Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 28. Juni 2017

Die Wahrheit über Ferien, ein Hausmeister-Einhorn und schon wieder Justin


Achtung - Kann Spuren von Ironie enthalten.
Ferien sind etwas, um das die meisten Normalen Menschen Lehrer vermutlich beneiden. In der Tat, die Sache hat was für sich - das kann ich euch bestätigen. Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten...
  
Aaaaahhhh, Ferien. Herrlich. Hier sind sie schon angekommen. An dieser Stelle halte ich kurz inne und gedenke der Kollegen, die noch bis zu vier Wochen vor sich haben, bevor sie abhängig vom Frustrationsgrad entweder die Tasche in die Ecke werfen und die nächsten fünf Wochen mit dem Staubsauger galant drum herum cruisen oder gleich am ersten Ferienmontag ihren Schreibtisch aufräumen und den Taschenboden vom Schuljahresschlamm befreien, bevor dieser zu Braunkohle wird.


Für mich bedeuten Ferien auch endlich mal vormittags einkaufen gehen können, in der Hoffnung sich nicht wie Super Mario zwischen den Monsterblumen zu fühlen, wenn jede Regalreihe von Rentnergrüppchen belagert wird. Ich nahm an, vormittags sitzen diese entweder im Wartezimmer oder kucken Serien im Öffentlich Rechtlichen, da sie ja sonst erfahrungsgemäß immer nachmittags einkaufen. Die Erkenntnis kam jäh: Rentner gehen zu jeder Tageszeit einkaufen UND -noch schlimmer- man trifft jetzt auch noch Schüler im Supermarkt. Die wissen anscheinend die nächsten sechs Wochen vormittags nichts Besseres mit sich anzufangen als in Einkaufszentren rumzulungern. Zumindest wenn es in der Nähe kein Kinderfest gibt, auf dem man rumhängen kann.

Die eigenen Kinder mal nicht im Schlepptau ganz in Ruhe in den Wühltischen nach Silikonbackpinseln, Barfußeinlege-Sohlen und Lebensmittelmottenfallen stöbern - das war mein Plan. Eine traumhafte Vorstellung! 

Doch schon im ersten Gang endet dieser Traum jäh mit einer Schülersichtung. Und dann ausgerechnet ein Justin. Es gibt ja auch Schüler, die grüßen schüchtern, flüstern ihrer Mutter mehr oder weniger unauffällig "Das is eine Lehrerin" zu und beobachten dann nur noch aus der Ferne. Justins tun das nicht. Vermutlich weil ihnen sonst niemand zuhört, der nicht dienstlich dazu verpflichtet ist.
 
Man versucht sich unsichtbar zu machen, wechselt mehrfach die Richtung, täuscht links an und fährt rechts, versteckt sich in Nischen, darauf wartend dass der Verfolger vorbei zieht - wie ein polnischer Autodieb auf der Flucht vor Cobra 11. Aber nix da, Schüler haben genau wie Lehrer ein eingebautes Feind-Radar.

Es passiert kurz vorm Obst- und Gemüse-Stand: 
„Hallo, Frau Müller!“ (kein normales Hallo, mehr ein "Ha, hab ich dich ertappt" mit bedrohlichem Unterton)
– „Hallo, Justin!“ 
Man beschleunigt den Schritt weil man verzweifelt hofft, dass die Konversation mit dem Beginn auch direkt endet. Aber nichts da - Justin ist wie Herpes. Hat man es einmal, wird man es nicht wieder los. Man wird zur Gejagten. Mit hastigen Schritten und fahrigen Bewegungen wirft man das Nötigste in den Wagen. Alles was man auch nur ansieht, kommentiert das Schlaumeierchen um eine Nähe zu erzeugen, die nur einer Seite angenehm zu sein scheint: 
„Oh, Frau Müller? Sie essen auch gerne Pomelo?“
"Diesen Sekt kauft meine Mutter auch immer!" 
"Ich wusste gar nicht, dass Lehrer auch Cola trinken!" 
(Booooaar, nein du Alphakevin. Ich trinke sonst auch keine Cola. Nur heute kaufe ich die. Um dir zu zeigen, dass ich ein normaler Mensch bin. Sonst trinke ich nur stilles Wasser, darauf kotzt es sich am besten nach solch bescheuerten Aussagen!")

