Es gibt kaum einen Ort, an den ich mich nicht traue - Neugier, Gutmütigkeit (soll vereinzelt vorkommen),schlichte Blauäugigkeit oder notfalls Recherche - die Gründe sind verschieden. Schachturniere, SM-Schlösser, Gottesdienste, Homopartys, Swingerclubs, martialische Fitnesskurse… Sogar ein Vorstellungsgespräch samt Betriebsführung im Bordell hatte ich. Heute erzähle ich euch vom mit Abstand seltsamsten Ort, an dem ich mich bisher aufhielt. Bedankt euch bei Herrn Müller.
Unter
allen scheinpädophilen Schachtrainern, masochistischen Frauen und ihren
seriösen Sadisten, Pfarrern, Transen, Studenten der Geisteswissenschaften und
Puffmüttern (mit ehemaliger Führungsposition bei Bertelsmann) habe ich
niemanden kennengelernt der mir so suspekt war, wie Vertriebsmitarbeiter unter
sich. Ich denke Firmen mit Vertriebssystemen sind Sekten in seriösen Kostümchen.
Wenn
mich zwischen Weihnachten und Neujahr das schlechte Gewissen packt und ich mich
ekelhaft, fett und steinalt fühle, gehe ich laufen. Das tue ich regelmäßig - einmal im Jahr. Meine Kondition gleicht daher
der einer 85 Jahre alten, 120 Kilo schweren ehemaligen Kettenraucherin.
Kurz
vor dem Herz-Kreislauf-Versagen versucht mich Herr Müller immer zu motivieren.
Und dann hasse ich ihn. Dieses angewiderte Halt-deine-Fresse-Gefühl empfinde
ich heute den ganzen Abend, während ich gezwungen bin, den beiden
erfolgsverwöhnten Mitzwanziger-Geschäftsführern zuzuschauen, wie sie sich gegenseitig verbal
einen runterholen.
Mir
macht das Kopfschmerzen (kann aber auch das Parfüm meiner Tischnachbarin sein).
Ich sitze Freitagnachmittag knapp zwei Stunden auf einem Stuhl, vor mir Saft
und stilles Wasser. Mit dröhnendem Schädel und Hunger höre ich nicht enden
wollende Selbstbeweihräucherung, Motivationsmantras und Produktpräsentationen.
Wenn
man die Bratpfanne nur heroisch genug ankündigt rastet die Freakshow in Anzügen
förmlich aus. Aber der Hammer kommt erst noch. Wir verkaufen ja nicht
irgendeine Bratpfanne. Wir – und nur wir – verkaufen die Bratwurst-Bratpfanne.
Die kann etwas, das kann keine andere Bratpfanne. Sie kann – Achtung, es kommt
gleich – Bratwürste braten.
Wenn
jemand eine Pfanne zum Bratwurstbraten kaufen will und er die Wahl hat zwischen
einer profanen Pfanne und einer Bratwurstbratpfanne, für welche Pfanne wird er
sich wohl entscheiden? Natürlich für die Bratwurst-Bratpfanne, denn er kann gar
nicht anders. Gleich springen alle aus ihren Anzügen vor Begeisterung
(natürlich ging es nicht um Bratpfannen aber man könnte jedes andere Produkt
von ähnlicher Weltbedeutung einsetzen).
Und
weil diese Bratpfannen-Verkäufer, entschuldigt Bratwurst-Bratpfannen-Verkäufer
so erfolgreich im Bratwurst-Bratpfannen-Verkauf sind, schenkt ihnen die
Geschäftsleitung Urkunden, Plexiglas-Klötzer mit Firmenlogos und -Obacht- eine
eigene Hymne. Ein wirklicher Gänsehaut-Moment.
Nachdem
ich also diesen Business-Hengsten, Betriebsphilosophen und Motivationsgurus bei
ihrem Onanie-Akt zugehört hatte, hob sich der Vorhang über dem Pausenbuffet
verheißungsvoll. Nach unglaublichen Erfolgsstories und steigenden Umsätzen in
Rekordzeit meint man etwas Großes erwarten zu dürfen.
Der
inoffizielle Arbeitstitel „Viel Lärm um nichts“ wiederholt sich jedoch hinter
diesem Vorhang. Kekse, es gibt Kekse, ganz ordinäres Sandgebäck, teilweise
marmoriert. Dafür habe ich mir die Haare gekämmt, ein Kleid und Absatzschuhe
angezogen (in denen ich jetzt auch noch für KEEEEKSE anstehen muss)!!! Wenn
ich nur nicht solchen Hunger hätte.
Wenn harte Arbeit Früchte trägt |
Nach
dieser Pause zur Überlebenssicherung geht es ähnlich spannungsgeladen weiter.
