Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 25. April 2018

Bratpfannen, Gruppen-Masturbation und Gipfelscheißer


Es gibt kaum einen Ort, an den ich mich nicht traue - Neugier, Gutmütigkeit (soll vereinzelt vorkommen),schlichte Blauäugigkeit oder notfalls Recherche - die Gründe sind verschieden. Schachturniere, SM-Schlösser, Gottesdienste, Homopartys, Swingerclubs, martialische Fitnesskurse… Sogar ein Vorstellungsgespräch samt Betriebsführung im Bordell hatte ich. Heute erzähle ich euch vom mit Abstand seltsamsten Ort, an dem ich mich bisher aufhielt. Bedankt euch bei Herrn Müller.


Unter allen scheinpädophilen Schachtrainern, masochistischen Frauen und ihren seriösen Sadisten, Pfarrern, Transen, Studenten der Geisteswissenschaften und Puffmüttern (mit ehemaliger Führungsposition bei Bertelsmann) habe ich niemanden kennengelernt der mir so suspekt war, wie Vertriebsmitarbeiter unter sich. Ich denke Firmen mit Vertriebssystemen sind Sekten in seriösen Kostümchen.


Wenn mich zwischen Weihnachten und Neujahr das schlechte Gewissen packt und ich mich ekelhaft, fett und steinalt fühle, gehe ich laufen. Das tue ich regelmäßig -  einmal im Jahr. Meine Kondition gleicht daher der einer 85 Jahre alten, 120 Kilo schweren ehemaligen Kettenraucherin.


Kurz vor dem Herz-Kreislauf-Versagen versucht mich Herr Müller immer zu motivieren. Und dann hasse ich ihn. Dieses angewiderte Halt-deine-Fresse-Gefühl empfinde ich heute den ganzen Abend, während ich gezwungen bin, den beiden erfolgsverwöhnten Mitzwanziger-Geschäftsführern  zuzuschauen, wie sie sich gegenseitig verbal einen runterholen.


Mir macht das Kopfschmerzen (kann aber auch das Parfüm meiner Tischnachbarin sein). Ich sitze Freitagnachmittag knapp zwei Stunden auf einem Stuhl, vor mir Saft und stilles Wasser. Mit dröhnendem Schädel und Hunger höre ich nicht enden wollende Selbstbeweihräucherung, Motivationsmantras und Produktpräsentationen.


Wenn man die Bratpfanne nur heroisch genug ankündigt rastet die Freakshow in Anzügen förmlich aus. Aber der Hammer kommt erst noch. Wir verkaufen ja nicht irgendeine Bratpfanne. Wir – und nur wir – verkaufen die Bratwurst-Bratpfanne. Die kann etwas, das kann keine andere Bratpfanne. Sie kann – Achtung, es kommt gleich – Bratwürste braten.


Wenn jemand eine Pfanne zum Bratwurstbraten kaufen will und er die Wahl hat zwischen einer profanen Pfanne und einer Bratwurstbratpfanne, für welche Pfanne wird er sich wohl entscheiden? Natürlich für die Bratwurst-Bratpfanne, denn er kann gar nicht anders. Gleich springen alle aus ihren Anzügen vor Begeisterung (natürlich ging es nicht um Bratpfannen aber man könnte jedes andere Produkt von ähnlicher Weltbedeutung einsetzen).


Und weil diese Bratpfannen-Verkäufer, entschuldigt Bratwurst-Bratpfannen-Verkäufer so erfolgreich im Bratwurst-Bratpfannen-Verkauf sind, schenkt ihnen die Geschäftsleitung Urkunden, Plexiglas-Klötzer mit Firmenlogos und -Obacht- eine eigene Hymne. Ein wirklicher Gänsehaut-Moment.


Nachdem ich also diesen Business-Hengsten, Betriebsphilosophen und Motivationsgurus bei ihrem Onanie-Akt zugehört hatte, hob sich der Vorhang über dem Pausenbuffet verheißungsvoll. Nach unglaublichen Erfolgsstories und steigenden Umsätzen in Rekordzeit meint man etwas Großes erwarten zu dürfen.


Der inoffizielle Arbeitstitel „Viel Lärm um nichts“ wiederholt sich jedoch hinter diesem Vorhang. Kekse, es gibt Kekse, ganz ordinäres Sandgebäck, teilweise marmoriert. Dafür habe ich mir die Haare gekämmt, ein Kleid und Absatzschuhe angezogen (in denen ich jetzt auch noch für KEEEEKSE anstehen muss)!!! Wenn ich nur nicht solchen Hunger hätte.


