Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 10. Mai 2017

Cast of Absurdistan: Ein Klassenporträt ODER Alle meine Äffchen



Wichtig: Selbstverständlich habe ich die Namen aller Kinder geändert um ihre Anonymität zu wahren. Dennoch war ich bemüht, allen Schülerpersönlichkeiten einen möglichst passenden Namen zu geben. Ihr kennt das möglicherweise. Jeder von uns verknüpft bestimmte Namen mit Verhaltensweisen. Man sieht ein Kind und denkt: DAS kann nur ein Kevin sein...
 
Die Ausgabe der Jahreszeugnisse rückt allmählich näher. Schon in ein paar Wochen werde ich vor diesen Tasten sitzen und mir für jedes Kind eine Beurteilung aus den Fingern saugen. Bei etwa einem Drittel der Schüler geht einem diese Arbeit von der Hand. Für das nächste Drittel braucht man etwas mehr Mühe und beim letzten Drittel fragt man sich: „Wer war das gleich noch?“.  Die Herausforderung dabei ist, möglichst wenig herabwürdigend oder entmutigend zu sein und dennoch ehrlich genug zu schreiben, um den Eltern eine realistische Vorstellung des Leistungsvermögens ihrer kleinen „Einsteins“ zu vermitteln und gleichzeitig mit dem Zaun winkend dazu aufzufordern, doch mal statt Kippen einen Bleistift zu kaufen. Das ist nicht leicht. Bedenkt bitte: Intelligenz wird etwa zur Hälfte vererbt und zur anderen Hälfte erworben. Ihr versteht das Dilemma? 

Vorher werde ich noch das machen, was alle Lehrer in den letzten Tagen eines Schuljahres tun: überdurchschnittlich viele Kontrollen schreiben, weil mir erst jetzt auffällt, dass es bisher viel zu wenig Zensuren gab.
Ich lass heute schon mal alles raus, was ich mir sonst verkneife. Vielleicht vereinfacht dieser Artikel in diesem Schuljahr meinen bevorstehenden pädagogischen Schaffensprozess. Wir werden sehen. 
Außerdem kündigen sich in naher Zukunft einige tiefgreifende Veränderungen in der intellektuellen Landschaft meines Klassenzimmers an. Also ist Zeit für eine Bestandsaufnahme. 

Vorweg: Ich gehe wenig professionell bei der Einschätzung und Beschreibung der Schülerindividuen in diesem Artikel vor und werde mich nicht an Teilbereichen wie Lernleistungsverhalten oder sozio-emotionalen Kompetenzen aufhalten. Ich schreibe was mir spontan einfällt. Und jaaa. Ich bin eine gaaanz schlechte Lehrerin. Ich mach die Kinder nur schlecht. Und uuuhuuuu. Hoffentlich denken nicht alle Lehrer so. Ach und Blablabla. Beruf verfehlt. 
Macht’s doch einfach besser. Ist mein Blog.

Wir beginnen mit Kimberly. Sie ist unsere Pummelfee. Die kindliche Elsa wenn Eiszapfen Kalorien hätten. Sie kann ein A nicht von einem M unterscheiden und verbringt die dadurch entstehende Freizeit im Deutschunterricht gerne damit, ihre Haaraccessoires neu anzuordnen, zumindest so lange bis sie auf meinem Tisch liegen. In Mathe hat sie durchaus lichte Momente so lange nicht allzu viel logisches Denken erforderlich ist. Kimberly ist üppig ausgestattet, egal ob Gel-Stifte von Neon bis Glitzer oder Tupperdöschen mit Pausensnacks – von allem ist genug bis zu viel vorhanden. Kimberlys soziale Kompetenzen sind hochentwickelt. Ihr gelingt es außerordentlich gut, Schwachstellen anderer zu entdecken und diese in selbst erhaltene Aufmerksamkeit umzuwandeln. Kurz: Kimberly ist eine Petze. Durch Stirnfalten und gekräuselte Lippen generiert sie einen Vereisungsblick, mit dem sie Kritik des Lehrers einfach einfriert, gegenüber Mitschülern kombiniert sie dies gerne noch mit einem gezischten „Lass mich!“. Optisch erinnert sie in diesen Momenten schwer an eine diabolische Version von Mrs. Doubtfire.

