Der Entstehungstag des heutigen Blogartikels liegt schon einige Monate zurück. Vielleicht habe ich die Zeit gebraucht, um das Erlebte zu verarbeiten ;-). Nachdem ich meine Leser in einem kürzlichen Facebook-Post neugierig gemacht habe, komme ich nun ihren Bitten nach Aufklärung nach...
Ich
bin alles in allem ein relativ rechtskonformer Mensch. Dennoch steht auf meiner
imaginären To-do-before-die-List dass ich irgendwann einmal verhaftet werden
möchte. Sicher, für etwas minderkriminelles, das mich nicht gleich ins
Gefängnis bringt. Aber für irgendetwas das mir vorher sehr viel Spaß bereitet
hat. Ich möchte da jetzt nicht ins Detail gehen. Vielleicht rufe ich wenn die Polizisten auf mich zukommen laut: "Jeah, endlich sind die Stripper da...!" Das wird auf jeden Fall lustig.
Nun
wurde ich kürzlich zwar nicht verhaftet, dennoch musste ich in der
Öffentlichkeit eines kleinstädtischen Busbahnhofs mit Wochenmarkt in einen Streifenwagen steigen und wurde aufs Präsidium
gebracht. Spaß hatte ich davor keinen. Und ich weiß auch nicht sogenau ob ihr
Spaß an der Geschichte habt.
Zur Vorgeschichte: donnerstags unterrichte ich
sechs Stunden lang ausschließlich in meiner Klasse. Der mangelnde Orts- und
Personenwechsel ist eine Zumutung für alle Beteiligten. Wodurch es etwa nach der
Hälfte des gemeinsamen Tages immer wieder zu kleineren oder größeren
Eskalationen BEIDER PARTEIEN kommt.
Ich
bin geschafft nach so einem Tag. Nicht selten versuche ich meiner Familie am
Nachmittag aus dem Weg zu gehen, um sie nicht mit einer tickenden Bombe zu
konfrontieren. Manchmal belohne ich mich mit Prosecco, Eierlikör oder einer
Online- Bestellung. Man gewöhnt sich an alles, sagt ein Sprichwort. Auch die
Dorfbewohner am Fuße des Drachenberges hatten sich nach vielen Jahren daran
gewöhnt, dass die Bestie einmal im Monat eine Jungfrau frisst.
Als
mich an diesem Donnerstagmorgen zwei größere Schüler darauf aufmerksam machten,
dass „mein“ Kevin neben statt ins Urinal gepinkelt hat und Kevin meine
Aufregung gar nicht verstehen konnte denn schließlich hatte er ja alles wieder
aufgewischt, dachte ich noch „ein ganz normaler Donnerstag eben“.
Ehrlicherweise
muss man allerdings erwähnen, dass dieser Donnerstag schon grundsätzlich von
seiner vertrauten Struktur abwich denn es war am Vormittag ein gemeinsamer
Theaterbesuch geplant. Toll, dachte ich noch, das entspannt die Lage etwas.
Justin
hatte schon am Morgen nicht die allerbeste Laune. Man kann es ihm an der Gesichtsfarbe und den Mimikfalten im Stirnbereich immer deutlich ansehen. Ähnlich wie bei Hulk. Ich drohte ein oder zweimal
ihn in der Schule zu lassen und einen Platz in der neunten Klasse zu
organisieren. Aber erstens schaffte es Justin immer wieder sich knapp zu
mäßigen und zweitens bin ich ja kein Arsch. Meistens jedenfalls.
Wir
machen uns also alle gemeinsam auf den Weg ins Theater. Fünf Klassen mit sechs
Lehrerinnen. Etwa fünfzig Kinder, alle im Alter zwischen sieben und zehn
Jahren. In dieser Formation etwa eine halbe Stunde Fußweg durch öffentlichen
Verkehrsraum. Nachdem Justin schon auf dem Schulhof einen Mitschüler so
gewaltsam geschubst hatte, dass dieser auf anderthalb Meter den Asphalt vermaß
und sich bei meiner Ermahnung losriss um dabei weitere Kinder halb umzurennen,
kamen mir erste Zweifel auf, ob es wirklich sinnvoll ist, heute mal nicht Arsch
sein zu wollen.
