Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 28. Februar 2018

AA und SM – Ayurvedischer Alkoholiker und Shaolin-Mutter

Kürzlich habe ich der Schwiegermüllerin eine Stunde lang erklärt, dass Depressionen eine chronische Krankheit sind, dass das Maß an Belastungen, welches bei jemandem zu krankhaftem Stress führt individuell verschieden ist, dass es kein Recht auf Gerechtigkeit gibt, dass sich niemand für uns ändert und wir daher nur selbst etwas ändern können und dass man das Fenster eben zu machen muss, wenn einem die Zugluft nicht gut tut.

Dabei habe ich hinsichtlich Geduld und aufgebrachten Einfühlungsvermögen angesichts ihrer Reaktionen nicht nur einen lebenslangen Vorrat an Karmapunkten gesammelt sondern auch festgestellt, dass ich meine fast sieben Jahre zurückliegenden Therapieziele  recht gut verinnerlicht habe. Beim Lesen des unten stehenden Artikels, der älter als ein Jahr ist, wurde mir allerdings einmal mehr klar, dass trotz aller Bemühungen Zugluft zu vermeiden, so manches Fenster einfach undicht ist... 



Ich denke, ich werde eine Kur beantragen. Wenn ich dann allein in meinem Klinik-Einbettzimmer mit Seeblick sitze, verspreche ich mindestens drei Wochen niemandem meiner Familie oder Freunde zu schreiben oder jemanden von ihnen anzurufen. Ich möchte niemanden belästigen, mit Problemen wie Heimweh, Blutdruck oder Windows-Updates. Ich möchte aber auch niemandem an meinem inneren und äußeren Restaurationsprozess unter ayurvedischen Bedingungen teilhaben lassen.

Es ist nur eine Mutmaßung, aber ich denke die Menschen die ihren und meinen zurückgelassenen Alltag bewältigen, haben nur wenig Zeit für meine „Probleme“.

Ich freue mich schon aufs massiert werden, aufs Körbe flechten, aufs Bootfahren und auf stundenlange Wanderungen. Vielleicht lese ich auch endlich mal wieder was - außer immer nur mich selbst.

Besonders freue ich mich auf Gesprächskreise mit fremden Frauen, deren Probleme so haarsträubend sind, dass sich meine in Glitzer auflösen. 
Ich denke, ich bringe zunächst alle in der Gruppe gegen mich auf mit der Aussage:
„Hallo, ich bin Frau Müller. Ich kann Kinder nicht leiden und ich denke es war falsch, meine Eigenen nie zu schlagen.“

Daran schließe ich einen Monolog an: 
„Versteht mich nicht falsch, ich bin grundsätzlich dagegen Kinder zu schlagen. Es ist ein Zeichen von Schwäche und Versagen, ein „Nicht mehr weiter wissen“. Aber sollte man Schwächen nicht auch mal zeigen dürfen. Ich bin Mutter und kein Shaolin-Mönch. Schüler darf ich nicht schlagen, das ist mir dienstlich verboten. Ich akzeptiere das, auch wenn es schwierig ist.

Mein großes Kind erzählte mir einmal, dass einer seiner Freunde von seinen Eltern mit einem Gürtel verprügelt wird. Nun, ich denke nicht, dass dieses Kind seiner Mutter jemals einen Brief mit den Worten „Ich mache nichts. Merk dir das!“ plus einem sorgfältig dazu gemalten Mittelfinger die Treppe runter entgegengeworfen hat.
Immerhin orthografisch nichts zu meckern

Seither ist das immer mein letztes Argument kurz vor dem Nervenzusammenbruch. „Willst du dass wir dich verprügeln? Ich denke dein Freund XY weigert sich nicht seine Mathe-Berichtigung zu machen.
Zum Glück machen jetzt alle erstmal einen großen Bogen um die Versager-Mutter mit Gewaltphantasien. So brauche ich keine unnötigen Pseudo-Freundschaften zu knüpfen, die höchstens eine Postkarte lang halten und ich habe noch mehr Zeit zum Lesen während der Kur.

Außerdem ist Grüppchenbildung hier ohnehin überflüssig, da Alkoholkonsum im Kurheim untersagt ist. Da trinke ich lieber heimlich allein. Kann mich wenigstens keiner verpetzen und abgeben muss ich auch nichts. Das verspricht unter diesen Bedingungen eine tolle Zeit zu werden.

