Wichtiger Hinweis: Alle Namen wurden geändert (allerdings war ich um passende Äquivalente bemüht). Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen sind rein zufällig.
Im Mai stellte ich euch im
Artikel „Cast of Absurdistan – Alle meine Äffchen“ meine Förderschulklasse vor,
rund um den polizeibekannten Drittklässler Justin, der mir eine Fahrt im Streifenwagen einbrachte und Chantal, für die Melone ein Wort mit Ü ist und
Dienstag ein Monat im Winter. In diesem Artikel kündigte ich tiefgreifende
Veränderungen der intellektuellen Klassenlandschaft an. Kurz gesagt, im Einvernehmen
mit den Eltern strebte ich den Wechsel von Chantal und zwei ihrer
Leidensgenossen in den nächst niedrigeren Bildungsgang an, da alle drei Schüler
auch am Ende der dritten Klasse noch nicht einmal Silben lesen konnten und Drei minus Zwei an den Fingern abzählten, sich dabei aber
dennoch verrechneten.
Ich freute mich auf das
kommende Schuljahr mit einer Klasse, die einem paralympischen Sprinter glich,
der nun endlich die Gewichte an Fußgelenk und Prothese abgelegt hatte. Kurz vor den Ferien
wurde ich plötzlich in die Chefetage/Drachenhöhle beordert.
Stellt euch vor, ihr erbt
ein altes Haus. Es ist sehr baufällig, aber ihr erkennt eure Aufgabe und macht
in mühevollster und schweißtreibender Arbeit einen Ort daraus, an dem man sich
wohlfühlen kann. Ihr habt gerade die erste gelbe Plastiktasche bei IKEA mit
Zierkissen, Teelichtern, Potpourri und Kakteen gefüllt, das Umzugsunternehmen ist beauftragt, da ereilt euch die
Nachricht, dass jemand anderes in euer neu errichtetes Domizil einziehen wird
und ihr -weil ihr das ja im ersten Durchgang sooo toll gemacht habt- bekommt diesmal nicht ein altes, marodes Haus sondern einen Steinhaufen.
Steine, keine Ziegel. Ihr müsst sie erst in Form klopfen, bevor ihr sie
überhaupt zu einer Art Mauer aufeinander stapeln könnt….
"Frau Müller, ich weiß, sie
haben ihre Klasse erst ein Jahr, viel Arbeit und Nerven investiert und eigentlich versuchen wir einen so frühen
Wechsel zu vermeiden aber aus absolutem Mangel an Alternativen muss ich sie
bitten, im neuen Schuljahr die Klasse Eins zu übernehmen."
In der auf diese Bitte
folgenden Diskussion gebe ich mir keine Mühe meine Ablehnung hinsichtlich
dieser bevorstehenden Aufgabe zu verbergen. Ältere Kollegen müssen geschützt
werden, höre ich. Das mag sein. Und was ist mit den Kolleginnen X und Y?, versuche ich hilflos zu argumentieren. "Na Frau
Müller, sie werden doch wohl verstehen, dass wir denen unmöglich die erste
Klasse anvertrauen können." Okayyy, also nicht nur Senioren- sondern auch noch
Idiotenschutz. Im Umkehrschluss macht die Vorgesetze aus einer Bitte eine
Dienstanweisung.
Mittlerweile steht ihr der Vizedrache bei und beide beteuern
mir ihr schlechtes Gewissen angesichts dieser Nötigung. Nein, sage ich, ich
fühle mich nicht genötigt, ich fühle mich vergewaltigt. Das, sagen sie, müsse
man angesichts der prekären Personallage in Kauf nehmen, schließlich könne man
einem Quereinsteiger mit Magister in Chemie doch keine Schulanfänger
anvertrauen. Tja, da haben sie wohl recht und ich eindeutig die schlechteren
Argumente.
Tada – es verlässt die zukünftige Lehrerin der ersten Klasse das Chefbüro und man kann die Lehrerseelen hinter den verschlossenen Türen des Flures deutlich aufatmen hören: „Puh, zum Glück hat es mich nicht erwischt!“
Tada – es verlässt die zukünftige Lehrerin der ersten Klasse das Chefbüro und man kann die Lehrerseelen hinter den verschlossenen Türen des Flures deutlich aufatmen hören: „Puh, zum Glück hat es mich nicht erwischt!“
Es fährt eine wütende Frau
Müller nach Hause und freut sich plötzlich so gar nicht mehr auf die
Sommerferien, die damit enden werden, dass sie einer Schar Schulanfänger ihre
bunten Krepppapiermonster in Form einer mehrseitigen Pyramide in die Hand
drückt während Väter in Cargohosen und Kurzarmhemden mit Trauerkrawatte Ungelogen! mit ihrem Smartphone Fotos vom Stammhalter, der während des
20minutigen Programms fünfzehnmal gefragt hat, wie lange das noch dauert und der
kindgerecht lächelnden Frau Müller schießen. Die Mütter ziehen sich im
Hintergrund unterdessen die Highheels mit dem Preisschild an der Sohle wieder an, die sie auf den Treppen zur
Aula mangels grobmotorischer Qualitäten zum Führen eines solchen Schuhwerks
vorsorglich ausgezogen hatten.
