Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 23. Mai 2018

Ballermann im Krankenhaus: Zweiklassengesellschaft zwischen Speichelersatzspray und Minibar



Ich war in den letzten Monaten unfreiwillig Tester einiger Leistungen unserers Gesundheitssystems. Nachdem ich im letzten Post vor dem Hintergrund der idyllischen Schwarzwaldklinik meine persönliche Krankenhaus-Historie dargelegt habe, geht es heute mit den jüngsten Ereignissen weiter. 
 
In einem Zustand irgendwo zwischen wach und Tiefschlaf fühle ich das Aufeinanderschlagen meiner Zahnreihen und höllische Schmerzen. Irgendwer zerrt an mir herum. „Frieren sie?“ fragt jemand aus der Ferne. Ich murmle etwas, dass die Frage bejahen soll und kurze Zeit später wird es warm und mein Körper hört auf zu zittern. 
„Hier ist die Klingel. Drücken sie wenn was ist!“ sagt die Stimme jetzt schon etwas näher und jemand schiebt mir das Kästchen mit dem Knopf unter die Hand. In den nächsten Stunden kehrt das Bewusstsein zurück während sich der Vorgang Drücken – Warten – Haben sie Schmerzen? – Hm! – Spritze – Entspannung einige Male wiederholt. Mittlerweile habe ich das Gefühl unter dieser Decke mit Warmluftgebläse zu schmelzen. Also wieder drücken.

Allmählich werde ich wacher. Mein Mund fühlt sich an wie brandenburgischer Waldboden im Hochsommer. Ein Drücker auf die Klingel. Nein, diesmal nicht Aua. Jetzt Durst. „Aber sie dürfen nichts trinken. Der Arzt hat nichts darüber ins OP-Protokoll geschrieben.“ Sie kommt wieder mit einer kleinen Sprühflasche. Angesichts meines immer noch leicht vernebelten Geistes wäre „Bitte mal den Mund aufmachen“ als Aufforderung, verbunden mit Abwarten für einen Sekundenbruchteil, angemessen gewesen. Stattdessen sprüht sie mir eine Flüssigkeit mitten ins Gesicht, die geschmacklich stark an das erinnert, was man nach dem Zähneputzen ins Waschbecken spuckt. Danke dafür.

Auf dem Überwachungsmonitor kann ich neben meinen Vitalfunktionen die Uhrzeit ablesen, es ist gleich fünf Uhr morgens. „Schwester! Schwester! Schweeeeester! Ich muss mal!“ ruft die Stimme eines offenbar männlichen Erwachsenen über den Gang. Die Tür ist nur angelehnt. An den Hilferuf schließt sich minutenlanges Stöhnen und Jammern an. Nach zehn Minuten ist Ruhe. Das ganze Hörspiel findet im Anschluss etwa stündlich statt, immer pünktlich dann wenn ich mich an der Schwelle vom Dusel zum Schlaf befinde.

Gegen sieben schreitet ein Arzt herein. Außer seinen Namen und seine Funktion hat er mir nichts zu sagen, dafür fällt das Schließen von Türen anscheinend nicht in seinen Aufgabenbereich. Ich überlege, angesichts des stattlichen Luftzugs zwischen Tür und offenem Fenster, wie der kleine Häwelmann angetrieben vom Laken als Segel, in meinem Bett auf den Flur hinauszurollen.

Eine weitere Stunde später stürmen sechs Ärzte zwischen 30 und 60 Jahren mein Zimmer und glotzen mir auf meinen nackten Unterleib. Trotz der Verbände ist mein Tattoo auf dem Schambein, eine subtile aber dennoch eindeutige Aufforderung zu Handlungen erotischer Natur in verspielten Lettern, deutlich zu sehen und bleibt nicht unkommentiert. Sehr fein, lacht ruhig. Ich sprühe ohnehin gerade vor Sexappeal. Nachdem ich die Schwester darauf hingewiesen habe, dass ich zuletzt vor 12 Stunden etwas getrunken hatte, dafür aber schwitze wie ein Teilnehmer des Iron Man und offenbar auch keine Infusion an irgendeinem der Kabel und Schläuche an meinem Körper baumelt, erbittet sie von der Männerrunde die Erlaubnis mir etwas zu trinken zu geben. Bitte, sie soll trinken. Danke, das war mir euer dummer Spruch wert.

