Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 8. August 2018

Das wahre Gesicht des Schulanfangs: Mamageddon zwischen Schleifen und bedruckter Pappe



Sommerzeit ist nicht nur Hochzeits- sondern auch Schulanfangs-Saison. Diese beiden Festakte zum Einläuten eines neuen Lebensabschnittes teilen sich dank stetig wachsender Elternliebe nicht mehr nur die Saison sondern mittlerweile auch das Maß des Aufwandes, der betrieben wird um diesen Tag für alle? Beteiligten unvergesslich zu machen.

"Und wo lässt du den Zuckertütenaufsatz machen?", die Muttis kucken mich mit großen Augen an. 
"Wie, Wo? Na äh, selber? Also selber machen. Ich mach den selbst. So paar Bänder und Blumengedöns. Das kann doch keine Wissenschaft sein" 
- der Mutti-Verschwörungs-Augenaufschlag weicht einem Gesichtsausdruck, der mich stark an die Mimik der Dorfbewohner am Biertisch nach Ricks Outing  mit der Aussage "Ich bin beidseitig bespielbar!" erinnert...

Die Causa Schultüte ähnelt heutzutage in ihrer Komplexität dem Bau eines Atomreaktors. Ähnlich dem Erwerb eines Brautkleides beginnt die engagierte Mutter etwa ein Jahr vor dem Tag X mit der Recherche. In Mütterforen wird aus einer schlichten Frage an die Schwarmintelligenz schnell ein Mommy-War, da in Sachen Schulanfang Weltanschauungen aufeinander prallen. Vom Religionskrieg unterscheidet man sich nur noch durch die harten Waffen. Hass, Ablehnung und Selbstgerechtigkeit sind absolut vergleichbar.

Schaggeline ist verzweifelt: „Hilfe, der 19Zoll-Laptop passt nicht in die Zuckertüte! Emily-Chantal hat doch schon einen 15Zoll-PC. Wir haben keine Ahnung was wir schenken sollen!

Birte scheut weder Kosten noch Mühen: „Gibt es Firmen, die gluten-,laktose-, zucker- und E234-freie Fertigzuckertütenfüllungen verkaufen? Wenn es geht Fairtrade!“

Bastel-Mami ist zu allem bereit: „Mein Kind interessiert sich so sehr für ägyptische Archäologie. Wo gibt es Zuckertüten mit passendem Aufdruck? Oder sollte ich vielleicht selbst eine basteln in Form der Cheops-Pyramide? Kennt jemand ein passendes Tutorial?“

Mutti Pippilotta (Pseudonym) will nichts falsch machen: „Wie befestige ich das Steiff-Opossum Größe XXL sicher auf der Zuckertüte, so dass Bjarne-Sören bei einem Trotzanfall auch mal damit mit Wucht gegen seine Oma hauen kann und die Bilder des Fotografen trotzdem ein unvergesslicher Genuss für die Nachwelt sind?“

Die Akte „Zuckertüte“ füllt sich allmählich dank investigativer Eltern-Kind-Interviews, durch Beobachtungen des engagierten Privatdetektivs und der unbezahlbar wertvollen Tipps erfahrener Mit-Mütter mit Daten, ungeachtet der Tatsache, dass Kindervorlieben häufig eine Halbwertzeit von weniger als 10 Minuten haben, etwa ein dreiviertel Jahr vorher.

Im Frühjahr starten die Zuckertüten- und Schulranzenmessen. Für mich persönlich genauso überflüssig und grauenvoll wie Hochzeitsmessen und dennoch strömen die Eltern mit dem Drang nichts falsch zu machen scharenweise in die bunten Hallen voller Pappe und Nylon.
Lass uns doch heute die Saurier-Tüte kaufen, nur hier gibt es 15 Prozent Rabatt, eine auslaufsichere Trinkflasche und einen 5Euro-Verrechnungsgutschein auf den Schulranzen mit dem gleichen Motiv. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern sechs Wochen vor der Einschulung noch eine zweite Zuckertüte mit Rittern kaufen, weil Thorben-Malte beim Frühstücken seiner Bio-Hirse-Dino-Flakes beiläufig erwähnt, dass er Dinos langweilig findet, sind deutlich höher als 15 Prozent.


Tipp am Rande: Zuckertüten mit Pferden, Autos, Fußballern oder Delfinen gibt es jedes Jahr. Möglicherweise ist der Ferrari aus dem Vorjahr silbern lackiert und nicht wie in diesem Jahr rot. Wenn Johannis-Marvin damit leben kann, stellt der Erwerb einer Schultüte aus der Vorjahreskollektion sicher, dass der verehrte Sohnemann nicht einer von acht Jungen der zukünftigen 1a ist, der eine „roter Ferrari“-Tüte in die Kamera des Fotografen hält.