Knipps – und noch ein Gruppenfoto. Zehn
Augenpaare über einem quietschbunten Zuckertütenaufbau, die umgedrehten
Pyramiden haben jetzt Füße und Frau Müller vom vielen Lächeln mittlerweile
Fliegen zwischen den Zähnen. Dabei fühlt sie sich wie eine Melania Trump, nur
dass ihr Donald aussieht wie eine Traube fies bedruckter Zuckertüten mit
Schuhen in Kindergrößen und Haarschöpfen über gigantischen Satinbandrosetten.
Wer sagt eigentlich, dass immer nur die Schüler Zuckertüten zum Schulanfang bekommen??? In die Mini-Tüte passt mindestens ein Schnäpschen! |
Erinnert ihr euch noch an
das Casting „Deutschland sucht den SuperKEVIN“ im Frühjahr diesen Jahres? Auf
Facebook ließ ich euch teilhaben an vier Tagen Vorschulunterricht zur Sichtung der
potentiellen Schulanfänger unseres Bildungsinstituts für „Langsamlerner“:
Hinter mir
liegt der erste von vier "Casting"Tagen bei "Deutschland sucht
den SuperKEVIN" zum Zwecke der Nachwuchsgewinnung in der
Förderschulbranche. Kurz: Probeunterricht der Schulanfänger.
HIGHLIGHT heute:
Max - 6 Jahre: "Du bist ein Arschloch!"
(Also ICH war das Arschloch, nachdem ich ihn zur Mitarbeit aufgefordert habe mit der Begründung, dass Kinder, die nicht mitmachen auch nicht in die Schule kommen.)
Ich: "Wer lernt dir denn solche Wörter?"
Max: "Das geht dich nichts an!"
(Und ein fröhliches "Fick dich!" zum Sitznachbarn)
Immerhin spricht Max in ganzen Sätzen. Wir sollen ressourcenorientiert denken.
HIGHLIGHT heute:
Max - 6 Jahre: "Du bist ein Arschloch!"
(Also ICH war das Arschloch, nachdem ich ihn zur Mitarbeit aufgefordert habe mit der Begründung, dass Kinder, die nicht mitmachen auch nicht in die Schule kommen.)
Ich: "Wer lernt dir denn solche Wörter?"
Max: "Das geht dich nichts an!"
(Und ein fröhliches "Fick dich!" zum Sitznachbarn)
Immerhin spricht Max in ganzen Sätzen. Wir sollen ressourcenorientiert denken.
Highlights
von Tag 3 des Kevin-Castings:
Jamie (6)der während der Grobmotorik-Lektion nach der Aufforderung "Krieche unter der Bank durch!" zielstrebig auf die geschlossene schmale Seite der Bank zukriecht...
Und Shanaya (6) die das Bild des MiniMüllers an meinem Schlüssel entdeckt und meint:
"Das is mein Bruder!"
Äääääh okayyyy?
Jamie (6)der während der Grobmotorik-Lektion nach der Aufforderung "Krieche unter der Bank durch!" zielstrebig auf die geschlossene schmale Seite der Bank zukriecht...
Und Shanaya (6) die das Bild des MiniMüllers an meinem Schlüssel entdeckt und meint:
"Das is mein Bruder!"
Äääääh okayyyy?
Resümee
nach vier Tagen "Deutschland sucht den SuperKEVIN" - Probeunterricht
der Schulanfänger:
Von acht Castingteilnehmern kommen vier in den Recall. Drei schicken wir zu Popstars bei RTL2 - also in die Schule mit noch niedrigerem Bildungsweg und ein Teilnehmer musste auf Drängen der Jury noch vor Ende des Castings von Sicherheitskräften (seinem Vater) entfernt werden. Ihr erinnert euch sicher an "Du bist ein Arschloch"-Max...
Was bleibt sind die Erkenntnisse,
... dass Kinder immer dümmer und Eltern immer frecher werden...
... dass die Schulleiterin ne hohle Nuss mit Schreibtischhorizont ist
... und dass ich den Schulpsychologen dank seiner Aussage "DAS zu loben würde MIR auch schwer fallen." sehr sehr sehr sympathisch finde.
Von acht Castingteilnehmern kommen vier in den Recall. Drei schicken wir zu Popstars bei RTL2 - also in die Schule mit noch niedrigerem Bildungsweg und ein Teilnehmer musste auf Drängen der Jury noch vor Ende des Castings von Sicherheitskräften (seinem Vater) entfernt werden. Ihr erinnert euch sicher an "Du bist ein Arschloch"-Max...
Was bleibt sind die Erkenntnisse,
... dass Kinder immer dümmer und Eltern immer frecher werden...
... dass die Schulleiterin ne hohle Nuss mit Schreibtischhorizont ist
... und dass ich den Schulpsychologen dank seiner Aussage "DAS zu loben würde MIR auch schwer fallen." sehr sehr sehr sympathisch finde.
