaren verständlich zu machen, dass das Problem mit der Tür lange vor seiner Ankunft gelöst war. Lustige Geschichte. Die bekommt mal einen eigenen Blogpost.
Nich Ungarn.. aber auch Urlaub. Und neue Anekdoten aus dem Verdauungstrakt...
„Ach, wir müssen noch das Teil ausprobieren“ meint Sarah, als ihr Blick am nächsten Morgen zwischen all den Armen und Beinen auf den Nachttisch fällt. Das übliche „Kommt mal her, Männer, das wird erst bei euch ausprobiert“ nebst „Verdammt, weg von meinen Nippeln“ und „Ob man da auch Cellulite damit wegsaugen kann?“ können wir uns trotz aller ernsthaften Ambitionen eines objektiven und professionellen Testdurchlaufs nicht sparen. Kurze Zeit später werden wir Zeuge, wie Sarah mit einem angespannt analytisch bis leicht gelangweilten Gesichtsausdruck im Bett liegt, der wahrscheinlich meinem eigenen ähnelt, als unsere Kreditberaterin uns damals den Tilgungsplan erklärte. Dann macht sie dieses kleine Geräusch, dass ein bisschen nach dem Übermut klingt, der Menschen zuweilen bei einer Kissenschlacht packt, die kleinen Härchen an ihrem Unterarm stellen sich auf und der Gesichtsausdruck verändert sich zu jenem, den noch nicht mal Babykatzen, ein SALE-Schild im richtigen Laden, gekühlter Chardonnay in ausgedörrter Damenkehle oder ein heißes Wannenbad nach dem Weihnachtsmarkt hervorzaubert. 

Für mich persönlich gibt es kaum etwas faszinierenderes, als eine andere Frau beim Orgasmus zu beobachten. Noch faszinierender ist es nur, wenn man diesen Orgasmus selbst herbeigeführt hat. Sarahs ebenso nüchtern wie befriedigtes Testurteil: „Ja, macht was es soll.“ wird gefolgt von „Ich hab Hunger. Männer, macht mal Frühstück!“
 
DARUM und aus tausend weiteren Gründen liebe ich meine Lieblingsmenschen. Kaum vorstellbar auf solche Episoden im Leben verzichten zu müssen.
DARUM ist es gut, mit seiner Nageltante nicht nur über Arbeit und Kinder zu reden.
Und DARUM verstehe ich nicht, warum es so viele Menschen gibt, die sich anmaßen, Beziehungen, die von der monogamen Norm abweichen, abzuwerten, obwohl sie diese nur von außen kennen. Ich kenne beides und werte weder das eine noch das andere auf oder ab. Man darf sagen: Meins wär’s nicht. Aber man darf nicht sagen: Eure Liebe ist keine richtige Liebe. Es gibt nur diese eine Liebe. Denn es gibt eben nicht nur diese eine Liebe – man kann verschieden lieben. Und damit meine ich nicht Mehr oder Weniger. Ich meine anders. Ich denke, man muss dafür kein Freak, Egoist, Mitläufer, Hipster oder auch Gegendenstromschwimmer sein, sondern es nur zulassen und natürlich ein wenig Glück haben, auf Menschen im Leben zu treffen, die diese Art von Liebe wecken. Die meisten Menschen haben nur wahrscheinlich keine Antennen dafür  - weil sie sich eher von gesellschaftlichen Konventionen als von ihrem Herzen leiten lassen. Eine klassisch monogame Beziehung ist dennoch nicht weniger wert. Es ist schlicht ein Äpfel-Birnenvergleich.

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