Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 5. April 2017

Absurdistan hat Ausgang ODER: „Fahrt euch runter, es geht hier nur um einen Neunjährigen“


Der Entstehungstag des heutigen Blogartikels liegt schon einige Monate zurück. Vielleicht habe ich die Zeit gebraucht, um das Erlebte zu verarbeiten ;-). Nachdem ich meine Leser in einem kürzlichen Facebook-Post neugierig gemacht habe, komme ich nun ihren Bitten nach Aufklärung nach... 

Ich bin alles in allem ein relativ rechtskonformer Mensch. Dennoch steht auf meiner imaginären To-do-before-die-List dass ich irgendwann einmal verhaftet werden möchte. Sicher, für etwas minderkriminelles, das mich nicht gleich ins Gefängnis bringt. Aber für irgendetwas das mir vorher sehr viel Spaß bereitet hat. Ich möchte da jetzt nicht ins Detail gehen. Vielleicht rufe ich wenn die Polizisten auf mich zukommen laut: "Jeah, endlich sind die Stripper da...!" Das wird auf jeden Fall lustig.

Nun wurde ich kürzlich zwar nicht verhaftet, dennoch musste ich in der Öffentlichkeit eines kleinstädtischen Busbahnhofs mit Wochenmarkt in einen Streifenwagen steigen und wurde aufs Präsidium gebracht. Spaß hatte ich davor keinen. Und ich weiß auch nicht sogenau ob ihr Spaß an der Geschichte habt.

Zur Vorgeschichte: donnerstags unterrichte ich sechs Stunden lang ausschließlich in meiner Klasse. Der mangelnde Orts- und Personenwechsel ist eine Zumutung für alle Beteiligten. Wodurch es etwa nach der Hälfte des gemeinsamen Tages immer wieder zu kleineren oder größeren Eskalationen BEIDER PARTEIEN kommt.
Ich bin geschafft nach so einem Tag. Nicht selten versuche ich meiner Familie am Nachmittag aus dem Weg zu gehen, um sie nicht mit einer tickenden Bombe zu konfrontieren. Manchmal belohne ich mich mit Prosecco, Eierlikör oder einer Online- Bestellung. Man gewöhnt sich an alles, sagt ein Sprichwort. Auch die Dorfbewohner am Fuße des Drachenberges hatten sich nach vielen Jahren daran gewöhnt, dass die Bestie einmal im Monat eine Jungfrau frisst.

Als mich an diesem Donnerstagmorgen zwei größere Schüler darauf aufmerksam machten, dass „mein“ Kevin neben statt ins Urinal gepinkelt hat und Kevin meine Aufregung gar nicht verstehen konnte denn schließlich hatte er ja alles wieder aufgewischt, dachte ich noch „ein ganz normaler Donnerstag eben“.  
Ehrlicherweise muss man allerdings erwähnen, dass dieser Donnerstag schon grundsätzlich von seiner vertrauten Struktur abwich denn es war am Vormittag ein gemeinsamer Theaterbesuch geplant. Toll, dachte ich noch, das entspannt die Lage etwas.

Justin hatte schon am Morgen nicht die allerbeste Laune. Man kann es ihm an der Gesichtsfarbe und den Mimikfalten im Stirnbereich immer deutlich ansehen. Ähnlich wie bei Hulk. Ich drohte ein oder zweimal ihn in der Schule zu lassen und einen Platz in der neunten Klasse zu organisieren. Aber erstens schaffte es Justin immer wieder sich knapp zu mäßigen und zweitens bin ich ja kein Arsch. Meistens jedenfalls.

Wir machen uns also alle gemeinsam auf den Weg ins Theater. Fünf Klassen mit sechs Lehrerinnen. Etwa fünfzig Kinder, alle im Alter zwischen sieben und zehn Jahren. In dieser Formation etwa eine halbe Stunde Fußweg durch öffentlichen Verkehrsraum. Nachdem Justin schon auf dem Schulhof einen Mitschüler so gewaltsam geschubst hatte, dass dieser auf anderthalb Meter den Asphalt vermaß und sich bei meiner Ermahnung losriss um dabei weitere Kinder halb umzurennen, kamen mir erste Zweifel auf, ob es wirklich sinnvoll ist, heute mal nicht Arsch sein zu wollen.