Mit Müttern, die das Heulen anfangen weil sie nach fünf Jahren im Beruf Vollzeit-Mama ihre Rockzipfellutscher zum ersten Mal für zwei Stunden in einer Fremdbetreuung zurücklassen müssen, kann ich eh nicht viel anfangen. 
Da liegen sie dann bei der Progressiven Muskelentspannung auf der Matte, innerlich aufgewühlt wie das Nesthuhn ohne Brut und die Milch schießt ein, weil sie die räumliche Trennung von ihrem Vorschüler nicht verkraften.

Stellt sich nur die Frage: 
Wie ran kommen, an den ALL-INCLUSIVE-WELLNESS-LANGZEIT-VERWÖHN-Wahnsinn auf Kassenkosten? Man hört ja gelegentlich, dass ein positiver Kurbescheid so etwas wie der Heilige Gral unter gesetzlich Versicherten ist. Zugegeben, ich hatte schon mal eine. Das war vor gut zehn Jahren. 
Damals hatte ich den einjährigen Erstmüller dabei, trank alkoholfreien Sekt, trug Kordhosen und Tuniken und während unseres Aufenthalts im Mutterkind-Kurheim brach eine Magendarmgrippe-Virus herein. Damit endet die freudlose Geschichte. Rheinlandpfalz im Januar. Mutter-Kind-Kur. Schon die Eckdaten lassen maßlose Freudlosigkeit vermuten. Die Müllerkinder sind heute zum Glück schulpflichtig. Wie? In den Ferien fahren? WARUM?

Der Zustand meines Körpers entspricht weitgehend meinem Alter, die Gebrechen der mittelfristigen Vergangenheit sind Geschichte und außerdem ebenso unspektakulär wie nutzlos beim Rennen um die Kassenleistung "Kur".

Nur im Kopf setzt es immer mal wieder aus. Ist wohl berufsbedingt. Sowohl Schutz als auch Folge der Arbeit im Irrenhaus. Mein Problem ist, dass ich nur sehr selten den Mut aufbringe, mit meiner als „Schlechte-Laune-Müde-Kein-Bock-Auf-Gar-Nichts-zünd-mich-an-mit-nur-einem-falschen-Wort-Phase“ getarnten Depression zum Arzt zu gehen.

Wenn ich das täte, dann säße ich vermutlich circa alle vier Wochen heulend auf diesem Stuhl. Ist halt nicht so einfach zu sagen: 
„Herr Doktor, ich kann nicht mehr. Mir wächst das alles über den Kopf. Ich habe an nichts mehr Freude und zu gar nichts Lust. Ich bin scheiße zu meinem Mann. Meinen Kindern. Zu all den wenigen Menschen, die ich gern habe.“ 

"Ja", sagt der gute Herr Doktor, „wenn sie das IMMER machen würden, dann würden wir auch eine Kur für sie bekommen.“ 

Er kennt meinen erhöhten Alkoholkonsum, scheint ihn zumindest meistens medizinisch für tolerierbar zu halten und weiß, dass ich nur dann zu Antidepressiva greife, wenn ich noch nicht mal mehr Lust habe, Mittwochs nach sechs Stunden in meiner Klasse nachmittags im Einteiler auf dem Sofa eine Dose Prosecco zu trinken oder den Eierlikör im morgendlichen Milchkaffee verschmähe.

Aber anstatt zum Arzt zu gehen, baue ich um mein eingefrorenes Gesicht regelmäßig einen Kokon aus Bademantel und Sofadecke und überlasse Herrn Müller den Familienalltag. Ich feige Sau. (DANKE Herr Müller).

So dann, morgen ist ein neuer Tag. Wir beginnen den Schultag mit einem Bewegungslied und Frau Müller schwingt das Tamburin. Dazu singen wir irgendwas mit den Worten „Sonne, Freude, Schule und Spaß“. Genau kann ich es nicht sagen. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, mich selbst zu beobachten und dabei den Kotzreiz zu unterdrücken.