Wenn harte Arbeit Früchte trägt
Nach dieser Pause zur Überlebenssicherung geht es ähnlich spannungsgeladen weiter. Der Stargast des Tages, ein Bergsteiger der auf einer unfassbaren gefährlichen Mission Unfassbares erreichte, gibt dem Motto des Abends ein Gesicht und referiert ebenfalls knapp zwei Stunden über riesige verplemperte Geldbeträge, abgefrorene Füße und Hochgebirgskacken - umrahmt von noch mehr Motivationsgelaber à la „Keiner interessiert sich für den Weg – allein das Ziel zählt“.


Der Pädagoge in mir möchte schon nach zwanzig Minuten Stillsitzen von seinem Sitznachbarn mit dem Igelball massiert werden oder zu einem Bewegungslied mit dem Tamburin singen und tanzen. Ich schau mich im Saal um und sehe gebannt zuhörende Verkaufstalente, die die Worte ähnlich dörrer Naturschwämme in sich aufsaugen.


Dazwischen vereinzelt Angehörige die wie ich auch gegen Hunger, Müdigkeit und Steißbein-Embolie kämpfen. Spontan überlege ich eine Selbsthilfegruppe für Familienangehörige von Vertrieblern zu gründen.


Endlich gibt es was zu essen -keine Kekse- und vor allem gibt es endlich Alkohol. Ich wollte zwischendurch schon googlen, wieviel Apfelsaft man trinken muss um betrunken zu sein. Im Halbdunkel versuche ich an einem Stehtisch unterzutauchen und beobachte diese Wirtschafts-Strategen. Nebenbei versuche ich meine Kopfschmerzen weg zu ignorieren.


Immer wenn ich denke, ja – jetzt wird es besser, stellt sich jemand neben mich und nötigt mir Gesprächsbereitschaft ab. ‚Herr Müller ist ein ganz Toller‘, sagen sie und wie ich es hier finde wollen sie wissen. Ich antworte immer das gleiche: "Irgendwie freaky das Ganze hier". Angewiderte Faszination. Wie Autobahnunfallgaffen für Menschen ohne Führerschein.
 

Mit vollem Magen und ausgestattet mit einem gesunden Pegel Blutalkohol bin ich mental knapp bereit für den dritten Teil des Abends, das Highlight. Wenn ich die Augen schließe, dreht sich mein Stuhl… Huiiiii.


Dem klugen Kopf hinter dem Veranstaltungskonzept gelingt es tatsächlich die Gruppen-Masturbation aus Teil eins mit der Gipfelbesteigung aus Teil zwei zu verknüpfen und so werden wir alle Teil der firmeneigenen Expedition und klinken uns ein in das selbst geknüpfte Seil aus Teamspirit, Kampfgeist und Wille zu Anstrengung und Erfolg.


Auf der Leinwand in Sepia und SlowMotion präsentierte Colgate-Gesichter, hinter denen die Nebelmaschine Charisma und Kampfgeist sichtbar macht, werden per Conquest of Paradies zur unversichtbaren Reisebegleitung aufgewertet.


"Herr!" denke ich, "reiß die Erde auf und verschling mich oder ich kotze jetzt gleich auf meine hübschen Schuhe!". Meine Freundin Sarah schreibt mir, dass sie einen Pickel auf dem Rücken hat. Ich soll kommen und ihn ausdrücken. Das würde ich jetzt so viel lieber tun.


Was dann folgt, ist der menschliche Teil der Veranstaltung. Endlich sind alle betrunken. Auf dem Klo höre ich den Chef ins Mikrophon singen. Er ist der DJ des Abends. Zum Glück ist er Geschäftsführer geworden. 

Der Abend endet für mich als ich kurz nach Mitternacht zur Bar wanke und mir vernünftigerweise ein Wasser bestelle. Der Barkeeper weist mich darauf hin, dass ich mein Getränk nun selbst zahlen müsse. Das sei der Wunsch der Geschäftsleitung. Ich antworte „Lieber verdurste ich“ und gehe.


Als ich am nächsten Morgen aufwache, hat mein Körper spontan angefangen zu menstruieren. Ich denke, er möchte sich von innen reinigen. Heute werde ich MICH mal feiern, denke ich und fange direkt damit an. 

Im Einteiler sitze ich ungekämmt am Küchentisch und gieße mir Eierlikör in den Milchkaffee. Zum Glück sind Lehrer nicht so furchtbar erfolgreich, um dauernd einen Grund zum Feiern zu haben.

Achtung: Mitgliedsanträge für die Selbsthilfegruppe, sowie vertrauliche Seelsorge für Aussteiger gibt es GRATIS zum Abo von Frau Müller auf Facebook hier.