Allmählich geht mir die Geschäftigkeit auf dieser Überwachungsstation auf den Keks. Ich sehne mich nach einem Kämmerchen, in dem ich in Ruhe mit meinem Schmerz kommunizieren kann ohne dass Türen fliegen, jemand um Hilfe schreit oder Alarmtöne erklingen. Drei Stunden später werde ich auf die Pflegestation verlegt. Ruhe sollte ich dort nicht finden. Dafür fand ich Berta.

Was war zuvor geschehen? Ich bin kein großer Fan von Ärzten und Krankenhäusern. Ein Arztbesuch verlangt mir in der Regel mehr Motivation ab als ein 10.000-Teile-Puzzle einer Allgäuer Bergwiese. Wenn es mir also nicht richtig richtig schlecht geht, therapiere ich mich bevorzugt selbst mit einem Medikamentencocktail aus Ignoranz, Globuli und Paracetamol. So richtig richtig schlecht ging es mir eigentlich auch nicht, aber irgendein Gefühl und Herr Müller sagten mir, es sei wohl doch besser zum Freitagabend die Notaufnahme aufzusuchen. 
„Nein, beim Hausarzt war ich nicht, der macht nämlich Freitagmittag Feierabend. War ja nich so schlimm, bis jetzt. Jetzt hab ich aber Fieber und komische Schmerzen!“ – „Na dann setzen se sich ma!“. Das tat ich und so saßen wir die nächsten anderthalb Stunden.

„Soll ich ihren Mann jetzt holen?“ fragte mich die Schwester nach den Eingangsuntersuchungen. Ich bejahte und sie rauschte ab. Den Kerl, der zwanzig Sekunden später in der Türe stand, hatte ich noch nie gesehen. „Das ist der falsche Mann!“ sagte ich und sie dampfte wieder ab. Kurz nach Herrn Müller, der im zweiten Anlauf seiner Frau richtig zugeordnet wurde, rollte ein Arzt samt Ultraschallgerät herein. In den nächsten zwei Stunden kamen noch weitere zwei Ärzte aus anderen Fachbereichen plus deren Ultraschallgeräte dazu. Ergebnis des Konsiliums: wir wissen, dass wir nichts wissen aber wir müssten da mal reingucken. Arzt Nummer vier – seines Zeichens Anästhesist – stieß hinzu und dann ging alles ganz schnell. 
Übrigens sollten wir Deutschen uns mal ernsthaft Gedanken über unsere Sprache machen, wenn einem Nicht-Muttersprachler das Wort „kotzen“ geläufiger ist als „übergeben“ oder „erbrechen“. Das nur so am Rande.

Man machte also Nägel mit Köpfen oder besser gesagt Patienten mit Narkosen. Nach der letzten Narkose bei einer ambulanten OP (die zwischen dieser und der in der Schwarzwaldklinik) hatte ich die Sache eigentlich in guter Erinnerung. Nach einer Leck-mich-am-Arsch-Pille gepflegt auf den OP-Tisch schweben, ein lallendes Schwätzchen mit dem Team und im Aufwachraum ein Eis für den eben noch intubierten Hals kann man schon ertragen. Diesmal musste aber alles recht flott gehen. Not-OPs auf nicht nüchternen Magen sind ziemlich unentspannt. Es folgte ein Filmriss bis zum Nahtod durch Erfrieren auf der Aufwachstation.

Zurück zu Berta. Man brachte mich also nach diesem intensivmedizinischen Horror in ein Dreibettzimmer. Ich hatte mir, wie bereits erwähnt, etwas Ruhiges ruhigeres erwartet. Stellt euch vor ihr verlasst den Ballermann und geht, um runterzukommen, in den Megapark. Und Berta ist Jürgen Drews. Guter Vergleich. Kurz: vom Vorzimmer der Hölle direkt in die Hölle. 
Nachdem ich mit meinem Bett über jede Schwelle des Krankenhauses gerattert war, öffnete sich eine Tür und dahinter hörte ich eine Stimme, die überaus kleidsam für eine Barkeeperin der ältesten Kneipe St.Paulis hätte sein können. Berta hatte morgens gegen elf Besuch von ihrem Mann und es gab jede Menge Verwandte und Bekannte durch den Kakao zu ziehen.

Hier werden Patienten schneller kalt als ihre Betten...