Depressive Episoden,
 lustige Bewegungslieder
 und Katja Saalfranks persönlichen Alptraum
 gibts nahezu täglich neu zu belauschen

 

Mittwoch, 21. Februar 2018

Lieber ein Kevin in der Hand als die Charlotte auf dem Dach: Von Mundraub, Kanalarbeiten und Melania Trump



Wichtiger Hinweis: Alle Namen wurden geändert (allerdings war ich um passende Äquivalente bemüht). Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen sind rein zufällig.
Im Mai stellte ich euch im Artikel „Cast of Absurdistan – Alle meine Äffchen“ meine Förderschulklasse vor, rund um den polizeibekannten Drittklässler Justin, der mir eine Fahrt im Streifenwagen einbrachte und Chantal, für die Melone ein Wort mit Ü ist und Dienstag ein Monat im Winter. In diesem Artikel kündigte ich tiefgreifende Veränderungen der intellektuellen Klassenlandschaft an. Kurz gesagt, im Einvernehmen mit den Eltern strebte ich den Wechsel von Chantal und zwei ihrer Leidensgenossen in den nächst niedrigeren Bildungsgang an, da alle drei Schüler auch am Ende der dritten Klasse noch nicht einmal Silben lesen konnten und Drei minus Zwei an den Fingern abzählten, sich dabei aber dennoch verrechneten.

Ich freute mich auf das kommende Schuljahr mit einer Klasse, die einem paralympischen Sprinter glich, der nun endlich die Gewichte an Fußgelenk und Prothese abgelegt hatte. Kurz vor den Ferien wurde ich plötzlich in die Chefetage/Drachenhöhle beordert.

Stellt euch vor, ihr erbt ein altes Haus. Es ist sehr baufällig, aber ihr erkennt eure Aufgabe und macht in mühevollster und schweißtreibender Arbeit einen Ort daraus, an dem man sich wohlfühlen kann. Ihr habt gerade die erste gelbe Plastiktasche bei IKEA mit Zierkissen, Teelichtern, Potpourri und Kakteen gefüllt, das Umzugsunternehmen ist beauftragt, da ereilt euch die Nachricht, dass jemand anderes in euer neu errichtetes Domizil einziehen wird und ihr -weil ihr das ja im ersten Durchgang sooo toll gemacht habt-  bekommt diesmal nicht ein altes, marodes Haus sondern einen Steinhaufen. Steine, keine Ziegel. Ihr müsst sie erst in Form klopfen, bevor ihr sie überhaupt zu einer Art Mauer aufeinander stapeln könnt….

"Frau Müller, ich weiß, sie haben ihre Klasse erst ein Jahr, viel Arbeit und Nerven investiert und eigentlich versuchen wir einen so frühen Wechsel zu vermeiden aber aus absolutem Mangel an Alternativen muss ich sie bitten, im neuen Schuljahr die Klasse Eins zu übernehmen."
In der auf diese Bitte folgenden Diskussion gebe ich mir keine Mühe meine Ablehnung hinsichtlich dieser bevorstehenden Aufgabe zu verbergen. Ältere Kollegen müssen geschützt werden, höre ich. Das mag sein. Und was ist mit den Kolleginnen X und Y?, versuche ich hilflos zu argumentieren. "Na Frau Müller, sie werden doch wohl verstehen, dass wir denen unmöglich die erste Klasse anvertrauen können." Okayyy, also nicht nur Senioren- sondern auch noch Idiotenschutz. Im Umkehrschluss macht die Vorgesetze aus einer Bitte eine Dienstanweisung. 
Mittlerweile steht ihr der Vizedrache bei und beide beteuern mir ihr schlechtes Gewissen angesichts dieser Nötigung. Nein, sage ich, ich fühle mich nicht genötigt, ich fühle mich vergewaltigt. Das, sagen sie, müsse man angesichts der prekären Personallage in Kauf nehmen, schließlich könne man einem Quereinsteiger mit Magister in Chemie doch keine Schulanfänger anvertrauen. Tja, da haben sie wohl recht und ich eindeutig die schlechteren Argumente. 
Tada – es verlässt die zukünftige Lehrerin der ersten Klasse das Chefbüro und man kann die Lehrerseelen hinter den verschlossenen Türen des Flures deutlich aufatmen hören: „Puh, zum Glück hat es mich nicht erwischt!“

