Nach dem Erfolg des Artikels „Cast of Absurdistan – Alle meine Äffchen“, welchen ich vor etwa einem Jahr
veröffentlichte, möchte ich es nicht versäumen, dem interessierten Leser im
Hinblick auf das bevorstehende Ende dieses Schuljahres den diesjährigen Cast of
Absurdistan, also 2.0 mit dem Titel „Neue Äffchen braucht das Land“
vorzustellen. Wie auch im letzten Klassenporträt war ich aus Gründen des
Datenschutzes bemüht, zu den Originalnamen der Kinder ein zumindest für mich
und mein Empfinden passendes Äquivalent zu finden. Ähnlichkeiten zu real
existierenden Personen sind daher rein zufällig.
Nicht nur die in Kürze zu
schreibenden Zeugniseinschätzungen und damit wieder die schier unlösbare
Aufgabe, die unangenehme Wahrheit in möglichst wertschätzende und ermutigende
Worte zu verpacken und dennoch den Eltern, die bei der Aufgabe, ihren Kindern
zumindest einen Teil ihrer Intelligenz zu vererben nicht gerade auf eine reiche
Mitgift zugreifen konnten, einen Wink mit dem Zaun zu verpassen. Jedes Jahr
erneut papiergewordener Iron Man.
Nein, zwar stimmte mich die erzwungene
Übernahme der ersten Klasse, über die ich im Artikel „Lieber ein Kevin in der Hand als die Charlotte auf dem Dach“ bereits ausführlich berichtete, nicht gerade
freudvoll. Aber wie ich das zum Beispiel auch vom Yoga kenne, bei dem ich
Asanas, die ich nicht kann und die mir weh tun zunächst hasse und mit
nachlassendem Schmerz immer besser meistere, habe ich mich mittlerweile so gut
an die kleinen Rotznasen gewöhnt, dass mir die erneut bevorstehende Trennung
von einigen Pflänzchen meines intellektuellen Mischwaldes, doch etwas zu
schaffen macht. Nicht zuletzt, weil ich die Art der Veränderung pädagogisch so
gar nicht vertreten kann, eine Änderung der Gesetzeslage und die Chefetage mir
diesen Schritt jedoch abnötigte. Einige gehen, einige bleiben und einige kommen.
All die jenigen, die mir
heute und in den verbleibenden Wochen dieses Schuljahres den Arbeitstag mit
ihrer herzerwärmenden Anwesenheit und ihrem zuckersüßen kindlich-unverdorbenen
Wesen verzaubern, sollen heute gewürdigt werden.
Beginnen wir mit Fabian, dem
regelmäßigen Leser womöglich bereits als Rotzbläschenvulkan bekannt. Fabian
klingt an vier von fünf Schultagen beim Atmen wie ein Poolfilter mit
Herbstlaubfüllung. Und als könnte ich mir aus dieser Geräuschkulisse die frohe Kunde
nicht selbst entnehmen, begrüßt er mich an solchen Tagen meist mit den
rhinophonen Worten: „Frau Müllaaa, ich bin bissl krank.“ Aha. Fabian ist für
mindestens dreiviertel meiner Kranktage in diesem Jahr verantwortlich, denn er
ist es auch, der dank feinmotorischer Fähigkeiten eines 93jährigen
Parkinsonpatienten mit zwei linken Händen an denen sich jeweils fünf Daumen
befinden, ständig meine Hilfe beim Schreiben benötigt. Und wisst ihr womit sich
Kind die krustige Schnupfennase abwischt, wenn gerade kein Taschentuch in der
Nähe ist und die Zunge zu kurz zum popeln ist? Richtig, mit dem Handrücken. An
dem klebt Frau Müller dann fest, wenn sie spontan zur Schreibhand greift bevor
Fabian Gelegenheit hatte, seine kostbare Körperflüssigkeit abzulecken. Ach ja,
ich wollte ressourcenorientiert schreiben. Also zu Beginn des Schuljahres
beschäftigte sich Fabian häufig sehr vertieft damit, die kleinen Fädchen
zwischen seinen Fingern zu beobachten, wenn er sie mit einem ordentlichen
Spuckeklecks dazwischen auseinander streckte. Vermutlich hat er seine Studien
dazu inzwischen abgeschlossen. Auch riesige Spuckepfützen auf seinen
Arbeitsblättern, die er so lange versuchte trocken zu reiben bis das Papier ein
Loch hatte, habe ich lange nicht mehr beobachten können. Außerdem ist Fabian
sowas wie das Klassenbrain. Immer dann, wenn ich eine Frage stelle, die ernsthaftes
Nachdenken erfordert (kommt hin und wieder vor), haut Fabian so ordentlich
einen raus, dass es sich mein Hirn kurz vor der Selbstzerstörung durch
Verzweiflung noch einmal anders überlegt.