Die Hoffnung, dass der aufgezwungene Kommunikationspartner durch minimale bis gar keine Reaktion inklusive "Geh einfach"-Metabotschaft seines Gesprächspartners von allein feststellt, dass er unerwünscht ist, löst sich bei genauerem Nachdenken und Einbeziehen sämtlicher justinscher Reflexionskompetenzen (also keine) von selbst in Luft auf.  

Nach der Erkenntnis, dass die ursprüngliche Einkaufs-Vision schon kurz nach dem Eingang zum Luftschloss wurde, sucht man den kürzesten Weg zur Kasse und hofft, dass vielleicht die lieben Mit-Kunden durch das übliche Gedrängel im Kassenbereich dem Problem ein Ende setzen. Heute ist alles ganz entspannt und die Massen überschaubar. Ach ja, sind ja Ferien.

Also veredelt Justin auch die Wartezeit an der Kasse durch seine heitere Art mich und die anderen Kunden zu unterhalten. Inständig hoffe ich, dass die Umstehenden unser Lehrer-Schüler-Bekanntschaftsverhältnis durchschauen. Kaum auszudenken, wenn der ein oder andere auf die absurde Idee käme, man wäre vielleicht verwandt oder die Basis der Bekanntschaft beruhe auch nur einen Hauch auf Freiwilligkeit.

Kurz um, diese liebenswerte Schülerpersönlichkeit begleitete mich bis zum Kofferraum meines Autos und bereicherte meinen Vormittag auch hier mit seiner Gesellschaft bis der letzte Soja-Joghurt sicher verpackt war. Toll.  Immerhin hat er meinen Einkaufswagen weggebracht.
Noch toller allerdings war die Erkenntnis beim späteren Auspacken des Einkaufs: WAS habe ich eigentlich eingekauft und vor allem WO sind die Dinge die ich BRAUCHE?

Ferien dienen der Erholung von Lehrern UND Schülern. Sachlicher Fakt für alle, die es interessiert: Lehrer haben etwa 30 Tage Urlaub, die sie wie die meisten anderen Arbeitnehmer ordnungsgemäß zu Beginn des Kalenderjahres beantragen müssen, die sie aber NUR IN DEN FERIEN nehmen dürfen. Für alle übrigen Tage gilt: Vor- und Nachbereitungszeit bei weitgehend freier Einteilung. So ist es zumindest bei uns an der Schule. Ich weiß aber, dass es viele Schulen gibt, in denen den Kollegen weitaus weniger freie Zeiteinteilung zugestanden wird.
 
Es dürfte klar werden: für den Einzelnen verbirgt sich hier natürlich enormer Interpretationsspielraum. Dieser hängt stark von der Fähigkeit ab, ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Psychohygiene und Konsequenz bezüglich beruflicher Verantwortung herzustellen. Erweitert oder beschränkt wird das Ausmaß der Freizeit zudem je nach Arbeitseinstellung des Vorgesetzten, der sich bei Verdacht auf Faulenzerei die Tätigkeiten im unterrichtsfreien Zeitraum durchaus nachweisen lassen darf. 
Wenn man wie ich jedoch einen Vorgesetzten hat, der die Arbeit scheut wie Katzen das Wasser und gleichzeitig so inkompetent ist wie ein Säugling beim Bauen eines Kartenhauses, dann verschafft einem das enorm viel Freizeit.

Der Lehrer-Ferien-Freizeit-Spaß wird aber nicht nur durch Schüler getrübt. Drei Dinge sollte man außerdem bedenken.

Erstens: hat man selbst Kinder, haben die auch Ferien. Dingdong! Alles klar! Animiert man sonst vormittags fremde Kinder etwas halbwegs Sinnstiftendes zu tun, sind es jetzt die eigenen. Juhu. Nicht.