Aber
die Karawane setzte sich in Gang, meine kleine Kamelherde trottete hinterher
und das Justin-Kamel war so wendig, dass es mit den Anderen über die Straße
gelangte. Dort flog auch schon der nächste Mitschüler in die Bordstein-Botanik.
„Nein“, brüllte ich, „jetzt reicht es. Ich bring dich zurück in die Schule“. Die
war ja noch in Sichtweite hinter uns. Justin interessierte aber nicht was ICH
möchte. Er rannte vor mir weg, riss sich immer wieder los, schlugt nach mir,
schmiss mich dabei fast noch mit um und verschwand immer wieder in der sich
fortbewegenden Herde. Dabei nahm er keinerlei Rücksicht auf die kleineren
Kamele. Nein, er trat ihnen sogar fortwährend in die Hacken, schubste und
lief von hinten in ihre Beine. Neuerliche Versuche das tollwütige Kamel zum
Umkehren zu bewegen. Aber nix da. Auch die anderen Kameltreiber/Lehrerinnen
hatten dabei kein Glück. Und so prügelt sich Justin durch die Hälfte des Weges.
Nachdem ich gemeinsam mit einer Kollegin (Ü60, dabei beinah selbst K.O. gegangen) einen Mitschüler aus Justins
Würgegriff befreit hatte indem jede von uns kräftig an einem Arm und einem Kind
gezogen hat, beschloss ich zuerst die Schulleitung und dann die Mutter
anzurufen. Die Schulleitung war auf Grund dringender Kaffeepause vorrübergehend
nicht erreichbar. Die Mutter erreiche ich an ihrer Arbeitsstelle. Sie
versprach so schnell wie möglich zum vereinbarten Treffpunkt zu kommen.
Während ich telefonierte, rannte eine engagierte Kollegin Justin und einem Opfer
durch die Wildnis hinterher, der Ausflug endete an einem Dreimeter-Abhang. Auch diese Kollegin hatte wie ich 7 bis 9 weitere Kinder zu
betreuen. Eine KLASSE. Nicht nur EIN Kind.
Nachdem alle Kamele wieder mehr
schlecht als recht Teil der Karawane sind ging es weiter in Richtung Ziel. Als
Justin aber an Hauptstraßen und Ampeln weiterhin ohne Rücksicht durch die
Gruppe rempelt, pöbelt, schubst und tritt, ich dabei noch eine Nahtod-Erfahrung mit LKW
machte als ich auf die Fahrbahn trat um die Gruppe zu überholen und damit näher an
Mr. Hyde zu sein, wurden auch die Kollegen immer ungeduldiger. Ich soll die
Polizei rufen, wir können nicht länger warten. Er bringt ALLE in Gefahr.
Gut,
dachte ich, das wollte ich schon lange, umso besser wenn mir Kollegen diese
Entscheidung bestätigen. Mit zitterndem Finger wählte ich den Notruf, inzwischen setzte sich das Inferno fort. Der Beamte am anderen Ende hat Mühe mein Anliegen zu
verstehen. Sechs Lehrerinnen? Ein Schüler schubst? Sie werden damit nicht
fertig? Äh…okay. Ich schicke jemanden.
Ein paar Meter weiter brachten wir die
ganze Gruppe zum Stehen. Nur so konnten wir auch Justin an Ort und Stelle
halten. Er stand da, bewegungslos. Ein bisschen wie ein ausgeflippter Löwe, den die Wärter in Ruhe lassen damit er sich beruhigt und der Tierarzt mit dem Blasrohr besser zielen kann. Keiner sprach
ihn an. Jeder wusste dass das jetzt besser war. Die Kleinen aus der Eins flüstern: "Kommt jetzt wirklich die Polizei?" und machen dabei riesige Augen.
