Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 29. August 2018

Nachbarn, nackte Schafe und Naturschönheiten ODER Misanthropen beim Lasertag


Wenn ich am Sonntagvormittag aus meinem Küchenfenster schaue und sehe, wie sich die Nachbarn generationsübergreifend zum lockeren Wochenrückblick mit Boulevardnewssparte am Gartenzaun versammeln und die Sterbeanzeigen der Lokalzeitung kommentieren, widert mich das an. Ich kann noch nicht mal genau sagen warum. Vielleicht weil ich Dreiviertel der Beteiligten (Kinder eingeschlossen) einfach nicht leiden kann. Das ist nichts persönliches, ich kann den Großteil der Menschheit nicht leiden. Da ist Dreiviertel schon optimistisch formuliert und zeugt von einem ausgeglichenen Seelenzustand meinerseits in dem Moment, in dem ich diese Worte niederschreibe. Schnell veröffentlichen. Morgen kann das schon ganz anders aussehen. 

Aber ich meine, den Typen mit der Rotzbremse, der in typischer Dreiecksbadehose mit seinen Kindern auf der Straße Federball spielt, kann man einfach nur ablehnen. Und das Aas, welches extra die Hecke unterhalb seiner eigenen Augenhöhe beschneidet um meine Einkäufe im Kofferraum stalken zu können, verdient meine Akzeptanz ebenfalls nicht. Aber hey, ich hasse tatsächlich nicht alle meine Nachbarn. Die alte Fraumit den zerzausten Haaren, die früher mal Lehrerin war und sich heute zum Brötchen holen nur ne Jacke mit Sofamuster übers Frotteenachthemd wirft, ist mir sehr sympathisch. Lediglich die Tatsache, dass sie mit ihrem knapp dreißig Jahre alten Opel Corsa ausgerechnet zur Kirche fährt, nachdem sie mit viertausend Umdrehungen raketengleich rückwärts aus ihrer Einfahrt geschossen ist, verleitet mir ihren Vorbildcharakter etwas. Die Kirche, nicht das Auto.

Beim idyllischen Familienspaziergang (dafür müssen die Parameter Temperatur, Niederschlag, Luftfeuchtigkeit, Tageszeit und Verkehrsaufkommen in einem sehr sensiblen Gleichgewicht aufeinander abgestimmt sein), meide ich bestimmte Wege und Straßen, um nicht auf Bekanntschaften zu treffen, von denen ich erwarte, zum pseudofreundlichen Endlos-Smalltalk genötigt zu werden. Die Frau mit den dauergeröteten Bäckchen drei Straßen weiter hat es sogar drauf, mit dem Auto neben mir anzuhalten und bei heruntergelassener Scheibe ein Gespräch zu inszenieren in dem sie mir, unter dem Wissen dass ich die Lehrerin der Parallelklasse ihres Sohnes bin, Informationen jenseits meiner Schweigepflicht zu entlocken versucht. Fällt dieses Verhalten schon unter Stalking? Kann man das anzeigen? Irgendwann springe ich vermutlich in den Straßengraben, wenn ich das KfZ dieser distanzgeminderten Person herannahen sehe. Oder ich zieh‘ einfach um.

Diese Frau steht nur beispielhaft für eine ganze Reihe von Menschen, die mich von ihren Unkrauteimern aufblickend und gummibehandschut mit einem freundlichen Lächeln grüßen während ich froh bin, dass man hinter meiner Sonnenbrille das Augenrollen nicht sieht.

Mir drängt sich eine Frage auf: Ist mein Denken und Verhalten pathologisch? Und wenn ja, macht mich das zu einem schlechten Menschen? Oder bin ich vielleicht einfach wählerisch, was die Menschen angeht, denen ich meine Beachtung und Achtung schenke. Womöglich ist es eine Art Unverträglichkeit. Ähnlich wie bei Lactose oder Gluten?

Ich glaube, ich bin schon von Berufswegen täglich in so hohem Maße sozial, dass ich mir im Privatleben ohne schlechtes Gewissen eine gute Portion Misanthropie leisten kann. Das ist ein bisschen so wie sozio-emotionales Yoga. In den Asanas, also den Yogaübungen, versuche ich die Situation so gut es geht zu meistern, ich achte auf richtige Atmung, meine Haltung und die richtige Stellung der Gelenke. In meiner Arbeit tue ich das gleiche. Ich bin professionell (meistens), nehme Probleme ernst und bin Ansprechpartner für Kinder und Eltern. Weil es anstrengend ist, so professionell zu sein – beim Yoga ebenso wie in der Schule – verdient man sich eben Entspannung. Entweder in Form von Phantasiereisen durch die Körperzonen unter Begleitung von Klangschalen oder eben als ausgelebte Misanthropie. Ich gehöre sicher nicht zu den Menschen, die mit ihrem Freundeskreis den Jupiter bevölkern könnten und flüchtige Bekanntschaften, die nicht den intrinsischen Wunsch hegen, mich näher kennen zu lernen, neigen dazu mich zuweilen als arrogant einzuschätzen.