Es fährt eine wütende Frau Müller nach Hause und freut sich plötzlich so gar nicht mehr auf die Sommerferien, die damit enden werden, dass sie einer Schar Schulanfänger ihre bunten Krepppapiermonster in Form einer mehrseitigen Pyramide in die Hand drückt während Väter in Cargohosen und Kurzarmhemden mit Trauerkrawatte Ungelogen! mit ihrem Smartphone Fotos vom Stammhalter, der während des 20minutigen Programms fünfzehnmal gefragt hat, wie lange das noch dauert und der kindgerecht lächelnden Frau Müller schießen. Die Mütter ziehen sich im Hintergrund unterdessen die Highheels mit dem Preisschild an der Sohle wieder an, die sie auf den Treppen zur Aula mangels grobmotorischer Qualitäten zum Führen eines solchen Schuhwerks vorsorglich ausgezogen hatten. 
Knipps – und noch ein Gruppenfoto. Zehn Augenpaare über einem quietschbunten Zuckertütenaufbau, die umgedrehten Pyramiden haben jetzt Füße und Frau Müller vom vielen Lächeln mittlerweile Fliegen zwischen den Zähnen. Dabei fühlt sie sich wie eine Melania Trump, nur dass ihr Donald aussieht wie eine Traube fies bedruckter Zuckertüten mit Schuhen in Kindergrößen und Haarschöpfen über gigantischen Satinbandrosetten.
 
Wer sagt eigentlich, dass immer nur die Schüler Zuckertüten zum Schulanfang bekommen??? In die Mini-Tüte passt mindestens ein Schnäpschen!

Erinnert ihr euch noch an das Casting „Deutschland sucht den SuperKEVIN“ im Frühjahr diesen Jahres? Auf Facebook ließ ich euch teilhaben an vier Tagen Vorschulunterricht zur Sichtung der potentiellen Schulanfänger unseres Bildungsinstituts für „Langsamlerner“:


Hinter mir liegt der erste von vier "Casting"Tagen bei "Deutschland sucht den SuperKEVIN" zum Zwecke der Nachwuchsgewinnung in der Förderschulbranche. Kurz: Probeunterricht der Schulanfänger.
HIGHLIGHT heute:
Max - 6 Jahre: "Du bist ein Arschloch!"
(Also ICH war das Arschloch, nachdem ich ihn zur Mitarbeit aufgefordert habe mit der Begründung, dass Kinder, die nicht mitmachen auch nicht in die Schule kommen.)
Ich: "Wer lernt dir denn solche Wörter?"
Max: "Das geht dich nichts an!"
(Und ein fröhliches "Fick dich!" zum Sitznachbarn)
Immerhin spricht Max in ganzen Sätzen. Wir sollen ressourcenorientiert denken.

Highlights von Tag 3 des Kevin-Castings:
Jamie (6)der während der Grobmotorik-Lektion nach der Aufforderung "Krieche unter der Bank durch!" zielstrebig auf die geschlossene schmale Seite der Bank zukriecht...

Und Shanaya (6) die das Bild des MiniMüllers an meinem Schlüssel entdeckt und meint:
"Das is mein Bruder!"
Äääääh okayyyy?


Resümee nach vier Tagen "Deutschland sucht den SuperKEVIN" - Probeunterricht der Schulanfänger:
Von acht Castingteilnehmern kommen vier in den Recall. Drei schicken wir zu Popstars bei RTL2 - also in die Schule mit noch niedrigerem Bildungsweg und ein Teilnehmer musste auf Drängen der Jury noch vor Ende des Castings von Sicherheitskräften (seinem Vater) entfernt werden. Ihr erinnert euch sicher an "Du bist ein Arschloch"-Max...
Was bleibt sind die Erkenntnisse,
... dass Kinder immer dümmer und Eltern immer frecher werden...
... dass die Schulleiterin ne hohle Nuss mit Schreibtischhorizont ist
... und dass ich den Schulpsychologen dank seiner Aussage "DAS zu loben würde MIR auch schwer fallen." sehr sehr sehr sympathisch finde.


Keine Kerze auf dem Kuchen schien wirklich hell und so entschied man sich für die Kerzen, die sich zumindest noch anzünden ließen, wenn sie auch nur müde vor sich hin glommen. Wir sprechen von IQ-Werten um die 70 und einem Schulpsychologen, der sichtlich geschockt war angesichts einer so großen Gruppe mit so wenig bildbarer Masse. 

Als das Casting als abgeschlossen galt und feststand, welche zukünftigen Vollzeitmütter und Arbeitsuchenden mit Premiumaccount bei CandyCrush demnächst auf den Ministühlen in dem Zimmer, welches der Schultüre am nächsten liegt, Platz nehmen sollten, war mir -damals noch als „Jury-Mitglied“- nicht klar, dass ich die kleinen (K)Einsteins demnächst täglich mehrere Stunden ertragen muss. 