Zehn Minuten später kam ein
Streifenwagen angerollt. Wir befanden
uns an einer Art Busbahnhof mit Ladenstraße und entsprechendem
Publikumsverkehr. Ich wage zu behaupten, dass das was die Passanten gleich
geboten bekamen besser war als das Blaulicht-Programm am Nachmittag der Privaten
Sender. Es ging ganz schnell. Der feiste Beamte fragte mich um wen es geht.
Fachmännisch drängte er Justin in eine Ecke um ihm keine Fluchtmöglichkeit zu
geben. Justin für seinen Teil schien in diesem Moment so erstarrt, dass er
ohnehin wohl kaum noch zum Rempeln und Flüchten in der Lage gewesen wäre.
Im Hintergrund
rollte unterdessen ein Sixpack an. Zwei Beamte sprangen heraus und stellten sich mit Lederhandschuhen
und schulterbreit geöffnetem Schritt eindrucksvoll vor die Gruppe. Der schöne Beamte drehte
sich um und meinte in deeskalierendem Tonfall: „Fahrt euch runter, es geht um einen Neunjährigen!“.
Seine einsatzbereiten Kollegen rückten ab und er ließ sich von mir alles
nochmal erklären, nahm jede Menge Daten auf.
Die nun friedliche Karawane
zog indessen weiter. Schließlich sollte in zehn Minuten die Vorstellung
beginnen. Ich rief die Mutter an und sagte ihr, dass sie ihren Justin nun nicht
am Theater sondern bei der Polizei abholen müsse. "Sie müssten aber mitkommen, aufs Präsidium" sagte der schöne Polizist. Klar, dachte ich. Kein Problem. Das schlimmste scheint ja vorbei und mal setzen
wäre angesichts meiner Puddingknie auch ganz nett.
Auf der Wache erklärte ich
noch einmal wie es zu alle dem kam, dass Justin eigentlich auch ein ganz Lieber
sein kann, dass wir auch in der Schule schon ähnliche Auseinandersetzungen
hatten, wir uns dort ja nun mal aber nicht im öffentlichen Verkehrsraum
befinden. Da kam Justin mit dem Feisten aus dem Nebenraum. Justin würde mir etwas sagen, informierte mich der übergewichtige Staatsschützer.
„Nschuldgng“ nuschelte er hervor während er das Kinn fest auf die Brust presste.
Ich lege meinen Arm um ihn: „Mensch Justin“, sagte ich, „musste das heute echt
sein? Ich hab dich gerne, deswegen hab ich dich mitgenommen. Und dann sowas…“
Daraufhin ging der Schöne mit Justin raus, während mir der Feiste eine Art Vortrag
hielt. Inhaltlich irgendwie eine Mischung aus Erklärung, warum auch ich mit aufs
Revier musste und Vorwurf, meine Baustelle zum Problem der Staatsgewalt zu
machen.
Wenig später trafen die Eltern ein und ich erzählte die ganze Geschichte nochmal.
Einsichtig waren sie aber auch hilflos. Ich kann‘s verstehen. Justins Kinn war
immer noch auf der Brust festgewachsen. Die Tränen kullerten. Im Telefonat mit
der Schulleitung ist von vorrübergehendem Schulausschluss die Rede. Die Eltern
bestanden auf ein persönliches Gespräch. Die Staatsgewalt gab uns frei und unser betröppeltes Grüppchen machte sich auf den Weg nach Mordor, äh in die Schule.
Ortswechsel - Schreibtisch der Schulleitung: nun schon zum vierten Mal rekapitulierte ich die Geschehennisse des Vormittags. Im Kreisgespräch um Schuldzu- und Abweisungen deeskalierte ich
zumindest diese Angelegenheit am Ende erfolgreich (Randnotiz: sensible Gesprächsführung
gehört nicht zur Kernkompetenz meines Vorgesetzten) und wir gingen alle
„friedlich auseinander“. Ich würde Justin wohl ein paar Tage nicht mehr sehen.