Es sprechen aber durchaus auch Argumente für meine erhöhte Sozialkompatibilität. So war ich vor einiger Zeit zum Beispiel zum Junggesellinnenabschied einer sehr langjährigen und sehr wichtigen Freundin eingeladen, die mir vorher extra noch gestand, dass ich eine der Personen sei, auf die sie bei diesem Unternehmen am wenigsten verzichten möchte. Warum kann ich mir jetzt auch nicht so gut erklären. Ich bin ja gerne mal die Frau fürs Grobe beziehungsweise Übernehme die Aufgabe des Auslotens der schmalen Grenzen zwischen fürchterlich lustig und unsagbar peinlich. Früher nannte man das glaube ich Klassenclown. Aber ob es jetzt wirklich daran lag?
Na klar nehme ich mir die Zeit für so etwas, ich bin ja sozusagen selbsternannte Junggesellenabschiedologin, beschäftige mich im Nebenfach mit dieser Art der kontroversen Freizeitgestaltung häufiger und verblogge das auch gerne mal. Und so fand ich mich ein halbes Jahr später in einer Gruppe Frauen wieder, welche allesamt Look „Ewige Studentin – ein Akademiker kennt keine Stylingzwänge“ einigte. Man stelle sich eine Schafherde vor, alle Schafe naturbelassen und ungeschoren. Nur eines steht „nackt“ dazwischen.

Nichts ist wie es scheint
Wir verbrachten bei aller Verschiedenheit einen durchaus kurzweiligen Tag in der Großstadt, auch wenn die Organisatorinnen noch viel über die Ausgestaltung eineserfolgreichen JGAs lernen sollten. Man erkennt nämlich die erfahrungslose Ersttäterin daran, dass sie vermutlich gegoogelte typisch „junggesellenabschiedische“ Freizeitaktivitäten auf die Tagesordnung setzt, bei der sie die Eignung der Teilnehmerinnen unberücksichtigt lässt.
Nicht zu vergessen der Fauxpas mit dem Alkohol. Ich habe das an anderer Stelle schon erwähnt: nur bei den Wenigsten steckt hinter der Aussage „Ich kann auch ohne Alkohol Spaß haben“ ein Fünkchen Wahrheit. Die meisten Spaßbremsen, die das behaupten, trauen sich noch nicht mal nüchtern im Auto zu singen weil sie Angst haben, jemand beobachtet sie im Rückspiegel. Vier Piccoloflaschen Sekt für acht Frauen sind zu wenig! Das trinke ich zum Warm-up auf dem Weg zur Straßenbahn. Kennt ihr den Ausdruck "Nur im Suff zu ertragen"? Er wurde erfunden, um Junggesellenabschiede in fünf Wörtern zu beschreiben.
Die nüchternen Akademikerinnen finden sich wieder beim Lasertag. Vorweg eine Preisfrage: Welche Personengruppe bildet an samstäglichen Nachmittagen im Sommer in der Großstadt wohl das Hauptklientel einer Lasertag-Anlage? Richtig! Der Kandidat hat 1 Million Punkte und gewinnt die Collectors Edition Wunderbäume und ein Originalpaar Filzpantoffeln handmade im Chemnitzer Umland. Es sind betrunkene Männergruppen.