Zweitens: wenn man wie ich nicht mit Lehrern befreundet ist -ist ja kaum auszuhalten, ich mag die nicht besonders- ist die Auswahl der Menschen, mit denen man den Tag verbringen kann recht übersichtlich. Die anderen müssen ja ständig arbeiten. Man schreibt vormittags halb elf eine Whatsapp und bekommt fiesen Shitstorm à la „Frau Oberlehrerin hat ja Ferien…“ zurück. Das ist verletzend, Leute. Wer ist denn den ganzen Tag einsam weil keiner Zeit hat und muss sich die Zeit mit schlafen, putzen und Wäsche waschen vertreiben obwohl er sich nach der wochenlangen Plagerei in der Irrenanstalt mal was Schönes verdient hat? Selbst bei Hunden weist man darauf hin, dass sie nicht zu lange alleine zu Hause sein sollten, Katzenhaltern empfiehlt man die Anschaffung eines Partnertieres um Symptome der Vereinsamung zu lindern. Aber kein Mensch denkt an die LEHRER! Ja, jede Medaille hat zwei Seiten. 

Noch nicht mal der eigene Partner -natürlich kein Lehrer, das ist ja krank- kann dem wohlverdienten Regenerationszeitraum beiwohnen, der muss ja auch arbeiten. Das schlimmste: abends ist er müde, ab halb neun etwa. Noch vor den Kindern, denn die haben ja auch Ferien. Man selbst läuft um die Zeit erstmal zu Hochform auf, schließlich ist man ausgeschlafen. Die Folge: man geht mit ins Bett - aus Liebe- und liegt hellwach neben dem Scheintoten. Aktivitätsmodus: Eichhörnchen auf Speed.

Die Chancen auf Sex sind bei diesen ungleichen Wettkampfvorraussetzungen so groß wie die Siegeschance eines Teddy-Hamsters beim Rückenschwimmen. Das wiederum ist echt beziehungsgefährdend. Hat es da mal statistische Erhebungen gegeben? Werden Ehen, bei denen nur einer Lehrer ist womöglich deshalb öfter geschieden? Oder ist das der Grund, warum es gefühlt in keinem anderen Berufsstand so viele Paare gibt wie unter Lehrern? Werden aufgrund dieses Umstands in den Ferien statistisch mehr (Lehrer-)Kinder gezeugt? Fragen über Fragen. Sollte man echt mal überprüfen.

Ich hoffe jedenfalls der empathische Leser empfindet zukünftig weniger Neid und mehr Mitleid, wenn das Auto des Nachbar-Lehrers noch in der Einfahrt steht, während man selbst morgens zur Arbeit gehen DARF!

Dritte Schattenseite: Wenn alles gut läuft, genießt man vielleicht zwei, höchstens drei richtige Urlaubswochen, idealerweise im Ausland. Man bedenke auch hier: Nebensaison-Reisen zu Top-Preisen mit einem geringen Kinderanteil in Flugzeug und Hotel, weil man ja sonst schon so überkindert ist, fallen aus!

Man DARF ja nur in den Ferien Urlaub machen. Und jetzt stellen wir uns den Worst Case vor: man bezahlt viel Geld für eine Reise, die einem weit fort bringen soll. Fort von Begriffsstutzigkeit und Fettflecken auf Mathekontrollen. Und dann triffst man am gefühlt anderen Ende der Welt Lehrer. Es sind ja Ferien. Halt, noch schlimmer. Man trifft SCHÜLER. Und nur eins kann den Horror-Faktor von Schülern außerhalb der Schule multiplizieren: ihre ELTERN. Weil man als Lehrer logischerweise keinen Urlaub im Ferienlager macht, ist die Wahrscheinlichkeit Schüler in Begleitung ihrer Eltern anzutreffen also recht hoch. Ich sage euch, ALLES schon passiert! Das will KEINER! 