Dem Menschen in mir tat die Familie unheimlich leid, der Mutter in mir tat vor
allem die Mutter leid, die kaum etwas sagen konnte. Der Lehrer in mir atmete auf.
Zwei
Stunden später stand ich nach Dienst im Lehrerzimmer und erzählte ein paar
Kolleginnen von dem Vorfall. Alle sind ganz entsetzt. In einer Gesprächspause
sagt eine Kollegin plötzlich: „Soll ICH euch mal was erzählen? Meine Schülerin
X wird von Schüler Y regelmäßig dazu genötigt ihn nach dem Unterricht zu
befriedigen während Ys Kumpels dabei zuschauen…“ (Randnotiz: X und Y besuchen
eine siebte Klasse).
Kennt
ihr diese Gespräche im Wartezimmer beim Arzt? Wenn eine Oma der anderen Oma von ihren
Gebrechen erzählt und sie sich dabei übertrumpfen als wären ihre Diagnosen
wertvolle Pokemons? Arthrose schlägt Gürtelrose. Positiver Nebeneffekt ist,
dass sich die Verliererin dieses Matchs gleich gar nicht mehr sooo krank fühlt.
Auf
meinem Nachhauseweg sprach ich auf einem Supermarkt-Parkplatz eine Frau an,
auf deren Auto Werbung für eine private Haushaltshilfe angebracht ist. Ich wünsche mir schon lange jemanden, der meine Fenster putzt. Sie gab mir ihre Karte und wies mich aber gleich darauf hin, dass es zur Zeit sehr
schlecht aussieht. Zu viele Kunden – keine Zeit. Ich stieg ins Auto und kam ins Grübeln.
Haushaltshilfe … Putzen, denke ich,
scheint ein gefragter Job zu sein… .
Inzwischen hat Justin übrigens schon zwei Freigänge genutzt um sich zu bewähren. Zwar MIT Einzelbetreuung aber OHNE nennenswerte Zwischenfälle...
Tut euch den Gefallen und folgt mir auf FACEBOOK ;-)
Oh Mann, ich musste mal einen Schüler mit Polizeigriff am Boden fixieren - er hätte mit seinen sieben Jahren die gesamte Klasse inkl. Mitschüler und mir kurz und klein geschlagen. Das Goldengelchen meinte aber dann eh nur, dass ich eine schw.le F.tze sei. Glg Uli
AntwortenLöschenEin Schüler aus der Neunten nannte mich mal "den Dreck unter seinen Schuhen". Da hat er sich sprachlich ja echt Mühe gegeben... 🤔😅
LöschenEine Kollegin, die für verhaltensgestörte Schüler ausgebildet wurde meinte wir hätten uns zu dritt auf den Justin werfen sollen. So würde die das an den Erziehungshilfeschulen im Notfall machen. Das wäre für die Passanten dann wohl noch verstörender gewesen 😅🙈
LG Frau Müller
Wow - das ist ja mal ne Geschichte... Ich hatte auch mal einen Justin der gerne mal aus der Reihe tanzte, (Ironie?! ;-)) Aber also mit der Polizei musste ich zum Glück nie kommen...
AntwortenLöschenIch bin gerade ziemlich Happy deinen Blog und deine Geschichten entdeckt zu haben - danke für deine unterhaltende Art des Schreibens! =)
Tatsächlich ging es mir an dem Tag an dem das alles passierte nachmittags ziemlich schlecht. War wohl alles etwas viel und in der Situation funktioniert man dann einfach... und irgendwann muss der angestaute Druck dann raus. Umso mehr freu ich mich wenn ich einen Teil des Drucks beim Bloggen der Geschichte ablassen kann und gleichzeitig den Menschen damit Spaß und Freude machen kann. Ich nenne das Emotions-EBAY, Über Gefühle die man selbst nicht mehr braucht und die man los werden will freut sich jemand anderes!
LöschenGanz liebe Grüße,
Frau Müller