Aber die Karawane setzte sich in Gang, meine kleine Kamelherde trottete hinterher und das Justin-Kamel war so wendig, dass es mit den Anderen über die Straße gelangte. Dort flog auch schon der nächste Mitschüler in die Bordstein-Botanik. „Nein“, brüllte ich, „jetzt reicht es. Ich bring dich zurück in die Schule“. Die war ja noch in Sichtweite hinter uns. Justin interessierte aber nicht was ICH möchte. Er rannte vor mir weg, riss sich immer wieder los, schlugt nach mir, schmiss mich dabei fast noch mit um und verschwand immer wieder in der sich fortbewegenden Herde. Dabei nahm er keinerlei Rücksicht auf die kleineren Kamele. Nein, er trat ihnen sogar fortwährend in die Hacken, schubste und lief von hinten in ihre Beine. Neuerliche Versuche das tollwütige Kamel zum Umkehren zu bewegen. Aber nix da. Auch die anderen Kameltreiber/Lehrerinnen hatten dabei kein Glück. Und so prügelt sich Justin durch die Hälfte des Weges. 

Nachdem ich gemeinsam mit einer Kollegin (Ü60, dabei beinah selbst K.O. gegangen) einen Mitschüler aus Justins Würgegriff befreit hatte indem jede von uns kräftig an einem Arm und einem Kind gezogen hat, beschloss ich zuerst die Schulleitung und dann die Mutter anzurufen. Die Schulleitung war auf Grund dringender Kaffeepause vorrübergehend nicht erreichbar. Die Mutter erreiche ich an ihrer Arbeitsstelle. Sie versprach so schnell wie möglich zum vereinbarten Treffpunkt zu kommen. 

Während ich telefonierte, rannte eine engagierte Kollegin Justin und einem Opfer durch die Wildnis hinterher, der Ausflug endete an einem Dreimeter-Abhang. Auch diese Kollegin hatte wie ich 7 bis 9 weitere Kinder zu betreuen. Eine KLASSE. Nicht nur EIN Kind. 

Nachdem alle Kamele wieder mehr schlecht als recht Teil der Karawane sind ging es weiter in Richtung Ziel. Als Justin aber an Hauptstraßen und Ampeln weiterhin ohne Rücksicht durch die Gruppe rempelt, pöbelt, schubst und tritt, ich dabei noch eine Nahtod-Erfahrung mit LKW machte als ich auf die Fahrbahn trat um die Gruppe zu überholen und damit näher an Mr. Hyde zu sein, wurden auch die Kollegen immer ungeduldiger. Ich soll die Polizei rufen, wir können nicht länger warten. Er bringt ALLE in Gefahr. 

Gut, dachte ich, das wollte ich schon lange, umso besser wenn mir Kollegen diese Entscheidung bestätigen. Mit zitterndem Finger wählte ich den Notruf, inzwischen setzte sich das Inferno fort. Der Beamte am anderen Ende hat Mühe mein Anliegen zu verstehen. Sechs Lehrerinnen? Ein Schüler schubst? Sie werden damit nicht fertig? Äh…okay. Ich schicke jemanden. 

Ein paar Meter weiter brachten wir die ganze Gruppe zum Stehen. Nur so konnten wir auch Justin an Ort und Stelle halten. Er stand da, bewegungslos. Ein bisschen wie ein ausgeflippter Löwe, den die Wärter in Ruhe lassen damit er sich beruhigt und der Tierarzt mit dem Blasrohr besser zielen kann. Keiner sprach ihn an. Jeder wusste dass das jetzt besser war. Die Kleinen aus der Eins flüstern: "Kommt jetzt wirklich die Polizei?" und machen dabei riesige Augen.