Donnerstag, 19. April 2018

War meine Oma ein Nazi? ODER: Ein Riesenbaby, politischer Joghurt und das Bart-Gen

Oma Heidi war eine gute Oma. Sie war eine dieser Omas, die einem mit 4711 feuchtes Toilettenpapier herstellen lässt und es dann trocken bügelt. Eine, die Leggins mit Totenköpfen trug, weil sie das Muster nicht richtig erkannte und dachte, es seien Blumen aufgedruckt. Eine, die Schmuck und Kleidung (die in ihren Augen so edel war, dass sie sie selbst nie trug) gerne für Modenschauen vor dem großen Schlafzimmerspiegel zur Verfügung stellte. Eine, die zwischen den noch nie benutzten Handtüchern im Wohnzimmerschrank ihre Rente versteckte, um den Enkeln kurz vor dem Gehen mit der Körpersprache eines Koksdealers 20 Mark zuzustecken...


Ich war ein Omakind und noch dazu verdammt verwöhnt. Das ging so weit, dass ich eines dieser Riesenbabys war, die mit vier Jahren noch im Buggy gefahren werden, während die Füße schon auf dem Asphalt schleifen. Für Oma war das Buggy praktisch, denn da brauchte man die Taschen nicht schleppen. Und so ein Rentnertrolly war schließlich nur was für alte Leute. Die Logik, dann lieber ein 25 Kilo schweres Kleinkind plus Einkäufe einen steilen Berg hinauf zu schieben, erschließt sich mir auch nicht, aber Omas müssen auch nicht logisch sein. Nur lieb. So lieb, dass sie einem erlauben einen ganzen Kochbeutel Tiefkühlhühnerfrikassee alleine zu essen, weil es nun mal das Lieblingsessen ist oder so lieb, dass sie das Marmeladenbrötchen zum Frühstück auch dann noch in Häppchen schneiden wenn man längst gelernt hat unfallfrei zu essen.

Meine Mutter brachte es regelmäßig zur Weißglut, wenn sie in den Kaffeetassen im Küchenschrank die ganzen versteckten Schnuller fand, die während des Aufenthaltes in der Casa del Omma mein emotionales Wohlbefinden sicherten. Ohne auf den Schlamm zu hauen, möchte ich fast sagen, meine Großeltern vergötterten mich. Das mag daran liegen, dass ich das erste und einzige weibliche Enkelkind war, welches zudem zuletzt geboren wurde. Die kleine Prinzessin quasi. Ich kann den Hype um mein Geschlecht nicht wirklich verstehen, zumal mein Vater gerne skandierte, dass er lieber noch vier Jungs hätte als eine Tochter wie mich. Klingt hart, war aber lustig gemeint. Mülleresk eben.

Lieblingsplatz für den Heidi-Podcast
Jedenfalls habe ich sehr viel Zeit mit meiner Oma verbracht. Zeit, in der sie mir nach 1989 nicht nur die ersten 15 Barbies meines Lebens kaufte sondern mir auch ziemlich viele Kriegsgeschichten erzählte. Ja, Oma Heidi konnte nicht nur virtuos Märchen erzählen  (Erzählen, NICHT VORLESEN! Kann das heute eigentlich noch irgendjemand oder ist diese Fähigkeit mittlerweile ausgestorben?), sie erzählte auch für ihr Leben gerne von damals. Und ich hörte ihr ebenso gerne zu. Ein bisschen selbstzerstörerisch möglicherweise, denn für ein Kind meines Alters hatte ich damals wahrscheinlich überdurchschnittlich viel Angst vor Krieg und dennoch bettelte ich sie oft an, um eigentlich immer die gleichen Geschichten, die ich so oft und gerne hörte, dass ich mich heute noch an sie erinnern kann.

Meine Lieblingsgeschichten waren die vom BDM. Heidi wurde 1921 geboren und kam als junges Mädchen zum Bund deutscher Mädchen. Sie erzählte von Bauerfamilien, denen sie im Haushalt, bei der Ernte und mit den Kindern half. Beim BDM hatte Heidi in ihrem Spint lauter Bilder von Männern mit Bärten, weshalb sie die anderen Mädchen mit Spitznamen Bärdl riefen. Da bärtige Männer zur damaligen Zeit wohl eher auf Propagandamaterial als in Hochglanzmagazinen als Models für Bartöl und Barbershops abgedruckt waren, kann man sich gut vorstellen, wer genau auf den Bildern zu sehen war. Heidi verehrte diese Männer aus tiefstem Herzen. Nicht zuletzt, weil ihr der wichtigste Bärtige (allerdings der mit dem kleinsten…) in ihrem Leben einmal bei einer Parade zur Einweihung einer Brücke in ihrer Heimatstadt zugewinkt hatte.