Sozialkompatibilität hat auch bei den ehemaligen Pädagogikstudentinnen ihre Grenzen und die Vorstellung mit diesen betrunken „Wilden“ in einen dunklen Kellerraum bei Schwarzlicht gesperrt zu sein, erregt einiges an Besorgnis bei meinen Begleiterinnen, nein, es versetzt sie geradezu in eine Art Schockstarre, die nur durch intensives Diskutieren zu lösen ist.
Nachdem auch die Letzte verstanden hat, dass Lasertag nichts mit Besenreißern oder Sehfehlern zu tun hat und man pazifistisches Gedankengut hier eher schlecht unter die Leute bringt, folgt eine Grundsatzdiskussion, deren Länge in keinem Verhältnis zur eigentliche Spielzeit steht. Die Braut erhebt ein Machtwort – „man könnte es doch einfach mal probieren, denn schließlich ist man schon mal hier“ – und beweist damit, dass jede noch so wortreiche Diskussion mit nur wenigen richtigen Worten entschieden werden kann. Der hoch motivierte und durchaus sympathische Betreiber (Ja, ich fand ihn sympathisch!) weckt mit den Worten „Los, Mädels – macht die Jungs platt!“ die Amazonen mit Killerinstinkt in den Pippi Langstrumpfs: Feministinnen aller Lager vereinigt euch gegen den Chauvinismus in Biermarinade.
Das erste Spiel zur Orientierung noch verloren, sind wir durchaus angefixt nach 20 Minuten Jagd auf Männer, von denen viele schon bei der Wahl des Hauptschulbildungsganges unseren weiblichen Respekt verwirkt hatten. Spiel 2 gewinnen wir in der Unterzahl gegen eine Gruppe „männlicher Kampfmaschinen“, die mangelnde Orientierung und Koordinationsfähigkeit in der Dunkelheit durch brutales Umrennen der Leichtbauwände kompensierten. Da halfen ihnen auch plumpe Betrugsversuche nichts.
Als Killerinnen hatten meine skeptischen Mitstreiterinnen binnen kürzester Zeit Taktik entwickelt. Als Siegerin in der Gesamtwertung entpuppte sich allerdings meine Taktik „Schießen auf alles, was sich bewegt“ als die erfolgreichste. Am Schluss wird deutlich: Berufspädagoginnen und Trägerinnen akademischer Titel rücken bei einer Treibjagd auf Männern die Gewehrläufe eng zusammen.
Ich muss wirklich zugeben, ich hatte auf diese Art der Freizeitgestaltung wirklich keine Lust, vielmehr hätte ich mir etwas ladyhafteres gewünscht. Poledance beispielsweise, wobei ich mir meine wuschlig-wollige Schafherde dabei auch ungerne vorstellen möchte. Wahrscheinlich hätte der artistische Stangentanz mit exotischen Elementen zu ähnlichen Grundsatzdiskussionen im Vorfeld geführt wie der Lasertag-Plan. Aber auch Frau Müller irrt sich mal und muss sich revidieren. Mädels, das macht echt Spaß! Vergesst nur Sagrotan, Wechselklamotten und Duschsachen nicht! Ich mag meine Laserpistole nicht gerne, wenn überall an ihr Schweiß und Sabber von fremden Männern klebt. Ich bin eine Lady!
Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage. Bin ich sozial nicht kompatibel? Ist meine Abneigung einer Vielzahl von Menschen gegenüber gar pathologisch? Weil es so aufschlussreich ist: bleiben wir beim kollektiven Brautverramschen. Bei einem anderen JGA, welchem ich beiwohnte, war ein Viertel der Beteiligten schwanger. Schwangere sind auch nicht meine bevorzugte Peergroup, aber auch hier kam es zu keinerlei ernsthaften inneren oder äußeren Spannungen, die sich auf mangelhafte Kompatibilität meinerseits zurückführen ließen.
Ich empfinde den Wechsel aus Schwangeren, Ökofrauen, missratenen Kinder sowie deren Eltern und meiner Hand voller sehr guter Freunde  - die berühmte exklusive Sammlung ausgewählter Irrer, die Facebook so oft lobpreist -  als Kneippkur für mein Seelenwohl. Ich denke es ist wichtige Psychohygiene, wenn ich mich selbst vor Konversation und sozialen Interaktionen schütze, die weder meinen Geist noch mein Herz bereichern.
Eine Flora gedeiht besonders gut, wenn das Gleichgewicht zwischen den guten und schlechten Bakterien ausgeglichen ist. Das wissen wir schon aus den Antworten von Dr.Sommer, die es auf weniger reißerische Fragen gab. Ja, ich habe immer die ganze Doppelseite gelesen. Ich sorge für den Ausgleich wenn ich sonntags Umwege im Dorf gehe und auch bei bedecktem Himmel Sonnenbrille trage, mich dafür aber auch mal mit studierten Naturschönheiten in einen finsteren Keller sperren lasse und auf Spruchshirts mit Bier- und Senfflecken schieße. 
auf FACEBOOK und macht
werdet Teil des Menschenhass-
Shavasana... Oooohmmm. 