Justin ist einer der heimlichen Stars in Absurdistan. Auf dem Blog und bei Facebook hat er durch einige Soloauftritte wahrscheinlich schon eine eigene kleine Fangemeinde. Justin ist Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Oder ein bisschen wie der Unglaubliche Hulk. Leistungsmäßig gibt es nicht viel über ihn zu sagen. Mit ihm arbeiten ist ein bisschen wie Hochseilakrobatik. Alles ist gut solange man das sensible Gleichgewicht zwischen Grenzen setzen und Bauchmietzeln hält. Verliert man die Kontrolle, geht es nur noch abwärts. Zunächst ändert sich Justins Mimik und Gesichtsfarbe. Stirnfalten und vital gerötete Bäckchen zeigen allerhöchste Alarmstufe. Mitschüler sollten besser "die Fresse halten" oder ihn am besten gar nicht erst anschauen. Der Lehrer hat verloren, wenn er sich dienstrechtlich nicht angreifbar machen will. 
Stufe 1: verbale Provokationen
Stufe 2: fliegende Arbeitsmittel und Möbel
Stufe 3: Sitzblockade 
Stufe 4: völliger Verlust der Selbstbeherrschung
Seit Justin allerdings zur Psychotherapie geht ist es ruhiger geworden. Ich mag Justin. Ehrlich.

Marvin ist Chantals Zwillingsbruder. Ohne es sicher zu wissen, vermute ich ganz stark, dass er seiner Schwester im Mutterleib den ohnehin schon spärlichen Sauerstoff weggeatmet hat. Er hält sich für die hellste Laterne im düsteren Lampenladen. Intellektuell ist er seiner Schwester weit überlegen. Wie sagt man: unter den Blinden ist der Einäugige König? DAS ist Marvin. Tatsächlich hat aber auch er seine Schaltpausen. Wenn alle zum Beispiel schon längst den halben Text abgeschrieben haben, fragt mich Marvin gerne: Sollen wir mit Füller oder mit Bleistift schreiben. Und auch, dass man Zahlen in Kästchen und Wörter in Zeilen schreibt, ist für unser Klassen-Brain nach drei Schulbesuchsjahren noch keine Selbstverständlichkeit.

Jerome erinnert mich an Tolkiens Gollum. Wenn er mit irrem Blick, wirrem Haar und verschlungen Beinen auf seinem Stuhl hockt, den Mund zu einem Lächeln verzieht, das nur noch die Eckzähne schmücken und sich wie besessen dabei die Hände reibt dann bin ich LIVE auf dem Schicksalsberg. Jerome ist Opfer seiner Gene (wie wahrscheinlich 90 Prozent aller Schüler unserer Schulart). Er gehört einer Dynastie an, die uns schon seit etlichen Generationen mit ihrer Einzigartigkeit beehrt. Seine Mutter ist wie BigFoot: keiner hat sie je wirklich gesehen aber es gibt Hinweise auf ihre Existenz. Jerome ist wegen Zahnstatus „Ruine“ manchmal schwer zu verstehen. Seine Ticks und die desaströse Feinmotorik machen seine schriftsprachlichen Äußerungsversuche ebenso unverständlich. Dank meiner im Berufsalltag erworbenen forensisch-anthropologischen Fähigkeiten gelingt es mir mittlerweile einigermaßen Jeromes Botschaften zu entschlüsseln.

Chantal hatte ebenso wie Justin schon diverse Kurzauftritte in Frau Müllers wortgemaltem Menschenkino. Als Marvins Schwester hat sie definitiv die weniger leistungsfähige Genkombination erwischt. Und ja, bevor Fragen aufkommen, Vater und Mutter sind bei beiden Kindern gleich. Liegt sicher daran, dass es Zwillinge sind. Wobei: Kann man sich sicher sein?
Wenn irgendwann einmal ein Impfstoff gegen zu hohe Intelligenz entwickelt werden soll, dann wird er wohl aus Chantal extrahiert. Ich pflege immer zu sagen: Wenn man so doof ist, dass man nicht merkt dass man doof ist dann ist man sehr doof. Chantal war meine Inspiration. Sie ist so fleißig, willig und motiviert, dass es fast schon schmerzt, sie für ihre völlig deplazierten Antworten nicht loben zu können. Ich denke Chantal wir irgendwann einmal Influencerin oder hat einen eigenen YouTube-Kanal.

Kevin gehört zusammen mit Kimberly und Chantal zu den Leistungsträgern der Klasse. Wenn diese drei Schüler fehlen, steigert sich das intellektuelle Niveau schlagartig um 300 Prozent. Kevin benötigt zum Lösen der Aufgabe 5 plus 3 neben seinen Fingern außerdem Nasenspitze und sämtliche Stifte seines Mäppchens. Er wirkt bei diesen Zähltechniken so geübt, dass die Anzahl seiner Fehler für mich völlig unverständlich ist. Kevin fehlt oft im Unterricht, Schuld ist die Mama. Die verpennt nämlich immer das Schülertaxi und für einen Anruf in der Schule reicht das Prepaid-Guthaben auf dem Handy nur sehr selten bis nie. Kevins Lieblingssatz ist „Neee, ICH hab nichts gemacht!“ inklusive einer überzeugenden Unschuldsmine als Teil einer ausgeklügelten Vertuschungsstrategie von Anfeindungsversuchen seinen Mitschülern gegenüber. 