Der Lehrer-Job ist ein Leben am Limit. Und Ferien sind, wenn man alle Nachteile in die Waagschale wirft – nicht schöner als jeder stinknormale Urlaub auch.

Ich ende mit einem weiteren Horror-Szenario, das den sagenumwobenen Ferien den Glitzer nimmt. Ferien sind ein äußerst beliebter Zeitraum für familieninterne Seuchenausbrüche. So kann eine Woche Osterferien wunderbar damit verbracht werden, dass alle Familienmitglieder der Reihe nach zunächst unkontrollierbar Toilette und/oder Eimer befüllen um anschließend hinter dem nächsten Opfer mit dem Desinfektionsmittel zu nebeln.
Natürlich erfreuen sich alle pünktlich zum ersten Schultag wieder bester Gesundheit, ebenso Frau Müller. Die freut sich schon darauf, in den nächsten acht Schulwochen wieder gummi-behandschuht halbverdaute Cornflakes in flockigem Kakao von Tischen zu wischen oder mit Schülern im Fahrstuhl eingeschlossen zu sein, während diese aus Leibeskräften in den vorausblickend mitgenommenen Papierkorb brüllen.

Eine letzte Illusion muss ich dem erkenntnisgebeutelten Leser in diesem Zusammenhang rauben:  der Hausmeister im grauen Overall, der mit seinem Wischmob-Wägelchen stets dienstbeflissen um die Ecke gerollt kommt um zuverlässig und geruchsneutral Schüler-Kotze wegzuwischen, ist eine Erfindung der amerikanischen Unterhaltungsbranche und wurde in der Realität noch nie gesehen. Oder habt ihr die Beseitigung von Körperflüssigkeiten schon mal in der Stellenbeschreibung eines Facility Managers gelesen?
In meiner Stellenbeschreibung stand das auch nicht. Aber irgendeiner muss es ja weg machen. Das waren zumindest die Worte meines Vorgesetzen, als ich nach der ersten Kotzpfütze fragte, wer für die Beseitigung verantwortlich sei. So. Wer möchte jetzt noch Lehrer sein?

Schaut auch im Lehrerzimmer bei Facebook vorbei. Garantiert seuchenfrei und auch in den Ferien durch eine hochmotivierte Frau Müller besetzt. Sei kein Justin und klicke hier.

 

Mittwoch, 21. Juni 2017

Betriebsführung im Bordell: Tatü-Tata, die Domina ist da...



In der Annahme zu einem Bewerbungsgespräch in einem piefigen Callcenter eingeladen zu sein, machte ich mich mit meiner Schwägerin Kathleen vor fast 20 Jahren auf den Weg ins Ungewisse. Wir fanden uns wieder auf einer Couch, die nach uns vermutlich noch vielen aufgeschlossenen Frauen eine Wirkungsstätte bieten sollte. Ute, ihres Zeichens Bordellbetreiberin, setzt noch dem nahezu unverfänglichen Smalltalk von letzter Woche heute nun zur Offensive an und bringt uns Backstage in den Puff...

Der „Besuch“ von Lady Bella brachte Ute auf die Idee, uns doch einfach mal den ganzen „Betrieb“ zu zeigen. So konnte sie uns die möglichen Betätigungsfelder vor Ort erläutern. Los gings gleich im Kerker, Bellas Wirkungsstätte – Peitschen, Andreaskreuz, Pranger und der ganze Plug- und Dildokram.

Heute mit Mitte Dreißig wirft mich das nicht mehr aus der Bahn, auch wenn ich stolz darauf bin, nie Shades of Grey gelesen zu haben. Mittlerweile kenne ich auch indem Bereich MEINE Rosinen aus dem Kuchen. Aber ihr könnt euch vielleicht vorstellen, dass mich als 18-Jährige der Holzschemel mit aufgesetzen Edelstahldorn in der Größe "Ausgewachsenes Einhorn" dann schon ein wenig verstörte. Die von Ute ganz nebensächlich erwähnten Stromanschlüsse an dem Teil setzen dem das Krönchen auf. 