Dienstag, 14. August 2018

Der Hausfreund ODER Nehmt euch ein Beispiel an den Schülern


Als ich begann zu bloggen, wusste ich, dass die Art der Beziehung, in der die Müllers leben, definitiv einer der Inhalte meines Schaffens werden würde. Ein Inhalt. Nicht der Inhalt. Bis auf wenige Ausnahmen stieß ich mit der sozialmedialen Bekanntgabe einer Vierecksbeziehung irgendwo zwischen Freigeist-Schnarch und Herztod jedes überzeugten Monogamieanhängers nahezu durchweg auf mindestens neutrales, wenn nicht sogar interessiertes bis wohlwollendes Leserfeedback. Das macht mich wirklich glücklich und ist sicher nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass ich in der Regel darauf achte, dass die Leser zum Content finden und nicht umgekehrt. Zu Lasten der Reichweite, aber zugunsten meiner Nerven. Mit Trollen diskutieren ist anstrengend, wenn auch manchmal sehr unterhaltsam. In erster Linie aber eigentlich Zeitverschwendung. Logisch. Hau ich mir ohne hinzukucken jede Menge lose Kirschen in die Tüte im Supermarkt, sind einige gammlige dabei. Dann lieber Augen auf bei der Kirschenwahl, auch wenn's mal wieder länger dauert.
Auch mich selbst hat die schreiberische Auseinandersetzung mit unserem ganz individuellen Partnerschaftsmodell zum Nachdenken gebracht und auf eine ganz eigene Art wachsen lassen, ich möchte fast sagen zwischenmenschlich auf eine neue Ebene gebracht, deren Existenz mir vorher nicht wirklich klar war. Das hört sich spirituell an, ist allerdings weder aus einem Forum für frischgebackene Mütter noch meiner Yogalehrerin entlehnt. Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich euch eine kleine Geschichte erzählen, die ich natürlich wie immer nicht erfunden habe. Nein, sie spielte (oder spielt) sich in meinem direkten Umfeld ab...

Da ist eine junge Frau in der Blüte ihrer Dreißiger. Gerne und mit Leidenschaft Frau, wenn ihr wisst was ich meine. Auch gerne und genauso leidenschaftlich Mama. Sie ist glücklich verheiratet und nennt zwei Schulkinder ihr Eigen. Im Laufe der Vergangenheit fiel öfters der Name eines Mannes, wenn ihre Familie mit ihr sprach. Es war nicht der Name ihres Mannes, aber auch ihr Mann war bei diesen Gesprächen dabei und ihn schien das gar nicht zu stören. Nach allem was man hörte, schien die Familie sogar einiges an Freizeit mit diesem Mann zu verbringen, es war sogar die Rede von gemeinsamen Urlauben. Aber keiner stellte Fragen. 

Eines Tages, auf einer Familienfeier, bekam dieser Name plötzlich ein Gesicht für alle, die bisher nur beiläufig von ihm gehört und keine Notiz genommen hatten. Plötzlich allerdings nahm jeder von diesem unbekannten Mann Notiz, weil er und die junge Frau auf eine Art miteinander umgingen, die weit über den „guten Freund“ der Familie hinausging. Dabei gaben sich beide keinerlei Mühe, den Narren aneinander weder vor den Familienangehörigen noch dem Ehemann zu verbergen. Letzterer schien kein großes Problem mit dem zu haben, was die Gemüter einiger Anwesender auf Erdkerntemperatur erhitzte. Auch die Kinder kennen und mögen den jungen Mann. Fragen stellte keiner.

Wenige Monate später wiederholt sich das Schauspiel auf einer neuerlichen Familienzusammenkunft und nachdem klar ist, dass es sich bei den unglaublichen Beobachtungen der vorangegangenen Festivität nicht um einen einmaligen und somit zum Wohle des Familienfriedens zuvernachlässigenden Vorfall handelt, drohen die Fässer zumindest zeitverzögert überzulaufen. Tatsächlich traut sich niemand, die verheiratete Frau, den scheinbar gehörnten Ehemann und vor allem den schamlosen Ehestörer zur Rede zu stellen. Dennoch hat jeder mehr Meinung als Ahnung und vor allem handfeste Interventionsambitionen. Man müsse reden, schallt es aus Richtung der ehemaligen Erziehungsberechtigten der jungen Frau. Das könne so nicht weiter gehen. Und überhaupt: Was ist da los? 
Bemerkenswertes Verständnis jedoch für das glückliche Dreieck ausgerechnet aus der Richtung der Schwiegereltern, also von den "Verantwortlichen" für den unglücklichen Ehemann: "Haben die Meckerer vergessen, dass sie auch mal jung waren und wie geil ein Dreier ist?" . Keine Sorge ums Gefühlsleben des erwachsenen und mündigen Sohnes, sondern eher Sympathie für den Ergänzer, den die Gegenseite argwöhnisch als Reindrängler verurteilt....