Der Stargast des Tages, ein Bergsteiger der auf einer unfassbaren gefährlichen
Mission Unfassbares erreichte, gibt dem Motto des Abends ein Gesicht und
referiert ebenfalls knapp zwei Stunden über riesige verplemperte Geldbeträge,
abgefrorene Füße und Hochgebirgskacken - umrahmt von noch mehr
Motivationsgelaber à la „Keiner interessiert sich für den Weg – allein das Ziel
zählt“.
Der
Pädagoge in mir möchte schon nach zwanzig Minuten Stillsitzen von seinem
Sitznachbarn mit dem Igelball massiert werden oder zu einem Bewegungslied mit
dem Tamburin singen und tanzen. Ich schau mich im Saal um und sehe gebannt
zuhörende Verkaufstalente, die die Worte ähnlich dörrer Naturschwämme in sich
aufsaugen.
Dazwischen
vereinzelt Angehörige die wie ich auch gegen Hunger, Müdigkeit und
Steißbein-Embolie kämpfen. Spontan überlege ich eine Selbsthilfegruppe für
Familienangehörige von Vertrieblern zu gründen.
Endlich
gibt es was zu essen -keine Kekse- und vor allem gibt es endlich Alkohol. Ich wollte
zwischendurch schon googlen, wieviel Apfelsaft man trinken muss um betrunken zu
sein. Im Halbdunkel versuche ich an einem Stehtisch unterzutauchen und beobachte diese Wirtschafts-Strategen.
Nebenbei versuche ich meine Kopfschmerzen weg zu ignorieren.
Immer
wenn ich denke, ja – jetzt wird es besser, stellt sich jemand neben mich und
nötigt mir Gesprächsbereitschaft ab. ‚Herr Müller ist ein ganz Toller‘, sagen
sie und wie ich es hier finde wollen sie wissen. Ich antworte immer das
gleiche: "Irgendwie freaky das Ganze hier". Angewiderte Faszination. Wie Autobahnunfallgaffen für Menschen ohne Führerschein.
Mit
vollem Magen und ausgestattet mit einem gesunden Pegel Blutalkohol bin ich mental knapp
bereit für den dritten Teil des Abends, das Highlight. Wenn ich die Augen
schließe, dreht sich mein Stuhl… Huiiiii.
Dem
klugen Kopf hinter dem Veranstaltungskonzept gelingt es tatsächlich die Gruppen-Masturbation
aus Teil eins mit der Gipfelbesteigung aus Teil zwei zu verknüpfen und so
werden wir alle Teil der firmeneigenen Expedition und klinken uns ein in das
selbst geknüpfte Seil aus Teamspirit, Kampfgeist und Wille zu Anstrengung und
Erfolg.
Auf der Leinwand in
Sepia und SlowMotion präsentierte Colgate-Gesichter, hinter denen die Nebelmaschine Charisma und Kampfgeist sichtbar macht, werden per
Conquest of Paradies zur unversichtbaren Reisebegleitung aufgewertet.
"Herr!"
denke ich, "reiß die Erde auf und verschling mich oder ich kotze jetzt gleich
auf meine hübschen Schuhe!". Meine Freundin Sarah schreibt mir, dass sie einen
Pickel auf dem Rücken hat. Ich soll kommen und ihn ausdrücken. Das würde ich jetzt so viel
lieber tun.
Was
dann folgt, ist der menschliche Teil der Veranstaltung. Endlich sind alle
betrunken. Auf dem Klo höre ich den Chef ins Mikrophon singen. Er ist der DJ
des Abends. Zum Glück ist er Geschäftsführer geworden.
Der Abend endet für mich
als ich kurz nach Mitternacht zur Bar wanke und mir vernünftigerweise ein
Wasser bestelle. Der Barkeeper weist mich darauf hin, dass ich mein Getränk nun
selbst zahlen müsse. Das sei der Wunsch der Geschäftsleitung. Ich antworte „Lieber verdurste ich“ und gehe.
Als
ich am nächsten Morgen aufwache, hat mein Körper spontan angefangen zu
menstruieren. Ich denke, er möchte sich von innen reinigen. Heute werde ich MICH
mal feiern, denke ich und fange direkt damit an.
Im Einteiler sitze ich
ungekämmt am Küchentisch und gieße mir Eierlikör in den Milchkaffee. Zum Glück
sind Lehrer nicht so furchtbar erfolgreich, um dauernd einen Grund zum Feiern zu
haben.
Achtung: Mitgliedsanträge für die Selbsthilfegruppe, sowie vertrauliche Seelsorge für Aussteiger gibt es GRATIS zum Abo von Frau Müller auf Facebook hier.
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