Wie ferngesteuert folgten wir der Frau im Kostüm in den Nebenraum. Sie nannte ihn die Klinik, tatsächlich fühlte man sich wie in eine Arztpraxis gebeamt. Nur die Details verrieten, dass es hier nicht um Krebsvorsorge gehen sollte. Zumindest hängt bei meiner Frauenärztin kein riesiger Spiegel über dem Behandlungsstuhl. Ausgestattet mit diesem Gynäkologenstuhl, einem Schreibtisch für die Ärztin und kleinem Empfangsbereich sowie allerhand medizinischem Gedöns käme dieser Raum für uns als Wirkungsstätte wohl eher nicht in Frage meint Ute, immerhin braucht man zum Legen von Kathedern oder Zugängen eine rudimentäre Ausbildung im medizinischen Bereich. Für einen Einlauf würde unser Know-how vielleicht noch reichen.
Stripperstiefel sind kleine Wunderwerke und erstaunlich bequem. Diese hier haben noch nie ein freudbetontes Etablisement von innen gesehen, wohl aber die ein oder andere Faschingsveranstaltung optisch enorm bereichert
Rückblickend hatte ich von diesem ganzen „schwarzen SM“ ja schon mal was läuten hören, selbst als Teenie. Aber dass es das Ganze auch in Weiß gibt war mir neu und verstörte mich zum damaligen Zeitpunkt latent. Heute denk ich mir: jedem Tierchen sein Plaisierchen.

Ute zeigte uns weitere Räume, darunter auch den Massageraum. Hier fand sich auch die nach der Außenreklame erwartete Sonnenbank. Ich vermute mal für die Angestellten. Oder geht jemand ins Bordell um sich zu sonnen? Vielleicht auch nur als Alibi für die Gewerbeaufsicht? Weiß der Geier.

In der Mitte die Massageliege. Ganz unschuldig stand sie da. Drum herum verspiegelte Wände, in denen sich meine bestrumpften Beine wohl vertrausendfachen würden. Das tun sie so effektiv dass es wohl nie zur Notwenigkeit des „Nachhelfens“ am Schluss der Massage kommen würde?! Die Vielzahl an Plastikpflanzen und Bambusdetails ließ mich an einen skurrilen botanischen Garten denken, mit Kondomen als Blüten und winzigen Dildos mit Schmetterlingsflügeln.

Alle anderen „Arbeitszimmer“ waren thematisch eingerichtet – definitiv war die Handschrift einer Frau zu erkennen. Ein bisschen so, als hätte man Phantasia-Land bewohnbar gemacht und mit einer Überdosis Nanu-Nana garniert. Oder auch wie die FSK18-Version des Barbie-Traumhauses, nur mit weniger Pink dafür umso mehr Gold.

Da war das Dschungelzimmer mit Whirlpool, Bambus-Thron und mehr Gummigrünzeug als in allen Erlebnisbädern dieser Erde zusammen. Ich kann mir heute lebhaft vorstellen, dass in dieser Atmosphäre jeder Bürohengst in Sekundenschnelle seine Krawatte zur Liane umfunktioniert. 

Es gab auch eine Kornkammer, eingerichtet mit Bauermöbeln, bekannt aus dem elterlichen Schlafgemach und liebevoll dekoriert mit authentischen Strohballen und Mohn-Kornblumen-Bouquets aus Plastik und Polyester. Die sich hier abspielenden Szenen könnten vermutlich als Outtakes aus „Bauer sucht Frau“ nach Mitternacht zwischen den Sexy Sport Clips auf den Sportkanälen laufen.

Ute erklärte uns ihr Geschäfts-Konzept in etwa so: Da eine nicht unerhebliche Anzahl der Kunden nicht nur zum Zwecke des erleichternden Geschlechtsverkehrs die Räumlichkeiten aufsucht sondern vor allem Geborgenheit, eine Schulter zum Anlehnen und ein zuhörendes Ohr vermisst, sei es besonders wichtig ein solches Wohlfühl-Ambiente zu bieten, dass den Eindruck vermittelt, nicht nur eine Dienstleistung zu verkaufen.