Natürlich sprachen und sprechen wir auch in der Quattroehe über diese kleine wahre Geschichte und ihre Beteiligten. Und in der Tat ertappt man sich selbst viel zu schnell beim Verurteilen. Ist das nicht egoistisch? Kommt der Ehemann nicht zu kurz? Das kann doch niemals gutgehen. Darf man das seinen Verwandten und Bekannten zumuten oder ist sowas Privatsache? Solche Vorverurteilungen liegen vermutlich in der Sozialisation von uns allen begründet. Außerdem teilen die meisten Menschen nicht gerne und geben noch weniger gerne etwas ab, wenn sie nichts dafür bekommen. Und tatsächlich erscheint unsere eigene Interpretation einer zumindest leicht geöffneten Ehe sehr viel ausgeglichener und erfolgsversprechender. Aber können wir uns nicht absolut sicher sein, dass irgendwo Menschen hocken und ähnlich über uns denken? Die behaupten, dass es keine Liebe sein kann, wenn man seinen Ehepartner jemand anderen überlässt? Dass man überhaupt nur eine einzige Person lieben kann? Dass sicher der Sex zu zweit vorher einfach langweilig oder sogar tot war? Dass in so einer Familie nur völlig verkorkste Kinder leben können? 

Abgesehen von der Tatsache, dass uns egal ist, was andere denken, müssten uns diese Vorurteile rasend machen, weil sich Menschen anmaßen über unser Gefühlsleben zu entscheiden. Sie glauben zu wissen, wie wir empfinden und wie wir empfinden sollten. Aber steht uns das zu? Eigene Maßstäbe an das Lieben und Leben Anderer anzulegen? 
Ertappt. Wir hatten gerade das Selbe getan. Genau das, was wir von unseren Diskussionspartnern fordern, nämlich das „Leben und leben lassen“ waren wir gerade selbst nicht zu leisten bereit. Wir sind SO glücklich. Ihr seid ANDERS glücklich. Wir ALLE sind glücklich. Punkt. Keine Urteile.
Interessant ist, dass sich die meisten Außenstehenden scheinbar bestens vor allem mit dem Gefühlsleben des Ehemannes auskennen, aber ihn weder jemand nach seinem Befinden bezüglich des Geschehens fragt, noch seine tiefe Entspanntheit wahrnimmt. Was nicht sein darf, das kann auch nicht sein. Wie kann sie ihn nur so bloßstellen? Und wie kann dieser Fremde sich eigentlich so in diese Ehe drängen mitten in einer Situation, in der niemand irgendwie bedrängt wirkte. Sie geht zu weit und er natürlich auch. Und nur aufgrund der Tatsache, dass eben nicht sein kann, was nicht sein darf, kommt keiner auf die Idee, dass es vielleicht noch viel weiter gehen würde. Der Ruf nach Intervention wird laut, Konsequenzen wollen gezogen werden. Aber gefälligst schön vorsichtig und bitte erst am Morgen, nachdem die Gangs die Straßen verwüstet haben und nur noch das Knacken der Scherben unter den Schuhen zwischen den Häusern hallt. 

Ist es wirklich angenehmer per großer Ankündigung ein ernstes Wörtchen reden zu wollen, statt sich mitten im Geschehen zum Beispiel mit einem Bierchen neben den Ehemann zu hocken und zu sagen: „Hey, was is denn bei deiner Frau los?“ oder den Arsch zusammenzukneifen und die Frau zu fragen „Hast du jetzt einen Hausfreund oder wie seh ich das?“. 
Fragt man den erklärten Feind des Familienidylls vielleicht unterbewusst genau deshalb nicht nach seiner Funktion, weil man befürchtet, er könnte antworten "Wenn es auch nur einem der beiden mit dem was ich tue, nicht gut gehen würde, würde ich mich sofort zurückziehen. Die bestehende Familie ist mir heilig. Ich sehe mich als Bereicherung."

Warum wühlt man lieber allein im gedanklichen Salat aus eigenen Wertvorstellungen, Eindrücken und moralischen Grenzen, vor allem wenn die scheinbar so verworrenen Verhältnisse drohen, einem den verdienten Nachtschlaf zu rauben? Warum reden Menschen lieber übereinder statt miteinander?
Erst kürzlich hat mir eine Zufalls-Neuleserin unterstellt, eine schlechte Lehrerin zu sein. Das tat sie auf Basis eines in ihren Augen zu abwertenden Posts bezüglich meiner Klasse. Zack. Verurteilt. Und der Post war noch nicht mal besonders lang und für meine Verhältnisse höchstens durchschnittlich kreativ. Na klar, mein Hass auf Kinder ist der Motor meines beruflichen Wirkens. Ich wüsste nicht, wofür ich morgens aufstehen sollte, wenn mich nicht die Aussicht locken würde, den ganzen Vormittag lang unschuldige Kinderseelen zu drangsalieren. Kindertränen sind wie Regen auf meiner ausgedörrten Pädagogenseele. Und wisst ihr was ich am meisten an den Kindern hasse? Sie fragen, wenn sie etwas nicht verstehen. Und wenn sie fragen, dann tun sie das direkt, haben dabei weder Erwartungen an die Antwort noch an das Gefühlsleben des Gefragten. Sie wollen einfach wissen. Oder wie es Justin ausdrücken würde: „Frau Müller, is das dein Enkel, da auf dem Bild auf deinem Tisch?“

