Ein
ernsthaftes Wort vorweg: Ich bin mir völlig bewusst, dass Inklusion ein
Menschenrecht ist, welches jedem zusteht und das ich auch mit diesem Artikel niemandem
absprechen möchte. Meine nennen wir es „kritische" Auseinandersetzung bezieht sich auf berufliche Erfahrungen in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit
massiven Lernschwierigkeiten und die derzeitige Auslegung des Nationalen
Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hier in meinem Bundesland. Jedem, der sagt: Inklusion? Bei uns funktioniert das hervorragend, den beglückwünsche ich. Vielleicht kommt der ein oder ander aber auch ins Nachdenken. Inklusion ist eben nicht nur das glückliche Kind im Rolli, mit Asperger oder einem Cochlea-Implantat zwischen völlig gesunden Kindern. Es sind eben auch viele, viele Kinder mehr, deren Aufwachsbedingungen das Handicap sind...
Ich hab es im Gegensatz zum
letzten Jahr bei Facebook nicht an die große Glocke gehängt, aber kürzlich fand
das diesjährige Casting „Deutschland sucht den Superkevin“ zum Zwecke der
Nachwuchsgewinnung in unserer Bildungseinrichtung für Langsamlerner statt.
Kurz: Begutachtung und Diagnostik der Schulanfänger, die aufgrund umfassender
Auffälligkeiten in gleich mehreren Entwicklungsbereichen sehr wahrscheinlich
Schwierigkeiten an einer Grundschule haben werden. Als ich am Nachmittag des
ersten Tages den kleinen Müller aus dem Hort abhole, halte ich wie fast immer
ein kleines pädagogisches Schwätzchen mit der Erzieherin. Ich erzähle ihr von
meinem Vormittag und sie schaut mich mitten im Satz mit großen Augen und
offenem Mund an:
„Wie? Vorschüler? Da gibt’s das auch schon?“
„Ja, sicher gibt es das. Und
wie. Was glaubst du, was uns für Kinder vorgestellt werden. Du machst dir kein
Bild.“
Sie schüttelt betroffen und ungläubig den Kopf:
„In all den Jahren, in
denen ich hier und im Kindergarten als Erzieherin arbeite, habe ich nicht ein
einziges Kind gehabt, bei dem ich Grund zum Zweifeln gehabt hätte. Ich kann das
gar nicht glauben.“
Mir geben ihre Worte zu
denken. Woran liegt es, dass die Wahrnehmungen und Erfahrungen so weit
auseinander gehen? Tatsächlich wurde uns noch nie ein Kind aus diesem
Kindergarten gemeldet, der das zu großen Teilen von einer ortsansässigen
Stiftung finanzierte Herzstück unserer Viereinhalbtausend-Seelen-Gemeinde bildet.
Ein Drittel der Menschen hier hat sich in den Neunzigerjahren den Traum vom
Eigenheim erfüllt, die anderen vererben Haus, Hof und Garten von Generation zu
Generation. Eine kleine Neubausiedlung gibt es auch. Dort wohnen überwiegend
Rentner und ein paar Familien. Arbeitslosigkeit gibt es hier so gut wie gar
nicht. Hier passt der eine auf den anderen auf. Das kann auch manchmal nerven,
aber mit der richtigen Portion Misanthropie und Ignoranz hat es in der Summe
mehr Vor- als Nachteile.
Und dann überlege ich, aus
welchen Kindergärten unsere potentiellen Superstars der Förderschul-Unterstufe
gemeldet werden. Da gibt es einen mitten in der benachbarten Kreisstadt, direkt
angrenzend an einen Straßenzug, dem sein Ruf vorauseilt. In dem Menschenschwarz-weiß-rote Flaggen als akzeptable Fensterdeko betrachten, Kinder auch
wochentags nach 21 Uhr mit viel zu großen Turnschuhen, offenen Schnürsenkeln
und kurzen Hosen im März ihre am Eistee nuckelnden Geschwister im Buggy um die
Häuser schieben und Eltern noch schlafen, wenn ihre Sprösslinge mit den selbst
geschmierten Stullen (oder der Milchschnitte) im Gepäck die Wohnung zum Zwecke
des Schulbesuchs verlassen. Der E-Zigaretten-Fachhandel, An- und Verkäufe und Spielotheken prägen das Straßenbild.
Im Kindergarten bietet sich
das gleiche seltsame und irgendwie trostlose Bild. Erzieher, die sich scheinbar allen beruflichen Enthusiasmus eingebüßt haben und in einer Mischung aus Resignation und mechanischen
Funktionierens auf die Saiten der Gitarre einhacken als wäre es ein Waschbrett
und kein Musikinstrument, nur um fünf Minuten später die Kinder wieder sich
selbst überlassen zu können.