Als das Casting als abgeschlossen
galt und feststand, welche zukünftigen Vollzeitmütter und Arbeitsuchenden mit Premiumaccount bei CandyCrush demnächst auf den Ministühlen in dem Zimmer,
welches der Schultüre am nächsten liegt, Platz nehmen sollten, war mir -damals
noch als „Jury-Mitglied“- nicht klar, dass ich die kleinen (K)Einsteins
demnächst täglich mehrere Stunden ertragen muss.
Und so fügten sich in sechs
langen Ferienwochen Erinnerungen der Vergangenheit mit den Vorahnungen der
Zukunft zu einem unbehaglichen Puzzle zusammen. All das überlagert vom
schmerzlichen Verlust einer Klasse, die mir nach dem im vergangenen Schuljahr
durchlaufenen Umformungsprozess ein überaus komfortables Arbeiten versprochen
hätte.
So langsam beginne ich mich
nun unter meinen neuen Arbeitsbedingungen zu akklimatisieren, wie
Polizeitaucher im Neoprenanzug bei der Suche nach Leichenteilen im dünn
überfrorenen Weiher an einem Morgen im Januar. Professionalität steht über den
Befindlichkeiten. Dass meine Arbeit oft auch vieles mit der eines Kanalarbeiters
gemeinsam hat wurde mir neuerlich klar. Bisher sah ich nur Parallelen beim
Korrigieren, also sich durch Scheiße wühlen. Heute denke ich außerdem, dass ich
mich ebenso wie der Experte für Abwasserbeseitigung, mit fortdauernder Tätigkeit
an die widrigen Umstände meines Arbeitsumfeldes gewöhne.
Fabian schenkt den
Spuckefäden zwischen seinen Fingern generell mehr Aufmerksamkeit als meinem didaktischen Feuerwerk. Ich erkenne aber durchaus Kompetenzzuwachs wenn es ihm
gelingt, seine Körperflüssigkeiten aus Mund und Nase ausschließlich zwischen seinen
Fingerspitzen zu jonglieren und er nicht versucht, die Speichelpfützen auf
seinen Blättern durch intensives Reiben zu beseitigen bis ein Loch entsteht.
Carsten hat noch Schwierigkeiten fremdes Eigentum zu achten, daher halte ich
die Kinder fortwährend an, ihre Brotbüchsen zu verschließen wenn diese
unbeaufsichtigt auf den Tischen liegen. Carsten schmecken die Minitomaten und
Kinderwürstchen der anderen einfach besser als Muttis Milchschnitte.
Auch nach vier Wochen
Unterricht wiederholen wir täglich unsere Namen, damit Shanaia nicht mehr
fragen muss: „Duuu, Lehrerin, wie heißt duuu?“
Justin – ja, richtig, wieder
ein Justin, Justins sind das Glutamat einer Förderschulklasse – bevorzugt die
Antwort „Auf keinen Fall!“ auf jede meiner Aufforderungen. Macht sich
meinerseits Unmut breit heißt es: „Du bist gemein – das sag ich meiner Mutti!“
kombiniert mit einer Körpersprache, die keinen Zweifel an seinem momentanen
Hass mir gegenüber aufkommen lässt. Auf Shanaia ist allerdings Verlass: „Ist die
gaaar nicht! Die ist liiieb!“
Tim kann rot und gelb nicht
von grün und blau unterscheiden, sitzt Sprechaufgaben gerne schweigend aus und
beherrscht nur den mit fordernder Stimme mehrmals täglich angewendeten Satz: „Ich
brauch mal Hilfe!“ grammatikalisch korrekt.
Wir lernen viel. Die Kinder
lernen Farben, Formen, Rechts und Links, Oben und Unten genauso wie das Halten
und Führen eines Bleistifts oder die Benutzung einer Schere. Auch, dass ein Leimstift nicht schmeckt. Alle lernten für
einen Vormittag, dass es in deutschen Mittelgebirgs-Mischwäldern keine
Schildkröten gibt.Und während ICH lerne, Fabian die Schuhe nicht nur zuzubinden
sondern auch gleich noch anzuziehen, packt er mit geschickten Fingern binnen einem
Sekundenbruchteil den Babybel in seiner Brotdose aus.
Was bleibt ist die Sehnsucht, wenn Jerome aka Gollum vom Schicksalsberg nach Unterrichtschluss in meiner Klassenzimmertür steht und sagt: "Aww, Frau Mülla, iss vermiss diss!"
Ich muss nun nur noch lernen,
dass das Ende einer Förderstunde in dem alle Schüler und die Lehrerin jedem
einzelnen Kind sagen, was sie an ihm mögen, nicht zur Improvisation geeignet
ist und seitens des Lehrers gut vorbereitet werden sollte um längere
Denkpausen zu vermeiden. Gebt mir noch ein paar Monate Eingewöhnungszeit für ein ausführliches Klassenporträt à la "Cast of Absurdistan - Part II".
Verpasst nichts und abonniert mich auf Facebook um dabei zu sein,
wenn Frau Müllers Berufs-ICH eins wird: mit Nutella an Nasespitzen, vollgesabberten Bleistiften und dauerverklemmten Reißverschlüssen.
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