Notiz am Rande: Liebe zu Bärten scheint vererbbar zu sein. Auch ich ziehe männliche Exemplare mit ausgeprägtem Gesichtshaar unterhalb des Jochbeins vor. Allerdings nicht ohne ausgedehnte Kinnbewaldung. Schnurrbärte und Schnäuzer sind –egal wie dimensioniert sie sind - etwas für Klischeezorros, Pädobären, Fasching und Horst Lichter.

Das Unheil und den Krieg brachten die Russen ins Land. Immer wenn Bombenalarm war, Heidi und ihre Schwestern die Flieger hörten und auch später, wenn sich russische Soldaten in der Nähe herum trieben, versteckten sich alle in einem großen Loch unter dem Kirschbaum im Garten, das mit Brettern und Laub von oben unsichtbar gemacht wurde. Mir spendete der gleiche Kirschbaum gut 40 Jahre später Schatten im Sommer und leckere Kirschen natürlich.

In all ihren Geschichten waren die Russen das Übel. Für Heidi gab es ihr Leben lang nur Schwarz und Weiß. Es gab ihren Führer, mit dem es den Menschen gut ging, der Familien und Kinder liebte. Und es gab die Russen. Vergewaltiger, Plünderer, Kriegsverbrecher. Mit diesen Geschichten und ironischerweise Märchen aus aller Welt – russische Märchen liebte Heidi besonders – wuchs ich auf. 


Ich liebte meine Oma und ihre Geschichten. Und ich liebte ihre Westverwandtschaft. Ihr Bruder Horst schickte nämlich regelmäßig Pakete von drüben. Minzschokolade mit der Kaminuhr, Schaumküsse, Butterspritzgebäck, goldene Sahnebonbons und den guten Markenkaffee hütete sie wie Reliquien in einer Truhe auf dem Dachboden, die nur zu besonderen Anlässen geöffnet wurde. Heute steht das gute Stück restauriert in der MüllerMansion und bewahrt die Skihosen der kompletten Sippe auf. Kekse und Süßkram werden konsumentenfreundlicher in der Nähe des Sofas aufbewahrt.

Horst schickte auch Feinstrümpfe. Wusstet ihr, dass man Feinstrümpfe stopfen kann, wenn sie Löcher haben? Oma Heidi war Profi darin. Horst war reich, er lebte mit seiner Frau in einer Villa im Westen. Bei den Beiden habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Becher Marken-Fruchtjoghurt gegessen. Und Horst war ein ehemaliger SS-Offizier. Allerdings fragte ein siebenjähriges Kind damals nicht: „Warum bist du so reich? Warst du mal ein Nazi?“

Die Welt um Heidi veränderte sich in den Jahren. Heidis Weltbild blieb bestehen. An ihrem Küchenschrank Bilder von Adolf und Kollegen. Jede politische Diskussion beendete sie schon bevor sie dement wurde mit dem Satz: „Mit dem Führer wäre uns das nicht passiert!“


Nachdem auch sie, wie meine andere Oma , wegen ihrer Demenz einige Zeit im Heim verbracht hatte, starb Heidi mit 93 Jahren. Bei der Regelung der Erbangelegenheiten stießen wir auf ein bisher unbekanntes Kind. Heidi hatte noch vor meinem Vater und seinen Geschwistern ein Kind zur Welt gebracht, offenbar ein Mädchen. Die Recherche ergab, dass dieses Mädchen nur wenige Wochen alt wurde. Was war passiert? Ein Kind, über das die Mutter nie ein Wort verlor? Unehelich in dieser Zeit und bald verstorben? In einer Zeit gezeugt und geboren, in der Vergewaltigungen durch russische Besatzer an der Tagesordnung waren? Die Russen, die Oma Heidi bis an ihr Lebensende inbrünstig hasste? Meinem Vater erzählte sie in den Jahren vor ihrem Tod einmal, dass sie und alle ihre Schwestern von russischen Soldaten vergewaltigt wurden…

Wir wissen nicht, was genau geschah und werden es nicht erfahren. Wir können nur mutmaßen. Heidis lebenslange Verbundenheit zu einem politischen Regime, mit dem sie als junges Mädchen aufgewachsen war, machte einen Teil ihrer Persönlichkeit aus. Ein Fakt, der ein letztes Mal interessant wurde, als die Trauerrednerin ihre Ansprache vorbereitete. Sie sprach in der Kapelle neben der blumengeschmückten Urne von einer „großen Heimatliebe, die Heidis Wesen ausmachte“, ein Moment in dem jeder der Anwesenden wusste, was gemeint war und unweigerlich schmunzeln musste.