Und so fügten sich in sechs langen Ferienwochen Erinnerungen der Vergangenheit mit den Vorahnungen der Zukunft zu einem unbehaglichen Puzzle zusammen. All das überlagert vom schmerzlichen Verlust einer Klasse, die mir nach dem im vergangenen Schuljahr durchlaufenen Umformungsprozess ein überaus komfortables Arbeiten versprochen hätte.

So langsam beginne ich mich nun unter meinen neuen Arbeitsbedingungen zu akklimatisieren, wie Polizeitaucher im Neoprenanzug bei der Suche nach Leichenteilen im dünn überfrorenen Weiher an einem Morgen im Januar. Professionalität steht über den Befindlichkeiten. Dass meine Arbeit oft auch vieles mit der eines Kanalarbeiters gemeinsam hat wurde mir neuerlich klar. Bisher sah ich nur Parallelen beim Korrigieren, also sich durch Scheiße wühlen. Heute denke ich außerdem, dass ich mich ebenso wie der Experte für Abwasserbeseitigung, mit fortdauernder Tätigkeit an die widrigen Umstände meines Arbeitsumfeldes gewöhne. 

Fabian schenkt den Spuckefäden zwischen seinen Fingern generell mehr Aufmerksamkeit als meinem didaktischen Feuerwerk. Ich erkenne aber durchaus Kompetenzzuwachs wenn es ihm gelingt, seine Körperflüssigkeiten aus Mund und Nase ausschließlich zwischen seinen Fingerspitzen zu jonglieren und er nicht versucht, die Speichelpfützen auf seinen Blättern durch intensives Reiben zu beseitigen bis ein Loch entsteht. 

Carsten hat noch Schwierigkeiten fremdes Eigentum zu achten, daher halte ich die Kinder fortwährend an, ihre Brotbüchsen zu verschließen wenn diese unbeaufsichtigt auf den Tischen liegen. Carsten schmecken die Minitomaten und Kinderwürstchen der anderen einfach besser als Muttis Milchschnitte.

Auch nach vier Wochen Unterricht wiederholen wir täglich unsere Namen, damit Shanaia nicht mehr fragen muss: „Duuu, Lehrerin, wie heißt duuu?“ 

Justin – ja, richtig, wieder ein Justin, Justins sind das Glutamat einer Förderschulklasse – bevorzugt die Antwort „Auf keinen Fall!“ auf jede meiner Aufforderungen. Macht sich meinerseits Unmut breit heißt es: „Du bist gemein – das sag ich meiner Mutti!“ kombiniert mit einer Körpersprache, die keinen Zweifel an seinem momentanen Hass mir gegenüber aufkommen lässt. Auf Shanaia ist allerdings Verlass: „Ist die gaaar nicht! Die ist liiieb!“

Tim kann rot und gelb nicht von grün und blau unterscheiden, sitzt Sprechaufgaben gerne schweigend aus und beherrscht nur den mit fordernder Stimme mehrmals täglich angewendeten Satz: „Ich brauch mal Hilfe!“ grammatikalisch korrekt.

Wir lernen viel. Die Kinder lernen Farben, Formen, Rechts und Links, Oben und Unten genauso wie das Halten und Führen eines Bleistifts oder die Benutzung einer Schere. Auch, dass ein Leimstift nicht schmeckt. Alle lernten für einen Vormittag, dass es in deutschen Mittelgebirgs-Mischwäldern keine Schildkröten gibt.Und während ICH lerne, Fabian die Schuhe nicht nur zuzubinden sondern auch gleich noch anzuziehen, packt er mit geschickten Fingern binnen einem Sekundenbruchteil den Babybel in seiner Brotdose aus.

Was bleibt ist die Sehnsucht, wenn Jerome aka Gollum vom Schicksalsberg nach Unterrichtschluss in meiner Klassenzimmertür steht und sagt: "Aww, Frau Mülla, iss vermiss diss!"
Ich muss nun nur noch lernen, dass das Ende einer Förderstunde in dem alle Schüler und die Lehrerin jedem einzelnen Kind sagen, was sie an ihm mögen, nicht zur Improvisation geeignet ist und seitens des Lehrers gut vorbereitet werden sollte um längere Denkpausen zu vermeiden. Gebt mir noch ein paar Monate Eingewöhnungszeit für ein ausführliches Klassenporträt à la "Cast of Absurdistan - Part II".

wenn Frau Müllers Berufs-ICH eins wird: mit Nutella an Nasespitzen, vollgesabberten Bleistiften und dauerverklemmten Reißverschlüssen.