Der Rundgang endet mit dem Personalraum. Also so etwas wie das Lehrerzimmer für Prostituierte. Küchenzeile, Dusche, Couchgarnitur und viel Nikotin. Das Thema dieses Zimmers erschloß sich mir nicht ganz, jedenfalls schien hier die Funktion VOR dem Wohlfühlfaktor zu stehen. Mutmaßungen zum Raumthema wären an dieser Stelle von meiner Seite nicht wertungsfrei.
Nur so viel: während Cinderella die perfekte Ergänzung zu ihrem Schloss in Disney-Land bildet schienen die Frauen, welche hier in Lurex-Stretch und Nieten-Highheels die Aschenbecher quälten, nicht die Kirsche auf dem eben besichtigten Sextopia zu sein.

Am Ende unserer Führung verabschiedete sich Ute auf ihre seriöse Art. Wir sollen über die Eindrücke schlafen und uns melden, wenn was für uns dabei ist. Kathleen vor allem. Die Domina-Version von ihr schien Ute zu begeistern. Natürlich haben wir uns nicht mehr gemeldet.

Und dennoch: ich danke in erste Linie mir selbst für meine Naivität, die mir diesen Einblick ermöglicht hat. Welche Frau mit meinem Werdegang kann schon behaupten einmal ein Bordell und seine Belegschaft kennengelernt zu haben. 

Dann danke ich Kathleen, die auch im späteren Leben nie Domina geworden ist. Vielleicht tatsächlich verschwendetes Potential – wir werden es wohl nie erfahren. Stellen wir uns vor, Ute wäre Berufsberaterin des Arbeitsamtes geworden und wäre in Kathleens zehntem Schulbesuchsjahr auf dieses vielversprechende Talent gestoßen. Die Geschichte hätte wohl einen anderen Verlauf genommen. Ich weiß nicht ob meine Schwägerin damals genauso ahnungslos war wie ich oder einfach Frau genug um mich nicht hängen zu lassen.

Alle Welt bildet sich oft ohne jedweden Background ein, über diese Menschen, ihr Gewerbe und ihre Kundschaft urteilen zu müssen. Ich kann und möchte mir selbst nach dieser Erfahrung keines erlauben. Zugeben muss ich allerdings, dass mich der Job als Empfangsdame durchaus gereizt hätte. Wo sonst lernt man mehr über die Kundschaft als auf den Wegen zwischen Klingel, Dusche und Bambusthron? Ist es mit Mitte Dreißig schon zu spät für einen Quereinstieg in dieses Gewerbe?

Ihr denkt, dieser Ausflug war skurill? Ich finde meinen Alltag
in der Schule oft nicht weniger seltsam bis ulkig. Wenn ihr nichts 
verpassen wollt von den Ausflügen in Mikro- und Makrokosmos des 
Kuriositätenkabinetts "Menschen", dann abonniert mich doch hier

Mittwoch, 14. Juni 2017

Bewerbungsgespräch im Bordell: Mein Tellerrand trägt halterlose Strümpfe



Der heutige Blogpost fällt unter die Kategorie „Ich war jung und brauchte das Geld“. Dafür müssen wir gedanklich eine kleine Zeitreise machen. Wenn man vor etwa 20 Jahren 18 war, gerade Abi gemacht hatte, keinen Bock hatte direkt weiter zu lernen und erstmal mit möglichst wenig Aufwand ein bisschen eigenes Geld verdienen wollte, dann war man womöglich sehr empfänglich für Zeitungsannoncen in denen junge Damen für Telefonflirts gesucht wurden... 