Ich kann nicht leugnen, dass ich Lieblingskinder habe. Ich bin authentisch. Thorben ist solch ein Kind. Allerdings das Gegenteil eines Lieblingskindes. Unprofessionelle Kollegen würden womöglich Arschlochkind sagen. Thorben interessiert sich in überdurchschnittlichem Maß für alles was ihn gar nichts angeht und fightet engagiert mit Kimberly um den Petzen-Oscar. Optisch erinnert er mich von Gesichtsfarbe und –ausdruck her an Rüdiger, den kleinen Vampir. Das Antlitz krönt ein roter Schopf. Herzig. Die Sportlehrerin klagt über Unfallgefahr, da Rüdiger - HALT! Thorben - häufig beide Hände im Schritt seiner Hose vergraben hat. Alles in allem hätte Thorben mit seinem Talent für Koordination und Bewegung mindestens Backgroundtänzer in Michael Jacksons Thriller-Clip werden können.

Oleg hat, wie der Name vermuten lässt, osteuropäischen Migrationshintergrund. Er ist ein niedliches Bürschchen, dem allerdings sein Denk- und Arbeitstempo auf Valiumniveau stark handicapt. Oleg gehört wie Jerome zu den Schreibern, die mir bei Korrekturarbeiten dank ihrem kryptischen Gekrakel Kopfschmerzen bereiten. Ansonsten gibt es über Oleg nicht viel zu erzählen. Also ein „Drittes-Drittel-Kind“.

Johannis ist so harmlos wie anstrengend. Eine viel zu hohe Stimme in Verbindung mit extrem weinerlichen Tonfall plus Sommersprossen plus Rotschopf stellen eine enorme Herausforderung für den völlig unvoreingenommenen Pädagogen dar. Die Art seiner individuellen Gesamtkomposition allein bedarf keine zusätzlichen liebenswerten Charaktereigenschaften um ihn ins Herz zu schließen. Johannis lebt in einer sehr sparsamen Pflegefamilie, die, um das verdiente Pflegegeld möglichst gewinnbringend anzulegen, mit der Ausstattung der zu pflegenden Kinder sehr sparsam umgeht. Kurz: Im Sommer T-Shirt ohne Erb-Pullunder, im Winter MIT. Das reicht. Johannis sucht gerne 20 Minuten seine Mütze während er sie auf dem Kopf hat und vergisst alles außer seinen Namen. Ebenfalls Arbeitstempotyp „Valium“.

Sophie bildet den Abschluss. Immer niedlich und immer angepasst kann man ihr fast nicht böse sein. Viel zu klein und viel zu schmächtig für ihr Alter steckt, im Klassenvergleich betrachtet, vermutlich am meisten bildbare Hirnmasse in dem Mäuschen. Ein bisschen wie die niedliche und „schlauere“ Variante von Chantal. Ein Drittes-Drittel-Kind. Ich hätte gerne mehr davon. Vermutlich weiß Sophie das, denn sie deckt mich gerne mit Liebesbriefen ein.

Zwei Dinge verbinden mich sicher mit meinem kleinen Blinkie-Rudel: Kevin, Kimberly und ihre Klassenkameraden sind im Sommer bestimmt genauso froh, sechs Wochen Pause von meiner Wenigkeit zu bekommen wie andersherum.
Außerdem sind wir ALLE nicht nachttragend: ich habe Justin auch nach unserem Ausflug im Streifenwagen noch gerne und Johannis sagt mir ebenso regelmäßig wie schön ich bin, wie ich ihm sage, dass er einschläft wenn er noch langsamer läuft. Ich bin mir sicher, sie würden mir auch solch ein herzliches Zeugnis schreiben wie ich ihnen. Wenn sie könnten. 

Folgt mir auf FACEBOOK für eine Direktverbindung
nach Absurdistan und in die MüllerMansion ;-) 

(Ich danke Marco und Sarah für's zur Verfügung stellen ihrer Urlaubsfotos von der Affeninsel) 

2 Kommentare:

  1. An der Stelle, mit Chantal wird Influenzerin musste ich mein iPad putzen. Naja, wurde eh mal Zeit.

    LG Thomas

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    1. Ich bin immer wieder hoch erfreut, wenn ich erfahre, welch positive Nebeneffekte mein Blog hat ;-)
      LG
      Frau Müller

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