Dann ist da Finn. Finn ist
ebenso temperamentvoll wie charmant. So charmant und temperamentvoll, dass ihm
die Betreuung durch mich allein nicht ausreicht. Und er ist der
Schildkrötenjunge. Erinnert ihr euch noch an unseren ersten Wandertag, bei dem
die kleinen Hobbybiologen glaubten, im Mittelgebirgswald eine Schildkröte
entdeckt zu haben? Auf Facebook berichtete ich davon. Finn schert sich nicht
viel um Individualdistanzen, auch nicht um die von Waldbewohnern. Nur mit Mühe
gelang es mir die müllersche Lehrerinnencontenance zu bewahren, als mir die
(Schild)kröte zwischen Finns Händen ihre hilflos hervorquellenden Augen
entgegenstreckte und zu sagen schien: „Frau Müller, hättest du nicht einfach in
den Zoo gehen können?“.
Finns Stoffwechsel ist überaus aktiv – so aktiv, dass
ihm der Inhalt seiner eigene Brotdose nur selten über den vierstündigen
Vormittag bringt und er sich daher schon häufig als Taschen- äh.. Dosendieb ein
Zubrot ergatterte. Scheinbar gibt es in jeder Klasse einen unglaublichen Hulk,
in meiner letzten Klasse war es Justin, der mir den Abtransport im Streifenwagen einbrachte, in dieser ist es Finn. Wenn der sich verwandelt, kann
man den Rest der Klasse und sich selbst nur noch in Sicherheit bringen oder
läuft Gefahr, von umher fliegenden Stühlen und Tischkanten, mit dem Potential
Zehen zu zermalmen, erwischt zu werden. Außerdem benötigen Außenstehende, wie
zum Beispiel die Schulzahnärztin meine Dolmetscherdienste, da Finn eine Sprache
spricht, die vermutlich eine Mischung aus Klingonisch und Suaheli ist. Wenn man
sich ein wenig einhört, geht’s aber. Finns Stärke ist seine Fähigkeit,
Arbeitsaufträge quasi nebenbei sowohl zu erfassen als auch zu erledigen.
Während man als Beobachter durch seine merkwürdige Angewohnheit abgelenkt wird,
auf Dingen herum zu kauen, die nicht dafür gedacht sind oder aber all seine
Schreibgeräte in ihre ursprünglichen Bestandteile zu zerlegen, sind am Ende der
Stunde dennoch alle Aufgaben erledigt.
Shanaia und Shakira sind
eineiige Zwillinge. Und weil sie nicht nur gleich aussehen (ich kann sie bis
heute nicht auseinanderhalten) sondern auch gleich liebenswert sind, erwähne
ich sie gemeinsam. Kennt ihr Dideldumm und Dideldei aus Alice im Wunderland?
Shanaia und Shakira sind zwar weder übergewichtig noch glatzköpfig aber wallendes
rotes Haupthaar und ein ziegenähnliches Wesen sorgen für genauso viel Liebreiz.
Der Look ist Programm. Und mehr gibt es über diese Beiden auch nicht zu sagen.