Das Fräulein Müller war damals schon aufgeschlossen, wenn auch ziemlich naiv. Mitte der 90er-Jahre ging das noch, da durfte man mit achtzehn noch naiv sein. Man konnte nur ins Internet, wenn die Eltern nicht gerade telefonieren mussten, hat sein Nokia 5110 entweder zum Snake spielen genutzt oder sparsam SMS geschrieben, die höchstens 140 Zeichen lang waren und Talkshows am Nachmittag haben für uns die Grenze zum Abseitigen markiert. Aufgeklärt wurde man sechs Jahre früher von der BRAVO.

Da war ich also - die frisch gebackene Abiturientin Müller, die mal so gar keine Lust auf Studium hatte und da war diese Stellenanzeige. Callcenter sucht junge Frauen für Telefonflirts. Ich empfand nichts Schlechtes, Schmutziges oder gar Verwerfliches daran, dachte „Das kann ich!“ und rief angelockt vom bequem verdienten Geld an.  Am anderen Ende meldete sich eine äußerst seriös klingende Dame, geschätzt um die 50, die mich nach allerhand Beteuerungen, wie viele Studentinnen schon für sie arbeiteten, kurzerhand zum Vorstellungsgespräch einlud.

Weil Frauen sich nicht nur auf dem Klo zu zweit um einiges sicherer fühlen, suchte ich mir eine passende Begleitung für diesen Business-Termin und fand diese in Kathleen, der älteren Schwester von Herrn Müller, die mir damals schon als Modell in Sachen „Flexible Moral“ als geeignetes Vorbild erschien. Dass wir beide an diesem Nachmittag noch einen nicht unerheblichen Teil unserer so „unschuldigen Seele“ verlieren würden, war nur ein vages Gefühl beim Besteigen des von der Senior-Müllerin geborgten Kleinwagens.

Wir parkten im Hinterhof eines unscheinbaren und als Sonnenstudio deklarierten Häuschens am Rand der nächstgrößeren Stadt. Aufs Drücken der Klingel öffnete uns eine Frau im knappen weißen Kleidchen die Tür. Als sie voran die Treppe zum ersten Stock erklomm und dabei halterlose Strümpfe nicht als Frage, die sich dem Betrachter bestrumpfter Beine zuweilen stellt, wenn er die Phantasie schweifen lässt, sondern als Aussage zur Schau stellt, bekräftigt durch die Rocklänge, welche der Phantasie keinerlei Spielraum lässt, keimte ein Verdacht. Dieser erhärtete sich angesichts ihrer Absatzhöhe von mindesten 15 Zentimetern und dem bordeauxfarbenen Anstrich der Wände im Treppenhaus. Wenn wir zwei Mädels Blicke austauschten, dann immer aus einer Mischung von Erkenntnis, Verunsicherung und „wie gut dass ich nicht allein bin“.

Wir kamen an auf einem Flur, dessen schummriges Licht sowie die Deko aus Goldlüstern und knapp bekleideten Schaufensterpuppen wenig an eine Geschäftshaus erinnerte. Ute trat aus einer der vielen Seitentüren und wirkte körpersprachlich wie die stolze Königin beim Empfang auf ihrem herrschaftlichen Anwesen. Die bestrumpfte Frau, an deren Hintern ich mich besser erinnern kann als an ihr Gesicht, verschwand. Ute sah tatsächlich aus wie sie am Telefon geklungen hatte. Im schicken Kostümchen hätte man sie auch in eine Bank oder ein Versicherungsbüro beamen können. Sie führte uns in eines der vielen vom Flur abgehenden Zimmer. Die epochentypische Microfaser-Polster-Garnitur in Beige-Violett gab dem Raum keine wirkliche Definition.

Ute stellte sich ohne lange Umschweife vor als die Inhaberin der ersten Nachtclubs in Frauenhand. Sie hatte zuvor jahrelang für einen großen deutschen Verlag gearbeitet, erkannte dann ihre Nische im – nennen wir es Dienstleistungssektor und führte zu diesem Zeitpunkt mehrere Tanzbars und Massagestudios oder kurz: Bordelle. 