Warum schreibe ich das Ganze? Oma Heidi war eine Zeitzeugin. Auch sie hat in einer Gesellschaft gelebt, die die Menschen bald nur noch aus Geschichtsbüchern und Dokus kennen. Ihre Persönlichkeit wurde durch die Zeit und ihre Erlebnisse geformt. Menschen sind Individuen, geprägt - aber auch begrenzt - durch ihren Horizont. 

Ist Oma Heidi ein schlechter Mensch gewesen, weil sie ihr Weltbild nie hinterfragt hat oder noch viel schlimmer: in mein unverdorbenes kindliches Hirn gepflanzt hat? Weil sie mich sehenden Auges Nazijoghurt hat essen lassen? Und warum hat sie eigentlich nie hinterfragt? Boten ihr die Erinnerungen an diese bessere Zeit, das nostalgische Schwelgen, vielleicht einen Rückzug? Eine Art Schutzraum? Waren die Schuldzuweisungen einfach nur eine Erklärung um Ruhe zu finden, für eine Frau, die auch lange nach Kriegsende vom Schicksal nicht verschont blieb, zum Beispiel als ihre einzige und innig geliebte Tochter als erwachsene Frau einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel?

Sorgt euch nicht. Als Jugendliche hab ich den ein oder anderen kläglich gescheiterten Versuch unternommen, aus Heidis Schwarz und Weiß zumindest ein Grau zu machen. Jeder der mich schon länger liest, kennt einige meiner Ansichten und ahnt zumindest vage, dass sich diese nur schwerlich bis gar nicht mit der Weltanschauung um 1945, die aktuell ein erschreckendes Revival erlebt, vertragen. Also calm down and love Heidi. Es sind nicht nur die Geschichten, mit denen wir aufwachsen, die uns zu dem machen was wir sind, sondern es ist auch der Verstand, mit dem wir bewerten.

Mehr aus Herz, Hirn
und Absurdistan bei


Dienstag, 10. April 2018

Mythos Lehrerzimmer: TripleK - Kaffee,Kopierer und Kollegen


Wenn ich im letzten Artikel auch die blumigsten Ruhestandsszenarien malte und in wenigen Wochen schon Zerstreuung von den Wirren des beruflichen Molochs darin finden werde, einem schwarzen Kätzchen mit Laseraugen zu lernen, auf meiner Schulter zu sitzen wenn Besuch kommt - das ein oder andere Jährchen werde ich im Schulsystem noch funktionieren müssen. Sonst kann ich mir weder die Altersruhe als schrullige Katzenlady noch als Bewohnerin einer polyamorösen Villa-Kommune mit Resort-Teil leisten. Also entwickelt man Überlebensstrategien, die einem den Aufenthalt im Berufsleben so erträglich wie möglich machen. Eine meiner Strategien sind Besuche des Lehrerzimmers in minimalen Dosen...
 
In unserer eigenen Schulzeit sahen wir von diesem sagenumwobenen Ort meist nur einen Ausschnitt. Nämlich ziemlich genau das, was zwischen Zarge und Türblatt, in Abhängigkeit vom BMI des Pädagogen, der unser zaghaftes Klopfen vernommen hatte und uns sein Ohr und Antlitz lieh, sichtbar wurde. Wurde uns doch einmal das Privileg zu teil, einen Fuß über die heilige Schwelle zu setzen, fühlten wir uns wie Frodo jenseits des Auenlandes. Drachenhöhle, Hort des Bösen und Urquell aller Prüfungsaufgaben samt Lösungen – Geburtsort aller vernichtenden Pläne und kindliche Bedürfnisse missachtenden Ideen. 

Während Studium und Referendariat wurde aus diesem Ort für den Junglehrer eine Art Zwischenwelt. Ich fühlte mich in meinem Leben an nur wenigen Orten so wenig zugehörig wie in den Lehrerzimmern der Praktikums- und Referendariatsschulen. Noch nicht mal die Vertriebsfeier mit integrierter Gruppenmasturbation, zu der mich Herr Müller später einmal geschleppt hatte, zerriss mich innerlich derart.