Aber halt! Stimmt, ich vergaß. Das wahre Statussymbol, materiell ausgedrückte Individualität und Elternliebe, ist der Aufbau AUF dem buntbedruckten Papp-Geschoss. Auch hier fängt der frühe Vogel natürlich den Wurm denn: die Zuckertüten-Dekorations-Fachfrau mit überregionalem Ruf, welche in der Nebensaison Trockenblumengestecke verschachert, ist very busy. Anmeldeschluss: 10 Wochen vor Tag X. So ein Ikebana aus ökologischen Buntstiften, Barbiepuppen, frischen Nelken aus glücklicher Blumenzucht und nicht zu vergessen dem Barbie-Pferdeanhänger braucht schließlich seine Zeit. Auch hier spielt man wieder Roulette mit dem unsteten Interesse der unfertigen Menschen, die es mit dem Bauwerk glücklich zu machen gilt. 

Man gibt also alles in Auftrag, führt dazu ein Beratungsgespräch, dass von Umfang und Aufbau her an den Erwerb einer Einbauküche erinnert und kauft am besten den Großteil der Zuckertütenfüllung auch gleich noch im Laden der Schulanfangs-Oligarchin. 20 Prozent Rabatt auf das Tüten-Krönungsdingens kann man sich schließlich nicht entgehen lassen. Noch schnell ein Pröbchen des sorgsam ausgewählten pinken Schleifenbandes eingepackt und ab zum Serviettengroßhändler, es will schließlich ein EVENT geplant werden. Danach noch schnell ein Blick auf die Summe am unteren Ende der Gästeliste und ab zum Grafiker. Jetzt, wo das Farbkonzept steht, können endlich auch die Einladungen final überarbeitet werden.

Wenn man es nicht in die Reihen der privilegierten Auftraggeber schafft oder gar nicht rein will weil man sich zu Höherem befähigt fühlt, bastelt man selbst: die Auswahl an Anleitungen ist unüberschaubar und die Materialien überteuert. Wer trotz aller Do-it-yourself-Ambitionen zu doof ist eine Schleife so zu binden, dass sie nicht nur zwei Enden zusammenhält sondern auch noch aussieht wie eine Schleife, der kauft eine fertig Gebundene, für die Dank der Aufschrift „In Deutschland handgefertigt“ 15 Euro Verkaufspreis absolut legitim erscheinen.

Der ritterliche Plan sich mittels Selbstbautüte vom breiten Kommerzwahnsinn zu distanzieren, geht nur dann auf wenn der kleine Wilhelm-Siegbert mit seinen sieben Jahren dank konsequenter Erziehungsarbeit ein ebenso vernünftiges Verhältnis zum Kommerz hat.

Thema Festveranstaltung. Der frühe Vogel hat auch hier wieder die Nase, äh den Schnabel vorn. Das Datum des Schulanfangs lässt sich schließlich nicht aussuchen, ist einige Jahre im Voraus bekannt und die Auswahl an Locations, welche sowohl komfortabel als auch repräsentativ genug erscheinen, ist nur begrenzt. Eltern, die ihre Aufgabe ernstnehmen, reservieren den gewünschten Austragungsort bereits nach dem Errechnen des Geburtstermins. Man telefoniert die auf der im Frühjahr besuchten Messe eingesammelten Flyer ab, bestellt Heliumluftballons, ein Pony samt Streichelzoo und ein Spanferkel.

Die Torte, um Himmelswillen, vergesst die Torte nicht. Ausgerechnet an die hatte bis acht Wochen vorher niemand gedacht. Ein zufällig belauschtes Gespräch zwischen zwei Mitmüttern in der Garderobe des Kindergarten reißt gewaltsam die Schuppen von den Augen. Das ganze Projekt „Schulanfang“ gerät mit einem Mal gefährlich ins Wanken. Nach einem Telefonmarathon steht fest: gegen ordentlichen Aufpreis liefert eine renommierte Konditorei aus dem Nachbarbundesland die Torte am Tag der Tage ins gemietete Kongresszentrum. Zum Glück feiert das Anrainer-Bundesland erst eine Woche später.

Am Tag der Tage gibt es kein gemeinsames Frühstück, da Mama morgens einen Friseurtermin hat und anschließend die Arbeit des Deko-Teams überwachen muss. Sie hat am Vorabend einen Anruf von Tante Brigitte bekommen, sie lebt seit 4 Wochen getrennt von Onkel Herbert und bittet darum, am Tisch nicht neben ihrem Exmann sitzen zu müssen. Thorben-Maltes Cousine Shanaia hat eine Tierhaarallergie und darf daher nicht zu nah am Kaninchengehege sitzen. Also überarbeitet die Mutter noch ganz geschwind die Sitzordnung. Zum Glück hält das Profi-Make-up den Schweißperlen auf der Stirn stand. 

Papa holt die Zuckertüte bei der „Herrin der Schleifen“ (die Oligarchin) – kurzer Schreckmoment nach der Behauptung die Tüte wäre schon abgeholt worden – und bringt sie zum Festsaal. Am Zuckertütenbaum ist zwischen all den Moosgummi-Tüll-Spielzeug-Monumenten kaum noch Platz. Jetzt aber schnell noch das gemietete Cabrio abholen. Thorben-Malte wollte ein Schwarzes, hoffentlich hat es der Autohändler, bei dem wir vor drei Jahren unseren Mini-Van gekauft haben, noch geschafft das Fahrzeug vom Partnerautohaus zu organisieren, denkt der Vater. Er mag sich gar nicht vorstellen, wie Thorben-Malte reagiert wenn das gewünschte Gefährt nicht seiner Lieblingsfarbe entspricht. Der Tag, SEIN Tag, wäre ruiniert. 