In dem sich aus diesem Selbst-Exposè entwickelnden Einstellungsgespräch erklärte sie uns sie wolle expandieren, sich zusätzlich den Hotline- und Webcam-Sektor erschließen und dafür brauchte sie natürlich Nachwuchs. Man müsse sich aber nicht festlegen, sie besetz jederzeit nahezu jede Tätigkeit in ihren Clubs neu bei Talent, Eignung und Interesse.

Da wäre zunächst natürlich der Job als Empfangsdame: sie empfängt wie der Name schon sagt die Kunden, zeigt ihnen die Räumlichkeiten und erklärt die Regeln (Duschen und Gummi), sofern es kein Stammkunde ist. Vorgeschriebene Arbeitsbekleidung: besagte Halterlose plus minimum 15cm Absätze plus breiter Gürtel. Aus heutiger Sicht für mich ein wirklich interessanter Job. Regeln erklären kann ich. Laufen auf Highheels auch. Die Einblicke ins Klientel der Besucherschaft wären mir das kleine Scham-Speckröllchen oberhalb des selbsthaftenden Spitzenrandes meiner Strümpfe wert. 

Dann gibt es die Massage-Ladys. Ute hatte als gestandene Businessfrau sicher ein Gefühl für die zwei Unschuldslämmer aus der Kleinstadt, die ihr in diesem Moment gegenüber saßen und erklärte es uns möglichst „vorabendprogrammtauglich“: ihr massiert die Kunden und tragt dabei selbstverständlich oben beschriebene Arbeitskleidung. Massieren ist dabei in diesem Stadium tatsächlich wörtlich und nicht zweideutig gemeint, wobei sicherlich kein Physiotherapie-Niveau erwartet wurde. Am Ende der Massage sind die meisten Männer schon gekommen, wenn nicht müsst ihr eben ein wenig nachhelfen. Also jetzt das "nicht-wörtliche" Massieren. Am Schluss der Stellenbeschreibung nannte sie eine Summe X, welche man in diesen 30 Minuten Arbeit verdient hat. Ich möchte an dieser Stelle nichts über Käuflichkeit und Moral schreiben, nur so viel: ich hätte dort in zwei Stunden mehr verdient als heute an einem Arbeitstag.

Plötzlich klopfte es und die Tür ging einen Spalt breit auf, herein schaute eine junge Frau im Look „Schwarze Witwe“. Sie fragte uns nach Getränkewünschen und eilt nach Aufnahme derer wieder davon. „Das war übrigens Lady Bella, unsere Domina.“ meinte Ute beiläufig. Erleuchtet schaut sie Kathleen plötzlich an: „Ich glaube für dich wäre das auch was. Du wirkst, als würdest du gerne Männer quälen.“ Da ist er wieder, der Blickaustausch. Lady Bella serviert uns den unschuldigen O-Saft und ich muss spontan an meinen Bruder denken, der für ein Bier in einem solchen Etablissement schon mal stolze 25 Mark bezahlt hatte während er auf die Rückkehr seines Kollegen am Tresen wartete. Ich bezahlte diesen Orangensaft wohl mit einem kleinen Teil meiner Würde, bekam dafür aber Einblicke in einen Bereich unserer Gesellschaft, die ich auch nicht missen möchte. Ich denke unsere individuellen Tellerränder können sehr verschieden sein. Meiner trug an diesem Tag halterlose Strümpfe....


Natürlich war mit dem Gratis-O-Saft der Spaß noch nicht vorbei. In Teil 2 leistet Ute viel Überzeugungsarbeit und fasziniert uns mit einer Betriebsführung vor und hinter den Kulissen. Welche Entdeckungen wir dort machten und vor allem ob unter den vielen Beschäftigungsoptionen in diesem Gewerbe etwas für uns dabei war, lest ihr im nächsten Blogartikel am 21.6.

Und noch was. Abonniert mich doch am besten. Hier oder
auf Facebook. Als Stammkunden
muss ich euch nicht jedes Mal den "Gummi und Duschen"-Vortrag halten. ;-)