Ein Teil dieser inneren Abkehr, der menschliche Teil, ist mir bis heute geblieben. Man ist in diesem Ökosystem im Stadium beruflicher Adoleszens weder der Jäger noch der Gejagte, streunt deplaziert durch 90er-Jahre-Büromöbel aus Pressspan und möchte von niemandem angesprochen werden. In den Jahren der Ausbildung flößt einem die vermeintliche Kompetenz gestandener Lehrer – ich spreche bewusst NOCH nicht von Kollegen, denn es fühlte sich noch nicht kollegial an – noch Respekt ein. Dieser Respekt geht einher mit der Angst durch Interaktion das eigene Unvermögen bloßzustellen. Also meidet man diesen Ort, wenn man nicht gerade etwas kopieren muss, obwohl man längst im Besitz des heiligen Schlüssels ist.

Heute meide ich das Lehrerzimmer immer noch. Das liegt hauptsächlich an den Personen, die man auf Grund der Zweckgebundenheit der Räumlichkeit dort trifft: Lehrer. Dieser Raum ist nicht nur Umschlagplatz für selbst geräucherten Schinken und Gemüse aus dem Schulgarten, er ist auch eine Art Gerüchte-Schwarzmarkt. Wenn sich diese Gerüchte wenigstens überwiegend um Schüler drehen würden, könnte ich der Sache ja noch gerade so etwas abgewinnen. Aber da hauptsächlich mit dem Ruf der Kollegen gedealt wird, die gerade nicht in Hörweite sind, lass ich den lieben Menschen ihre Ruhe, die sie brauchen um auch mich ausgiebig durch den Kakao zu ziehen. Milch ist immerhin gut für die Haut. Das wusste schon Kleopatra.

Ihr kennt sicher auch diese Orte, denen ein solch penetranter Duft anhaftet, dass man (auch wenn das objektiv gar nicht so ist), noch stunden- oder tagelang diesen Geruch in der Nase hat. Ich rede also nicht von Frittierküchen oder dem Raucherzimmer eines Altenheims. Ich meine mehr Fleischereien im Sommer, die Schmutzwäscheräume in Pflegeheimen oder Kläranlagen. Im Lehrerzimmer riecht es immer nach altem Papierkram, Toner und Kaffee. Da können auch die 4711-benebelten Damen und das billige Rasierwasser der unterrepräsentierten Herren nichts dagegen ausrichten. 
 
Die Kaffeemaschine oder besser die Kaffeemaschinen, sind so etwas wie der Reaktor der Schule. Aus ihnen wird Energie gewonnen. Sie allein gilt es zu schützen. Der Dienst an der Kaffeemaschine ist sorgsam geregelt per minutiösen Plan am schwarzen Brett. In Abstimmung mit den Dienstplänen wird eine Kaffeemaschinenfachkraft für jeden Wochentag festgelegt, deren Pflicht es ist, nach dem ebenfalls aushängendem Trinkplan in der zweiten Stunde noch vor Beginn der Frühstückspause die korrekte Anzahl an Kaffeebechern rauszustellen, die zur Befüllung notwendige Menge Kaffee zu kochen und beides in einer dem Aroma und der Temperatur des schwarzen Brühgetränks nicht abträglichen Zeitspanne vor dem erlösenden Pausenklingeln miteinander zu vereinen. 

Mit der Präzision ähnlich eines Boxenstopps bei der Formel1 rauschen die vom Stress der zurückliegenden 90 Minuten gezeichneten Pädagogen durch die Tür, nehmen quasi im Vorbeimarsch die volle Kaffeetasse auf und parken auf ihrem seit 30 Jahren angestammten Platz am langen Tisch. Dort verbleiben sie exakt 15 Minuten bis zum nächsten Klingeln und produzieren durch fortwährendes Schnattern, Kreischen und Gaggern einen Lärmpegel, der „Rock am Ring“ in nichts nachsteht. Ein dritter Kaffeeplan am schwarzen Brett sorgt übrigens ebenso penibel wie zuverlässig für termingerechten Nachschub an Kaffeepulver, Kondensmilch und diversen Süßungsmitteln. Kommt ein Mitglied der Kaffeegang seiner Pflicht nicht rechtzeitig nach gleicht die Reglementierung des säumigen Kollegen einem Besuch von Inkasso Moskau. 
Reaktor, Altar, Solarplexus der Lehranstalt. 
DAS ist der Kaffeemaschinenbereich.

Nahezu gleichbedeutend für die reibungslosen Abläufe des Lehrens und Lernens in der Anstalt wie die Kaffeemaschinen, ist der Kopierer. Um dem Etat des Landkreises keinen Schaden durch frevelhaftes und verschwenderisches Kopieren zuzufügen, ist sowohl der Kopierer selbst als auch das Papier gesichert. So kann jede Kopie dem Pädagogen namentlich zugeordnet werden. Vergisst dieser, darüber buchzuführen wann und für wen die Kopie angefertigt wurde, findet er spätestens nach einem halben Jahr eine Rechnung über den entsprechenden Centbetrag in seinem Fach. Und weil Buchführung alles ist, gibt’s für die beglichenen 4 Cent auch eine Quittung der Schulsekretärin. 