Lies mehr von schlechten Lehrern 
und schlechten Ehen 
bei Frau Müller auf Facebook. 

Mittwoch, 8. August 2018

Das wahre Gesicht des Schulanfangs: Mamageddon zwischen Schleifen und bedruckter Pappe



Sommerzeit ist nicht nur Hochzeits- sondern auch Schulanfangs-Saison. Diese beiden Festakte zum Einläuten eines neuen Lebensabschnittes teilen sich dank stetig wachsender Elternliebe nicht mehr nur die Saison sondern mittlerweile auch das Maß des Aufwandes, der betrieben wird um diesen Tag für alle? Beteiligten unvergesslich zu machen.

"Und wo lässt du den Zuckertütenaufsatz machen?", die Muttis kucken mich mit großen Augen an. 
"Wie, Wo? Na äh, selber? Also selber machen. Ich mach den selbst. So paar Bänder und Blumengedöns. Das kann doch keine Wissenschaft sein" 
- der Mutti-Verschwörungs-Augenaufschlag weicht einem Gesichtsausdruck, der mich stark an die Mimik der Dorfbewohner am Biertisch nach Ricks Outing  mit der Aussage "Ich bin beidseitig bespielbar!" erinnert...

Die Causa Schultüte ähnelt heutzutage in ihrer Komplexität dem Bau eines Atomreaktors. Ähnlich dem Erwerb eines Brautkleides beginnt die engagierte Mutter etwa ein Jahr vor dem Tag X mit der Recherche. In Mütterforen wird aus einer schlichten Frage an die Schwarmintelligenz schnell ein Mommy-War, da in Sachen Schulanfang Weltanschauungen aufeinander prallen. Vom Religionskrieg unterscheidet man sich nur noch durch die harten Waffen. Hass, Ablehnung und Selbstgerechtigkeit sind absolut vergleichbar.

Schaggeline ist verzweifelt: „Hilfe, der 19Zoll-Laptop passt nicht in die Zuckertüte! Emily-Chantal hat doch schon einen 15Zoll-PC. Wir haben keine Ahnung was wir schenken sollen!

Birte scheut weder Kosten noch Mühen: „Gibt es Firmen, die gluten-,laktose-, zucker- und E234-freie Fertigzuckertütenfüllungen verkaufen? Wenn es geht Fairtrade!“

Bastel-Mami ist zu allem bereit: „Mein Kind interessiert sich so sehr für ägyptische Archäologie. Wo gibt es Zuckertüten mit passendem Aufdruck? Oder sollte ich vielleicht selbst eine basteln in Form der Cheops-Pyramide? Kennt jemand ein passendes Tutorial?“

Mutti Pippilotta (Pseudonym) will nichts falsch machen: „Wie befestige ich das Steiff-Opossum Größe XXL sicher auf der Zuckertüte, so dass Bjarne-Sören bei einem Trotzanfall auch mal damit mit Wucht gegen seine Oma hauen kann und die Bilder des Fotografen trotzdem ein unvergesslicher Genuss für die Nachwelt sind?“

Die Akte „Zuckertüte“ füllt sich allmählich dank investigativer Eltern-Kind-Interviews, durch Beobachtungen des engagierten Privatdetektivs und der unbezahlbar wertvollen Tipps erfahrener Mit-Mütter mit Daten, ungeachtet der Tatsache, dass Kindervorlieben häufig eine Halbwertzeit von weniger als 10 Minuten haben, etwa ein dreiviertel Jahr vorher.

Im Frühjahr starten die Zuckertüten- und Schulranzenmessen. Für mich persönlich genauso überflüssig und grauenvoll wie Hochzeitsmessen und dennoch strömen die Eltern mit dem Drang nichts falsch zu machen scharenweise in die bunten Hallen voller Pappe und Nylon.
Lass uns doch heute die Saurier-Tüte kaufen, nur hier gibt es 15 Prozent Rabatt, eine auslaufsichere Trinkflasche und einen 5Euro-Verrechnungsgutschein auf den Schulranzen mit dem gleichen Motiv. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern sechs Wochen vor der Einschulung noch eine zweite Zuckertüte mit Rittern kaufen, weil Thorben-Malte beim Frühstücken seiner Bio-Hirse-Dino-Flakes beiläufig erwähnt, dass er Dinos langweilig findet, sind deutlich höher als 15 Prozent.