„Vorschule.. ach, sie meinen ich soll mal was
kopieren? Kleinen Moment.... Kinder, kommt mal her. Die Beate hat euch ein
hübsches Blatt mitgebracht.“ Und dann sind da noch die Kindergärten aus den
Neubaugebieten der umliegenden Kleinstädte – gleiche Szenen, andere Architektur. Von dort kommt, bis auf wenige Ausnahmen, unser elitärer Nachwuchs.
In den letzten Jahren hat
sich jedoch etwas verändert. Das bemerkt auch die Schulpsychologin. Seit
nämlich alle Welt über die hochgelobte Inklusion diskutiert und die
Schreibtischtäter der Bildungspolitik unseres Bundeslandes alles daran setzen,
diesen Begriff aus seinem theoretischen Dornröschenschlaf unvermittelt
aufzuwecken und in unser Schulsystem zu pflanzen, werden es immer weniger
Kinder, die an unserem Casting für die Bildungselite links auf der Gaußschen
Kurve teilnehmen.
Jetzt könnte der unreflektierte Leser meinen „Na das ist doch
prima!“. Das ist es aber mitnichten. Denn proportional zur Teilnehmerzahl sinkt auch
der Durchschnitts-IQ der gesamten Gruppe. Und trotzdem werden, nur weil in irgendeinem Ministerialblatt plötzlich neue Verordnungen stehen, deren schwammige Umsetzung schon an fehlenden Mitteln und Fachpersonal scheitert, die Kinder nicht per Knopfdruck schlauer. Wo sind denn jetzt die Förderschüler hin?
Die Eltern sind nicht
mehr verpflichtet, ihr Kind trotz entsprechender Indikation auf die Förderschule
zu schicken. Hört sich ja erstmal gut an. Was dann allerdings gar nicht mal so
selten passiert, ist folgendes: Die Eltern erzwingen den Besuch einer
Regelschule auf Basis ihres Wahlrechts und entgegen aller Empfehlungen. Das Kind kommt in einer Klasse mit
knapp dreißig Kindern und einem Pädagogen an, der im aller günstigsten Fall kein Quereinsteiger ist. Dort durchleidet das überforderte, unfertige
Menschlein mehr schlecht als recht das erste Schuljahr und wird im Lehrplan
mitgeschleift wie der tote Fuchs im Radkasten des Passaratis der Müllerfamilie
im letzten MeckPomm-Urlaub.
Vielleicht empfiehlt der ambitionierte
(Neu)Pädagoge den Eltern die Wiederholung des ersten Schuljahres, vielleicht
rät er aber auch zu einer Überprüfung durch die Förderschule. Weil aber die Nachbarn
oder die besten Freunde jemand kennen, dessen Kind auch auf die Förderschule
geht – assige Leute sind das dort –
und sie außerdem kürzlich in der Zeitung lasen, dass Förderschulen bald abgeschafft
werden, lehnen die Erziehungsberechtigten dankend ab, in der Annahme ihrem Kind
etwas Gutes zu tun.
Klasse Zwei beginnt und der Alptraum für Finley, Jason,
Samantha oder Celina geht weiter. Bis es nicht mehr geht. Wenn es gut läuft,
dann zieht er oder sie sich einfach zurück, igelt sich ein und macht die
tägliche Konfrontation mit dem eigenen Unvermögen still mit sich selbst aus,
vielleicht kommen aber auch Bauch- oder Kopfschmerzen dazu. Wenn’s aber dumm
läuft, wird Jason ein fieser kleiner Störenfried, das Arschkind der Klasse, das
keiner mehr leiden kann. Dass Jason allerdings einfach nur reagiert, sieht
keiner.
Ungünstiger Weise ist vor
der Einschulung auch noch eine Zurückstellung erfolgt, schließlich „verwächst
sich ja auch so einiges“ und „Kinder sollte man so lange wie möglich Kind sein
lassen“. Jeremy oder Jason, völlig egal, ist mittlerweile fast neun Jahre alt und damit zu alt, um
nochmal ganz von vorne anzufangen. Er kommt also zu einem Zeitpunkt in die
Förderschule, zu dem selbst dort nicht unwesentlich viel Wichtiges längst
gelaufen ist. Denkt daran – Jeremy war der tote Fuchs. Er hat weder von der
Fahrt durchs sommerliche Seenplattenidyll noch von anderthalb Jahren Grundschule
viel mitbekommen.
Diese Lücken in der verbleibenden Zeit zu schließen, ist eine
Mammutaufgabe für Jeremy und seine engagierten Pädagogen.