Wenn man jahrelang neben einem Flughafen wohnt, hört man die Triebwerke der startenden Maschinen irgendwann nicht mehr. Sobald es allerdings Änderungen in der Geräuschkulisse gibt, horcht man auf und der Prozess der Habituation startet neu. Bertas Mann gab sich mit der Putzfrau nämlich die Klinke in die Hand. Zum Inhalt der nun folgenden Konversation kann ich nicht viel sagen, Gesprächsatmosphäre und Lautstärke erinnerten an ein Vorstandstreffen der Hells Angels-Leadership.

Diese Dame im fortgeschrittenen Alter war aber nicht nur im Dialog nervig. Selbst im Monolog erweckte sie fortwährend meine negative Aufmerksamkeit. Wie ein Perpetuum Mobile für Klänge produzierte sie fortwährend Schallwellen indem sie schmatzte, laut seufzte, nach dem Essen fünfzehn bis zwanzig Mal aufstieß oder jede ihrer Handlungen kommentierte. Mit meinem Schlafplatz direkt neben der Wand zum Bad durfte ich quasi, ähnlich wie bei diesen Blinden-Kommentaren im Fernsehen, bei ihrer Körperkultur morgens und abends live dabei sein. Verschlafen konnte ich ihren Gang zum Bad keinesfalls, da sie das Ende meines Bettes konsequent als Stütze für ihre wackligen Gehversuche nutzte und mich dabei jedes Mal durchschüttelte.

Die Frau in dem Bett zwischen Blubber-Berta und mir war Philanthropin aus Überzeugung und schaffte es ein Ying zu meinem Yang zu erzeugen. Zumindest bis die Nervensäge am zweiten Abend explosionsartigen Durchfall bekam. Berta schaffte es nicht rechtzeitig bis zum Klo und hinterließ eine Spur, die es sogar dem Förderschul-TKKG leicht gemacht hätte, sie in ihrem gefliesten Versteck zu orten. Ihr war das natürlich unangenehm und sie versuchte nach Kräften das Malheur mit Klopapier zu beseitigen. Sauber genug für die einzige Schwester der Schicht, nicht sauber genug jedoch für die zwei frisch am Verdauungstrakt operierten Zimmergenossinnen, mich eingeschlossen. 
„Ich kann ja wohl jetzt keine Endreinigung machen. Das sieht doch sauber aus. Desinfizieren sie sich die Hände wenn sie im Bad waren. Und hier. Ich stelle noch eine Packung Desinfektionstücher hin.“ Aha. Das ist also der Umgang mit möglichen Magen-Darm-Viren und Krankenhauskeimen in einem Klinikum mit über 600 Betten und deutschlandweiten Filialen

Herrn Müller hatte das gereicht um seiner Frau gleich am nächsten Tag ein Zimmer auf der Wahlleistungsstation zu buchen. Es erwartete mich neben einer Minibar, einem Blumenarrangement auf dem Nachttisch, einem Bademantel und der Tageszeitung eine Mitbewohnerin, die zwar genauso alt wie Berta war, allerdings stumm zu sein schien und sich das Bewegungsmuster mit einem Chamäleon teilte. Herrlich, das war fast wie alleine sein. Über die Schreie der Patienten auf den psychiatrischen Stationen unter uns, die sich ins idyllische Vogelgezwitscher vor dem Fenster mischten, sehe ich da gerne hinweg. Alles war besser als Berta und ihre Kamikaze-Diarrhoe.

Kurze Gegenüberstellung „Feldlazarett versus ärztlich begleiteter AIl Inklusive-Urlaub“:

Kassenfinanziert

  • -      ein TV-Gerät für drei Patienten. Es herrscht das Recht des Ältesten.
  • -      „Salat? Gibt’s nur Mittwochs. Eier nur Sonntags. Ich könnte ihnen eine Gewürzgurke anbieten.“
  • -      Klingeln bei Durst, Schwester erscheint nach 15 Minuten und verspricht gleich etwas zu bringen. Sie wurde nie wieder gesehen.
  • -      Nachtschwester: welche Nachtschwester?
  • -      Blutergüsse von Thrombosespritzen, die auch zwei Wochen später  noch schmerzen
  • -      Verbandswechsel auf Nachfrage oder alle drei Tage