Tipp am Rande: Zuckertüten mit Pferden, Autos, Fußballern oder Delfinen gibt es jedes Jahr. Möglicherweise ist der Ferrari aus dem Vorjahr silbern lackiert und nicht wie in diesem Jahr rot. Wenn Johannis-Marvin damit leben kann, stellt der Erwerb einer Schultüte aus der Vorjahreskollektion sicher, dass der verehrte Sohnemann nicht einer von acht Jungen der zukünftigen 1a ist, der eine „roter Ferrari“-Tüte in die Kamera des Fotografen hält.

Aber halt! Stimmt, ich vergaß. Das wahre Statussymbol, materiell ausgedrückte Individualität und Elternliebe, ist der Aufbau AUF dem buntbedruckten Papp-Geschoss. Auch hier fängt der frühe Vogel natürlich den Wurm denn: die Zuckertüten-Dekorations-Fachfrau mit überregionalem Ruf, welche in der Nebensaison Trockenblumengestecke verschachert, ist very busy. Anmeldeschluss: 10 Wochen vor Tag X. So ein Ikebana aus ökologischen Buntstiften, Barbiepuppen, frischen Nelken aus glücklicher Blumenzucht und nicht zu vergessen dem Barbie-Pferdeanhänger braucht schließlich seine Zeit. Auch hier spielt man wieder Roulette mit dem unsteten Interesse der unfertigen Menschen, die es mit dem Bauwerk glücklich zu machen gilt. 

Man gibt also alles in Auftrag, führt dazu ein Beratungsgespräch, dass von Umfang und Aufbau her an den Erwerb einer Einbauküche erinnert und kauft am besten den Großteil der Zuckertütenfüllung auch gleich noch im Laden der Schulanfangs-Oligarchin. 20 Prozent Rabatt auf das Tüten-Krönungsdingens kann man sich schließlich nicht entgehen lassen. Noch schnell ein Pröbchen des sorgsam ausgewählten pinken Schleifenbandes eingepackt und ab zum Serviettengroßhändler, es will schließlich ein EVENT geplant werden. Danach noch schnell ein Blick auf die Summe am unteren Ende der Gästeliste und ab zum Grafiker. Jetzt, wo das Farbkonzept steht, können endlich auch die Einladungen final überarbeitet werden.

Wenn man es nicht in die Reihen der privilegierten Auftraggeber schafft oder gar nicht rein will weil man sich zu Höherem befähigt fühlt, bastelt man selbst: die Auswahl an Anleitungen ist unüberschaubar und die Materialien überteuert. Wer trotz aller Do-it-yourself-Ambitionen zu doof ist eine Schleife so zu binden, dass sie nicht nur zwei Enden zusammenhält sondern auch noch aussieht wie eine Schleife, der kauft eine fertig Gebundene, für die Dank der Aufschrift „In Deutschland handgefertigt“ 15 Euro Verkaufspreis absolut legitim erscheinen.

Der ritterliche Plan sich mittels Selbstbautüte vom breiten Kommerzwahnsinn zu distanzieren, geht nur dann auf wenn der kleine Wilhelm-Siegbert mit seinen sieben Jahren dank konsequenter Erziehungsarbeit ein ebenso vernünftiges Verhältnis zum Kommerz hat.

Thema Festveranstaltung. Der frühe Vogel hat auch hier wieder die Nase, äh den Schnabel vorn. Das Datum des Schulanfangs lässt sich schließlich nicht aussuchen, ist einige Jahre im Voraus bekannt und die Auswahl an Locations, welche sowohl komfortabel als auch repräsentativ genug erscheinen, ist nur begrenzt. Eltern, die ihre Aufgabe ernstnehmen, reservieren den gewünschten Austragungsort bereits nach dem Errechnen des Geburtstermins. Man telefoniert die auf der im Frühjahr besuchten Messe eingesammelten Flyer ab, bestellt Heliumluftballons, ein Pony samt Streichelzoo und ein Spanferkel.