Die Bedienung des Geräts erfordert special Skills. Das zumindest wird den Kollegen glaubhaft gemacht. Für Farbkopien ist ein besonderes Vorsprechen beim Informatiklehrer notwendig. Der Informatiklehrer, einziger Kollege mit Rollen am höhenverstellbaren Drehstuhl, schallabsorbierenden Teppichboden im Klassenzimmer und eigener Kaffeemaschine hat den wichtigsten und zugleich härtesten Posten inne. Dieses Aufgabenspektrum ist so anspruchsvoll, dass es schon einmal vorkommen kann, dass ihm real arbeitende Kollegen den wohlverdienten Feierabend um 12.30Uhr damit verderben, dass sie durch entsprechende Tätigkeiten der Unterrichtsvorbereitung das diffizile  Gerät selbstgerecht blockieren und der EDV-Fachmann nicht seiner geheiligten Aufgabe des Auschaltens nachkommen kann. Über dieses selbstgezüchtete innerpersonelle Abhängigkeitssystem administriert der Systemadministrator nicht nur die Technik. 

Ich persönlich gehe am liebsten während der Stunden kopieren. Das erspart mir erzwungene Warteschlangenkonversationen und die Schmach der Wartenden, wenn ich etwas am Gerät kaputt gemacht habe. Das Lehrerzimmer hat zwar Ohren aber (zum Glück noch) keine Augen. Außerdem kann man so ungesehen vom Kuchen oder den Pralinen der spendablen Geburtstagskinder essen, ohne dabei gesehen zu werden und obwohl man selbst nie etwas für den gefräßigen Haufen mitbringt.

Mal sehen, was gibt es noch. Einen Kühlschrank mit Kaffeesahne, Kühlpäckchen und den Diazepam-Rektolen der Epileptiker. Diverse Schwarze Bretter für Weiterbildungen und den Betriebsrat, eins für die Kaffee-Cosa Nostra und eins für Vertretungshinweise. 

Beobachtet man Kollegen beim Studium der Vertretungspläne trennt sich die Spreu vom Weizen. Während nämlich einige das Dokument nach den Vertretungs-, Zusatz- und vor allem Ausfallstunden ALLER inspizieren, kucken normale Menschen (also ich) nur nach ihren eigenen. Entsprechend kürzer fällt auch die Verweildauer vorm Schwarzen Brett aus. Positiver Nebeneffekt: wenig Konversationsangriffsfläche. 

Dann gibt es einen Schrank, in dem die Klassenbücher aufbewahrt werden. Dieser Schrank ist neben dem Vertretungsplan für viele Kollegen ein weiteres Instrument zur Überwachung der Arbeitszeit anderer und gleichzeitig Mittel zur Selbststimulation. An der Anzahl der nach getaner Arbeit an ihren Platz zurück gestellten Bücher, bemisst der beflissene Pädagoge nämlich den Grad der eigenen Aufopferung für die Bildungseinrichtung. Kurz: der, der sein Buch zuletzt zurück bringt, ist der fleißigste, alle anderen sind faule Säcke.

Dann gibt es noch die Fächer. Ein kleines Schließfach mit dem Namen jedes Kollegen, darunter zugehörig ein viertel so großes offenes Regalfach. An der haptischen Qualität des Namensschildchens lässt sich die Dauer der Zugehörigkeit zur Schule ablesen. Kollegen, die schon zur Grundsteinlegung anwesend waren, besitzen ein güldenes Schildchen mit graviertem Namen, Kollegen wie ich, Quereinsteiger oder Abordnungen kleben einen aus Notizzettel und Tesafilm selbst gebastelten Namen über die Provisorien ihrer Vorgänger. 

Das Fach selbst stellt eigentlich eine Art Briefkasten zum vereinfachten Austausch mit Kollegen und der Schulleitung dar, ist aber viel mehr Ersatzkofferraum für die Arbeitszeit. Die Strukturierten halten hier Ordnung und eine überschaubare Anzahl an nützlichen Dingen liegt stets am selben Platz, alle anderen nutzen den zur Verfügung stehenden Platz um alles Mögliche zu lagern und schließlich zu vergessen. Dem ein oder anderen Kollegen ist bei dem vorwurfsvoll gegrollten Satz „Das hatte ich ihnen aber in ihr Fach gelegt“ aus dem Munde der Schulleiterin schon alles Blut in die Füße geflossen. Sie hätte ebenso sagen können: Das habe ich ihnen ins schwarze Loch geworfen. Übrigens zähle ich selbst weder zur ersten noch zur zweiten Gattung, da ich weder strukturiert bin noch mich häufig im Lehrerzimmer aufhalte. Was allerdings Kofferräume angeht (und Autoinnenräume überhaupt) zähle ich mich zur Spezies „Schwarzes Loch“.