Sophie ist meine persönliche
Stalkerin. Zu jedem Pausenklingeln steht sie pünktlich neben meinem Tisch,
streichelt meinen Arm oder krault mir ungeachtet meiner Abneigung gegenüber
nicht notwendigen Berührungen durch ungewaschene Kinderhände, den Rücken und säuselt
mir dabei feengleich „Meine Frau Müller“ ins Ohr. Mit dem richtigen Filter und
passender Musik könnte das durchaus der Opener einer Folge Tatort sein. Keine
Ahnung ob Sophie Synästhesie begabt ist oder einfach nicht lesen kann,
jedenfalls schaut sie mir beim Lesen permanent ins Gesicht. Und ich dachte
immer, man liest aus Händen. Wenn etwas in meinem Gesicht stünde, dann
sicher nicht „Momo und Papa TUN malen“ sondern so etwas wie „Herr, reiß die
Erde auf!“ oder „Steinmetz ist sicher auch ein total interessanter Beruf“.
Ein ganz putziger Bub ist
auch Ronny. Nicht. Wenn Ronny mich mit hängender Unterlippe und einer Zunge,
die scheinbar so groß ist, dass sie nicht ganz in den Mund passt, anschaut und
in jeder Pause aufs Neue fragt „Kannisch ma pullrn gehen?“ und dabei ebenso
regelmäßig die Antwort „Du weißt, dass du in der Pause gehen darfst. Du
brauchst nicht zu fragen“ bekommt, dann springt mein Herz vor Glück fast aus
der Pädagogenbrust. Wenn wir eine Stunde lang darüber sprechen, dass jeder
Mensch an jeder Hand fünf Finger hat (abgesehen von der Einfachheit halber
unerwähnten Ausnahmen), kann ich mir sicher sein, dass Ronny am nächsten Tag jeden
einzelnen seiner Finger zählt, wenn ich ihn nach der Anzahl seiner Finger
frage. Egal ob man Ronny lobt, ermuntert oder auf Streichholzschachtelgröße
zusammenfaltet, Ronnys Reaktion gleicht stets der eines Findlings in der
mecklenburgischen Grundmoräne an einem Dienstagabend bei einem aufkommenden
Sommergewitter. Ein Klassiker: „Ronny, schau mal. Ich habe zwei Bonbons. Eins
ist hier in der offenen Hand. Wie viele Bonbons sind denn jetzt in der
geschlossenen?“. Ronny mit dem Zauberblick: „Fünf?“
Tim hat einen echten Weg
hinter sich. Nachdem er nämlich im ersten Halbjahr jede seiner Handlungen mit der
nachdrücklichen Forderung „Ich brauch mal Hilfeee!“ anging, beginnt er
mittlerweile selbstständig mit der Arbeit und fragt mich nach zwei Minuten „Meinst
du so?“. Tim ist ein wirklich WIRKLICH liebenswertes Kerlchen, auch wenn ich
mich in Förderstunden mit ihm manchmal fühle, als würde ich versuchen einem
Hund oder einer Katze das Lesen zu lernen. Du wünschst dir nichts mehr, als das
er es endlich schafft Mi, Ma oder Mo zu lesen und ein L von einem P zu
unterscheiden, wirst aber statt mit einem Lernerfolg, mit einem ebenso
verständnislosen wie niedlichen Hundeblick belohnt. Immerhin.
Carsten sagt nicht viel aber
wenn er etwas sagt, dann bringt er es auf den Punkt. Mit der Stimme von Feivel
dem Mauswanderer, bittet er mich „meinen Hintern einzuziehen“ damit er zum
Abwischen an die Tafel kommt. Und nach einem Klassenanschiss, der sich
zumindest in meinen Augen gewaschen hat und mit „Das ist NICHT lustig“ endet,
schiebt er das schweinsteigersche „Aber funny“ nach. So pointiert wie Carsten
sein kann, wenn er sich sicher fühlt, so stumm ist er, wenn er etwas verbockt
hat. Da für quatscht Carstens Mutter jeden Elternabend in die ewigen Jagdgründe
und sorgt mit ihrem Auftritt sogar bei den hartgesottensten Anwesenden für ein
Übermaß an Fremdscham.