Die Torte, um Himmelswillen, vergesst die Torte nicht. Ausgerechnet an die hatte bis acht Wochen vorher niemand gedacht. Ein zufällig belauschtes Gespräch zwischen zwei Mitmüttern in der Garderobe des Kindergarten reißt gewaltsam die Schuppen von den Augen. Das ganze Projekt „Schulanfang“ gerät mit einem Mal gefährlich ins Wanken. Nach einem Telefonmarathon steht fest: gegen ordentlichen Aufpreis liefert eine renommierte Konditorei aus dem Nachbarbundesland die Torte am Tag der Tage ins gemietete Kongresszentrum. Zum Glück feiert das Anrainer-Bundesland erst eine Woche später.

Am Tag der Tage gibt es kein gemeinsames Frühstück, da Mama morgens einen Friseurtermin hat und anschließend die Arbeit des Deko-Teams überwachen muss. Sie hat am Vorabend einen Anruf von Tante Brigitte bekommen, sie lebt seit 4 Wochen getrennt von Onkel Herbert und bittet darum, am Tisch nicht neben ihrem Exmann sitzen zu müssen. Thorben-Maltes Cousine Shanaia hat eine Tierhaarallergie und darf daher nicht zu nah am Kaninchengehege sitzen. Also überarbeitet die Mutter noch ganz geschwind die Sitzordnung. Zum Glück hält das Profi-Make-up den Schweißperlen auf der Stirn stand. 

Papa holt die Zuckertüte bei der „Herrin der Schleifen“ (die Oligarchin) – kurzer Schreckmoment nach der Behauptung die Tüte wäre schon abgeholt worden – und bringt sie zum Festsaal. Am Zuckertütenbaum ist zwischen all den Moosgummi-Tüll-Spielzeug-Monumenten kaum noch Platz. Jetzt aber schnell noch das gemietete Cabrio abholen. Thorben-Malte wollte ein Schwarzes, hoffentlich hat es der Autohändler, bei dem wir vor drei Jahren unseren Mini-Van gekauft haben, noch geschafft das Fahrzeug vom Partnerautohaus zu organisieren, denkt der Vater. Er mag sich gar nicht vorstellen, wie Thorben-Malte reagiert wenn das gewünschte Gefährt nicht seiner Lieblingsfarbe entspricht. Der Tag, SEIN Tag, wäre ruiniert. 

Die eigentliche Zeremonie geht dann schnell vorbei. Soraya-Xenia bekommt ihre Zuckertüte zuletzt, Schicksal wenn der Nachname mit einem Z beginnt. Sorayas Papa hat Mühe, alles für die Ewigkeit festzuhalten, da er vergaß die Speicherkarte der Spiegelreflexkamera von den Bildern ihres letzten Ballettauftritts zu befreien. Mama vergießt sintflutartig Tränen. Auf den gestellten Bildern zieht das Töchterlein eine Fluppe. Gestern hat sie in der Werbung eine Einhorn-Kutsche gesehen – DIE hatte sie auf ihrer Zuckertüte erwartet. Das Pferd, welches vor dem Festsaal wartet und Soraya standesgemäß zum Sektempfang transportieren soll schafft es auch nicht, ihr ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Es stinkt. Soraya mag nichts, was stinkt.

Zwei Stunden später hat sich nach dem Anschnitt der Torte in „Märchenschloss-Form“ die Sitzordnung aufgelöst. Onkel Herbert ist gar nicht erst erschienen weil er mit seiner neuen Freundin last minute in die Türkei geflogen ist. Shanaia füttert mit triefender Nase und tränenden Augen die Häschen mit den Smarties aus ihrer Mini-Gastkind-Zuckertüte, die Erwachsenen sprechen dem Alkohol zu (man muss sich für den ganzen Vorbereitungsstress schließlich belohnen) und Soraya versucht die Schultüten-Barbie von Vorgestern im Klo runterzuspülen. Geht nicht, jetzt klemmt sie fest. Also ordentlich Klopapier oben drauf damit’s niemand sieht. 

Nachdem sich das braune Häschen, welches die Smarties besonders gierig gemuffelt hat, nicht mehr rührt setzen Shanaia und Soraya es in den Pferdeanhänger aus dem Zuckertütenaufbau. Der Plan, diesen mittels Dekoband an das für die kleinen Gäste bereitstehende Bobbycar zu binden und damit Slalom auf dem Gehweg zu fahren scheitert nur an der Unentwirrbarkeit der „in Deutschland hangefertigten“ Schleife. Mami und Papi bekommen von Sorayas kreativen Einfällen nichts mit. Sie verfolgen gerade gebannt die Vorstellung der engagierten Artistengruppe aus China.

Keine selbst programmierte Gratis-App zur perfekten Planung
des Jahrhundert-Schulanfangs gibt es 
Dafür aber mehr unalltäglich Alltägliches
garniert mit dem Stilmittel der maßlosen Übertreibung. Schaut rein.