Die eigentliche Zeremonie geht dann schnell vorbei. Soraya-Xenia bekommt ihre Zuckertüte zuletzt, Schicksal wenn der Nachname mit einem Z beginnt. Sorayas Papa hat Mühe, alles für die Ewigkeit festzuhalten, da er vergaß die Speicherkarte der Spiegelreflexkamera von den Bildern ihres letzten Ballettauftritts zu befreien. Mama vergießt sintflutartig Tränen. Auf den gestellten Bildern zieht das Töchterlein eine Fluppe. Gestern hat sie in der Werbung eine Einhorn-Kutsche gesehen – DIE hatte sie auf ihrer Zuckertüte erwartet. Das Pferd, welches vor dem Festsaal wartet und Soraya standesgemäß zum Sektempfang transportieren soll schafft es auch nicht, ihr ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Es stinkt. Soraya mag nichts, was stinkt.

Zwei Stunden später hat sich nach dem Anschnitt der Torte in „Märchenschloss-Form“ die Sitzordnung aufgelöst. Onkel Herbert ist gar nicht erst erschienen weil er mit seiner neuen Freundin last minute in die Türkei geflogen ist. Shanaia füttert mit triefender Nase und tränenden Augen die Häschen mit den Smarties aus ihrer Mini-Gastkind-Zuckertüte, die Erwachsenen sprechen dem Alkohol zu (man muss sich für den ganzen Vorbereitungsstress schließlich belohnen) und Soraya versucht die Schultüten-Barbie von Vorgestern im Klo runterzuspülen. Geht nicht, jetzt klemmt sie fest. Also ordentlich Klopapier oben drauf damit’s niemand sieht. 

Nachdem sich das braune Häschen, welches die Smarties besonders gierig gemuffelt hat, nicht mehr rührt setzen Shanaia und Soraya es in den Pferdeanhänger aus dem Zuckertütenaufbau. Der Plan, diesen mittels Dekoband an das für die kleinen Gäste bereitstehende Bobbycar zu binden und damit Slalom auf dem Gehweg zu fahren scheitert nur an der Unentwirrbarkeit der „in Deutschland hangefertigten“ Schleife. Mami und Papi bekommen von Sorayas kreativen Einfällen nichts mit. Sie verfolgen gerade gebannt die Vorstellung der engagierten Artistengruppe aus China.

Keine selbst programmierte Gratis-App zur perfekten Planung
des Jahrhundert-Schulanfangs gibt es 
Dafür aber mehr unalltäglich Alltägliches
garniert mit dem Stilmittel der maßlosen Übertreibung. Schaut rein. 


4 Kommentare:

  1. Die kurze Erwähnung der Hochzeitsmessen könnte Inspiration für einen entsprechenden Blogpost meinerseits sein... :)

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    1. Oh, da bin ich aber gespannt. Gib mir Bescheid zur gegenseitigen Verlinkung der Messe-Liebhaber ;-)

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  2. Du hast so völlig Recht! Man weiß nicht ob man lachen oder mit dem Kopf schütteln soll. Wir haben nun auch am Samstag Schulanfang von meinem Sohn. Ich habe sehr versucht nicht im Stress auszuarten und der Zufall wollte es auch alles sehr entspannt. Zuckertüte billig erstanden, Ranzen leider nicht... Torte backe ich entspannt selbst. Outfit im Sale gekauft.🤣 Ich mache trotzdem 3 Kreuze wenn der Tag rum ist. Aber wenn es dich tröstet, es gibt auch noch normale Menschen! 😁 Ich verstehe den Hype darüber überhaupt nicht. Wir haben auch gerade so ein Platz noch gefunden. Umd das vor 1 Jahr. Da muss man wirklich mit dem Kopf schütteln. Wo führt das alles nur noch hin? Ich wünsche dir trotzdem einen angenehmen Schulstart!!

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    1. Danke, den hatte ich. Ich glaube Kinder und alles was damit zu tun hat, werden für einen bestimmten Teil der Bevölkerung erstens zu einer Art Statussymbol. Was das Kind kann, hat, weiß oder leistet, auch was ich dem Kind biete, definiert auch was ich als Vater oder Mutter geleistet habe. Und dann ist so ein Primborium vielleicht auch ein klein wenig partygewordene Elternliebe? Was nicht automatisch bedeutet, dass diejenigen, die nicht solch einen Zirkus veranstalten, ihr Kind weniger lieb haben. Aber für die Eltern selbst, könnte es nicht nur eine materielle Selbstbestätigung sondern auch die sichtbare Bestätigung der Liebe zum eigenen Kind sein? Wäre ja nur ein Symptom mehr, für eine immer kranker werdende Gesellschaft? Das sind zumindest meine Gedanken...

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