Symbolbild :)
Das letzte Objekt von zumindest rudimentären öffentlichen Interesse ist der große Tisch. Es ist wie mit den Schildern an den Fächern. Je besser der Platz desto länger die Zugehörigkeit. An diesem Tisch findet man sich entweder zu durch die Obrigkeit anberaumten Beratungen ein (dienstliche Pflicht, also tue ich mir das an) oder zu pseudokollegialen Zusammenkünften zum Beispiel vor Weihnachten oder an Geburtstagen. Über meine Teilnahme an dieser Art Beisammensein entscheidet das Zurverfügungstehen von alkoholischen Getränken und Speisen, die sich über die Qualität eines Pizzadienstes, der auch frittierte Schnitzel und indische Reisgerichte kann, deutlich erheben. Kuchen geht aber auch. 

Als ich damals vor der ersten Dienstberatung einen der wenigen verbleibenden Plätze nach dem Motto „Friss oder stirb“ einnahm, war mir noch nicht klar, dass die Platzwahl einer festgeschriebenen Ewigkeit gleicht, wie sie sonst nur der Lebenserwartung von Landschildkröten zugeschrieben wird. Wäre mir das klar gewesen, hätte ich mich nicht auf den Platz direkt gegenüber der Schulleitung gesetzt. Ich hätte misstrauisch werden sollen, lange Seite, Fluchtrichtung und noch nicht besetzt, das musste einen Haken haben. Vielmehr hätte ich sorgfältig Kosten und Nutzen erwogen und zumindest kurz über den Platz neben dem Hausmeister nachgedacht. Hätte, hätte… Nun sitze ich alle acht Wochen an der PolePosition des Fremdschams der Schulleitung gegenüber und muss dabei ganz analog in meinem Notizbuch kritzeln um wenigstens interessiert und geschäftig zu wirken.
Nichts Schlafen, nichts SocialMedia. 

Alles Weitere ist uninteressant. Klassensätze von Büchern, die noch den Stempel „Volkseigentum“ tragen, warten auf ihr zweites Leben als Fossilien, wenn sie in späteren Erdzeitaltern von zu Stein gewordenen Sedimentschichten aus Staub befreit wurden. Pädagogisches Material in den Regalen mit Buchenholzdekor schluckt das Echo des Hühnerstalls, darüber hinaus hat es keine Funktion. Denn entfernt man es von seinem angestammten Ort, verändert sich entweder die Neigung der Erdachse oder ein anderer Kollege benötigt das corpus delicti just in der selben Unterrichtstunde. Die einzigen Gegenstände mit Eigenleben sind das Laminiergerät und die Kugelschreiber in Kopierernähe. Nachdem bereits etliche Kollegen nach dem Verbleib dieser begehrten Gegenstände befragt wurden, einigte man sich einvernehmlich darauf, das Phänomen des Verschwindens und Wiederauftauchens schlicht nicht erklären zu können. Büroartikel mit dem X-Faktor.

Für mich persönlich hat das ganze Konstrukt Lehrerzimmer etwas von einer Art Glaubenseinrichtung. Für die Christen ist die Kirche ein Ort, an den sie gehen um sich (gegenseitig) zu versichern, dass sie Christen sind. Vermutlich weil die meisten von ihnen im Leben jenseits der Kirchenbänke ganz und gar unchristlich handeln. Ich habe nicht selten den Eindruck Lehrern, die sich überdurchschnittlich oft, lange und gerne im Lehrerzimmer aufhalten, benötigen diesen Ort zur Sicherung ihrer beruflichen Identität. Der einzige tragende Unterschied ist, dass Kirchen architektonisch etwa eine Million Mal reizvoller sind als Lehrerzimmer und man sie leichter in ein Boudoir mit Weinkeller umbauen kann.
 
In Abhängigkeit der Resonanz auf diesen Artikel behalte ich mir vor, weitere mysteriöse Orte wie zB. das Lehrerklo, das Vorbereitungszimmer, das Kabüffchen des Hausmeisters oder auch die Schulspeisung investigativ auszuleuchten.

Das schwarze Brett der Müllerin
befindet sich übrigens HIER auf
Facebook. Tragt euch per LIKE
in die Kaffeeliste ein 
und nehmt im Vorbeirauschen 
Synapsenkurzschlüsse auf.