Zehn Minuten später kam ein Streifenwagen angerollt.  Wir befanden uns an einer Art Busbahnhof mit Ladenstraße und entsprechendem Publikumsverkehr. Ich wage zu behaupten, dass das was die Passanten gleich geboten bekamen besser war als das Blaulicht-Programm am Nachmittag der Privaten Sender. Es ging ganz schnell. Der feiste Beamte fragte mich um wen es geht. Fachmännisch drängte er Justin in eine Ecke um ihm keine Fluchtmöglichkeit zu geben. Justin für seinen Teil schien in diesem Moment so erstarrt, dass er ohnehin wohl kaum noch zum Rempeln und Flüchten in der Lage gewesen wäre. 

Im Hintergrund rollte unterdessen ein Sixpack an. Zwei Beamte sprangen heraus und stellten sich mit Lederhandschuhen und schulterbreit geöffnetem Schritt eindrucksvoll vor die Gruppe. Der schöne Beamte drehte sich um und meinte in deeskalierendem Tonfall: „Fahrt euch runter, es geht um einen Neunjährigen!“. Seine einsatzbereiten Kollegen rückten ab und er ließ sich von mir alles nochmal erklären, nahm jede Menge Daten auf. 

Die nun friedliche Karawane zog indessen weiter. Schließlich sollte in zehn Minuten die Vorstellung beginnen. Ich rief die Mutter an und sagte ihr, dass sie ihren Justin nun nicht am Theater sondern bei der Polizei abholen müsse. "Sie müssten aber mitkommen, aufs Präsidium" sagte der schöne Polizist. Klar, dachte ich. Kein Problem. Das schlimmste scheint ja vorbei und mal setzen wäre angesichts meiner Puddingknie auch ganz nett. 

Auf der Wache erklärte ich noch einmal wie es zu alle dem kam, dass Justin eigentlich auch ein ganz Lieber sein kann, dass wir auch in der Schule schon ähnliche Auseinandersetzungen hatten, wir uns dort ja nun mal aber nicht im öffentlichen Verkehrsraum befinden. Da kam Justin mit dem Feisten aus dem Nebenraum. Justin würde mir etwas sagen, informierte mich der übergewichtige Staatsschützer. „Nschuldgng“ nuschelte er hervor während er das Kinn fest auf die Brust presste. Ich lege meinen Arm um ihn: „Mensch Justin“, sagte ich, „musste das heute echt sein? Ich hab dich gerne, deswegen hab ich dich mitgenommen. Und dann sowas…“ 

Daraufhin ging der Schöne mit Justin raus, während mir der Feiste eine Art Vortrag hielt. Inhaltlich irgendwie eine Mischung aus Erklärung, warum auch ich mit aufs Revier musste und Vorwurf, meine Baustelle zum Problem der Staatsgewalt zu machen. 

Wenig später trafen die Eltern ein und ich erzählte die ganze Geschichte nochmal. Einsichtig waren sie aber auch hilflos. Ich kann‘s verstehen. Justins Kinn war immer noch auf der Brust festgewachsen. Die Tränen kullerten. Im Telefonat mit der Schulleitung ist von vorrübergehendem Schulausschluss die Rede. Die Eltern bestanden auf ein persönliches Gespräch. Die Staatsgewalt gab uns frei und unser betröppeltes Grüppchen machte sich auf den Weg nach Mordor, äh in die Schule.

Ortswechsel - Schreibtisch der Schulleitung: nun schon zum vierten Mal rekapitulierte ich die Geschehennisse des Vormittags. Im Kreisgespräch um Schuldzu- und Abweisungen deeskalierte ich zumindest diese Angelegenheit am Ende erfolgreich (Randnotiz: sensible Gesprächsführung gehört nicht zur Kernkompetenz meines Vorgesetzten) und wir gingen alle „friedlich auseinander“. Ich würde Justin wohl ein paar Tage nicht mehr sehen. Dem Menschen in mir tat die Familie unheimlich leid, der Mutter in mir tat vor allem die Mutter leid, die kaum etwas sagen konnte. Der Lehrer in mir atmete auf.
   