Privatzahler

  • -      SKY oder auf Wunsch DVDs, mit im Programm: „Stirb langsam“ und „Stirb an einem anderen Tag“, Nicht mit auf der Liste "Sudden Death" oder "Haus der stummen Schreie"
  • -      „Was wünschen sie als Beilage zum großen Salatteller? Putenbrust? Feta? Thunfisch?“ – beim Servieren: „Ach, mir ist heute doch nicht nach Salat.“ – „Kein Problem. Möchten sie vielleicht eine Suppe? Tomate? Spargel? Kartoffel?“
  • -      Minibar und Wasser in Glasflaschen auf dem Servicewägelchen zweimal am Tag, nicht zu vergessen das Kuchenwägelchen am Nachmittag
  • -      Nachtschwestern vorhanden und mit Special-Skills im Bereich „Türen leise schließen“ ausgestattet
  • -      Wettbewerbsorientiertes Spritzensetzen mit dem Ziel möglichst keine dauerhaften Spuren zu hinterlassen.
  • -      Verbandswechsel täglich, Arzt binnen dreißig Minuten, Blutwerte in einer Stunde, Entlassungspapiere nach etwa 10 Minuten druckerwarm

Der spitzfindige Bildbetrachter könnte meinen, der Kassenpatient isst, was dem Selbstzahler nicht anstand. Tatsächlich waren die Karotten aber erst würfelförmig und DANACH rund. Wir müssen die Kirche im Dorf lassen.
  
Was soll ich sagen. Egal ob Tapetenkleister mit Blumenkohlaroma zu Mittag oder langsam gedünsteter Lachs im Nudelbett. Krank sein ist kacke. Punkt. Ich scheiß auf Pay-TV und Gerbera auf dem Nachttisch. Ich bin nicht verwöhnt. Zumindest nicht in jeder Hinsicht. Selbstversorgerurlaub oder Camping? Warum nicht. Was ist also die Hard- und Software eines Genesungsprozesses? Aus meiner Sicht: Hygiene und ein Minimum an Menschlichkeit. Schwestern, die eine ganze Station alleine stemmen müssen und dadurch so überarbeitet sind, dass Patienten für sie zu Anonymen werden sind der falsche Weg. Während die Schwarzwaldkliniken dieser Welt geschlossen werden, wachsen die Franchise-Krankenhäuser und Versorgungszentren sowie deren Bettenzahlen ins Unermessliche. Möglichst viele Patienten so wirtschaftlich wie möglich abgefertigt.

Halt. Ich wollte eigentlich gar nicht politisch werden. Nachdem in den letzten acht Monaten insgesamt dreimal in meinem Inneren herumgedoktert wurde, reicht es jetzt langsam. Ich habe für euch eine kassenfinanzierte Methode getestet, bei der man Gewicht reduziert indem man sich nicht lebenswichtige Organe oder Teile davon entfernen lässt. War scheiße, hat nicht funktioniert mit der Körperoptimierung, zumal nach solch einer Aktion Bauchmuskeltraining für mindestens acht Wochen Tabu ist. Also macht mir solche Aktionen eher nicht nach. Und wenn, dann seht zu, dass ihr ein Bett in der Schwarzwaldklinik erwischt.

Und noch etwas: alle Indikationen, die diesen ganzen Schnippelkram notwendig machten, waren pillepalle im Vergleich zu dem, was so viele andere Konsumenten von Leistungen unseres Gesundheitssystems binnen zum Teil wochen- oder monatelanger Krankenhausaufenthalte ertragen müssen. Oft mit gelinde gesagt beschissenen Diagnosen. Ich zieh den Hut vor euch.

Und nun Schluss. Es soll nicht der Eindruck von Wartezimmer-Smalltalk entstehen. Nächste Woche schreibe ich mal wieder was Schlüpfriges, denke ich.

Bonusheftchen und IGEL-Leistungen gibt es bei mir nicht.
Wohl aber eine Facebook-Präsenz, die als Vorsorge dafür, nichts zu verpassen zwar hoch wirksam ist, allerdings von den Krankenkassen 

2 Kommentare:

  1. Danke für diesen erfrischenden Krankenhausbericht, bei dem sicher so ziemlich jede/r noch etwas beizutragen hätte. Ich wünsche beste Besserung.

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    1. Da bin ich mir sicher. Wäre bestimmt Stoff für eine ganze Buchreihe.
      Ich danke dir.
      LG
      Frau Müller

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