Ich erwähnte es bereits:
Justins sind das Salz in der Suppe des Klasseneintopfs und so darf er auch in
Klasse 1 nicht fehlen. Justin erinnert mich optisch an Caillou aus der gleichnamigen
Kinderserie, vor allem dann, wenn Justins Papa mal wieder die
Haarschneidemaschine geschwungen und den Familienfriseur gespielt hat. Das
nennen wir es nicht ganz schlüssige Verhältnis von Kopfgröße zum Körperbau ist
bei beiden Jungen gleich. Justin ist das Lämpchen mit der niedrigsten Wattzahl.
Und wenn er mich nicht gerade durch das fortwährend geräuschvolle laterale Einsaugen
seines Speichels an den Rande des Wahnsinns treibt, dann spätestens wenn er
voller Überzeugung versucht, den letzten verbleibenden Stein aus der vierten
Etage des bereits gefährlich schwankenden Jengaturms zu ziehen. Mit Justin
Logikaufgaben lösen fühlt sich an, als würde man versuchen, ein Domino in einem
Trampolin aufzubauen, während eine ganze Kindergartengruppe darin springt.
Unser gemeinsamer Start gestaltete sich etwas schwierig, nachdem er mir täglich
mit grimmiger Miene beteuerte, dass er morgen nicht mehr kommt und seiner Mama
sagt, dass ich gar nicht lieb sei. Nichts von allem geschah, aber die Bäche
seiner Trotztränen versiegten immerhin.
Irgendwie hab ich sie
trotzdem alle gern und das Hühnerfrikassee der Seniormüllerin ist kein
Hühnerfrikassee, wenn kein Mais dran ist. Ihr wisst was ich meine. Wie oben
bereits erwähnt, werden mich einige der kleinen Schwachstrompersönlichkeiten
verlassen, dafür werden mir aber auch einige neue Passagiere in den Bus der
Erkenntnis gesetzt. So widerwillig ich zu Beginn des Schuljahres war, nachdem man
mir meine großen Äffchen weggenommen hatte, so wehmütig bin ich heute. Was mir
Mut macht, ist der Gedanke an Tiefkühlfrikassee, das zwar nicht schmeckt wie
von Muttern aber auch lecker ist. Ganz ohne Mais.
Das
hat wesentlich mehr Spaß gemacht,
als
echte Zeugnisse zu schreiben.
Spaß
macht mir auch,
euch
via FACEBOOK über Absurdistan
und Neues aus der Müllermansion
zu
informieren. Also HIER reinschauen
Achja, mir geht es grade ganz genauso, ich musste meine Erstis abgeben, obwohl ich sie mir gerade erst halbwegs anständig herangezogen hatte! Der Klassenvulkan hat mich liebgewonnen und mir kein einziges Mal einen Stuhl entgegengeworfen, das ADS-Kind hat neue Medikamente und angefangen, sich von einer Kartoffel in ein richtiges menschliches Wesen zu verwandeln, und von 23 Elternpaaren sind mir 21 nicht auf die Nerven gegangen, eine sagenhafte Bilanz! Dafür kriege ich nächstes Jahr eine kleine Destiny Star... bei dem Namen fange ich in Gedanken schon mal mit dem Förderplan an -.-
AntwortenLöschenAch, genau für diese Kommentare liebe ich so, was ich hier tue. Und wenn ich nicht anonym unterwegs wäre, dann könnte ich mit Namensskurilitäten wunderbar an Destiny Star anknüpfen... Destiny Star ... Na hoffentlich ist der Name da nicht Programm. Mein ADHDSler ist derzeit auch in der Klinik, schon etliche Wochen, nachdem sie in den ersten vier gar nicht mit ihm arbeiten konnten (O-Ton der Kliniklehrerin: "Ich bewundere, wie sie DAS ausgehalten haben!"). Tja, ich bewundere mich auch, aber vor allem die Klasse aber uns blieb ja gar nichts anderes übrig. Dank Klinikwarteliste. Na mal schauen was mich nach den Ferien erwartet. 23 Elternpaare... mir reicht schon die Hälfte :o
AntwortenLöschen