Zwei Stunden später stand ich nach Dienst im Lehrerzimmer und erzählte ein paar Kolleginnen von dem Vorfall. Alle sind ganz entsetzt. In einer Gesprächspause sagt eine Kollegin plötzlich: „Soll ICH euch mal was erzählen? Meine Schülerin X wird von Schüler Y regelmäßig dazu genötigt ihn nach dem Unterricht zu befriedigen während Ys Kumpels dabei zuschauen…“ (Randnotiz: X und Y besuchen eine siebte Klasse).

Kennt ihr diese Gespräche im Wartezimmer beim Arzt? Wenn eine Oma der anderen Oma von ihren Gebrechen erzählt und sie sich dabei übertrumpfen als wären ihre Diagnosen wertvolle Pokemons? Arthrose schlägt Gürtelrose. Positiver Nebeneffekt ist, dass sich die Verliererin dieses Matchs gleich gar nicht mehr sooo krank fühlt.

Auf meinem Nachhauseweg sprach ich auf einem Supermarkt-Parkplatz eine Frau an, auf deren Auto Werbung für eine private Haushaltshilfe angebracht ist. Ich wünsche mir schon lange jemanden, der meine Fenster putzt. Sie gab mir ihre Karte und wies mich aber gleich darauf hin, dass es zur Zeit sehr schlecht aussieht. Zu viele Kunden – keine Zeit. Ich stieg ins Auto und kam ins Grübeln. Haushaltshilfe … Putzen, denke ich, scheint ein gefragter Job zu sein… . 

Inzwischen hat Justin übrigens schon zwei Freigänge genutzt um sich zu bewähren. Zwar MIT Einzelbetreuung aber OHNE nennenswerte Zwischenfälle...

Tut euch den Gefallen und folgt mir auf FACEBOOK ;-) 

4 Kommentare:

  1. Oh Mann, ich musste mal einen Schüler mit Polizeigriff am Boden fixieren - er hätte mit seinen sieben Jahren die gesamte Klasse inkl. Mitschüler und mir kurz und klein geschlagen. Das Goldengelchen meinte aber dann eh nur, dass ich eine schw.le F.tze sei. Glg Uli

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    1. Ein Schüler aus der Neunten nannte mich mal "den Dreck unter seinen Schuhen". Da hat er sich sprachlich ja echt Mühe gegeben... 🤔😅
      Eine Kollegin, die für verhaltensgestörte Schüler ausgebildet wurde meinte wir hätten uns zu dritt auf den Justin werfen sollen. So würde die das an den Erziehungshilfeschulen im Notfall machen. Das wäre für die Passanten dann wohl noch verstörender gewesen 😅🙈
      LG Frau Müller

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  2. Wow - das ist ja mal ne Geschichte... Ich hatte auch mal einen Justin der gerne mal aus der Reihe tanzte, (Ironie?! ;-)) Aber also mit der Polizei musste ich zum Glück nie kommen...
    Ich bin gerade ziemlich Happy deinen Blog und deine Geschichten entdeckt zu haben - danke für deine unterhaltende Art des Schreibens! =)

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    1. Tatsächlich ging es mir an dem Tag an dem das alles passierte nachmittags ziemlich schlecht. War wohl alles etwas viel und in der Situation funktioniert man dann einfach... und irgendwann muss der angestaute Druck dann raus. Umso mehr freu ich mich wenn ich einen Teil des Drucks beim Bloggen der Geschichte ablassen kann und gleichzeitig den Menschen damit Spaß und Freude machen kann. Ich nenne das Emotions-EBAY, Über Gefühle die man selbst nicht mehr braucht und die man los werden will freut sich jemand anderes!
      Ganz liebe Grüße,
      Frau Müller

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