Man bedenke: Warum
hat Jeremy bisher nicht erfolgreich lernen können? Weil seine intellektuellen
Beinchen einfach zu kurz waren. Und mit kurzen Beinen rennt man eben nicht so
schnell wie die anderen. Man hätte ihm Gehhilfen anbieten können, stattdessen
ist er einfach umgerannt und niedergetrampelt worden. Jetzt läuft er in der
„Kurze Beinchen“-Gruppe mit. Weil Jeremy aber lange gar nicht gelaufen ist und
auf ihm herumgetrampelt wurde, hat er Mühe überhaupt auf die Beine zu kommen.
Kurz: er muss jetzt trotz seiner Lernschwäche in zwei Jahren lernen, was er
auch in vier Jahren hätte lernen können. Weil Zeit vergeudet wurde. Ob er das
schafft, ist fraglich. Im schlimmsten Falle wechselt Jeremy nach einigen Jahren
erneut die Bildungseinrichtung und geht den letzten abwärts möglichen Schritt.
Und das, obwohl die Eltern und Bildungspolitiker ja immer nur sein Bestes
wollten. Kinder, die nach zwei Jahren Grundschule kein einziges Wort lesen oder
schreiben können, sind das Ergebnis dieses guten Willens.
Jeremy kam zu spät zu uns.
Aber auch Lilly, Malik, Tim, Josua und Benjamin kamen zu spät – und das, obwohl
sie ihre Einschulung noch vor sich haben. Sie kamen mit einem IQ von um die 60
und den Wahrnehmungsleistung von Granitgestein. Sie äußern sich in Einwortsätzen,
können sich nicht alleine umziehen und wissen nicht, wie man einen Stift hält.
Wohl aber wie man ein Tablet bedient. Sehr wahrscheinlich wird die Hälfte
dieser Kinder niemals wirklich schreiben oder lesen lernen. Die Kinder kommen
alle samt aus den oben beschrieben Kindergärten und Wohngebieten.
Aber wo sind unsere "guten"
Förderschüler? Die mit Potential? Die, die bei guter Förderung das Zeug zum
Hauptschulabschluss haben? Die bekommen im Sommer eine nette Zuckertüte und werden anschließend
von 25 Kindern und einer Quereinsteigerin, die mal eine Fabrik geleitet hat,
überrannt, nur um dann in zwei Jahren von uns leblos aus dem Radkasten gezerrt
zu werden und die Jeremy-Karriere anzupeilen.
Inklusion in der Schule. Das ist die
Palme, die wir im Urlaub so bewundern, die uns ein perfektes Bild von Ruhe und
Entspannung vermittelt und die kläglich eingeht, wenn wir sie ins manchmal
zumindest für Palmen recht unwirtliche deutsche Klima verfrachten. Inklusion –
das ist in meinen Augen aber auch die Reanimation, die erst dann beginnt, wenn
die Leichenstarre schon eingesetzt hat. Ich habe noch keinen einzigen Pädagogen
im hiesigen Bildungssystem getroffen, der die Art wie Inklusion gegenwärtig
hier umgesetzt wird, für gut befunden hat.
Ich kann nicht wirklich sagen, wie es richtig geht aber ich kann sagen, dass es falsch
ist, intellektuelle Ghettos zuzulassen und diese dann noch durch einschlägige Fernsehsendungen zu legitimieren. Erzählt mir nicht, dass das Aufklärungsarbeit
sein soll. Es ist ein Vorführen, bei dem sich alle, denen es besser geht,
angewidert abwenden und alle anderen die Rückmeldung bekommen, einer
zweifelhaften Norm zu entsprechen.
Ich möchte gerne glauben,
dass ich in ein paar Jahren Seite an Seite mit Grundschullehrern und
Förderschullehrern in einer kleinen netten Klasse arbeite, in der Kinder mit
unterschiedlichsten Lernvoraussetzungen entsprechend ihrer individuellen Stärken und Schwächen erfolgreich miteinander lernen. Klingt nach der Sprache eines
Werbeprospekts. In einer selektiven Gesellschaft wie der unsrigen belügen wir
uns selbst, wenn wir glauben, alle Menschen hätten gleiche Chancen. Was
entsteht ist eine Zweiklasseninklusion.
Für mehr Unterhaltsames,
seltener Kritisches,
immer aber müllereskes
aus Absurdistan, der MüllerMansion
und einer Quattroehe...
Ich kann deinem Blogbericht leider nur voll und ganz zu stimmen!
AntwortenLöschenMeine beiden Kinder haben, mit Abstand von zwei Jahren, jeweils aus ganz unterschiedlichen Gründen auf einer Förderschule gestartet.
Der Große hatte aufgrund einer nicht diagnotizierten Ohrenerkrankung (Danke an den Kinderarzt, der mir zwei Jahre lang erzählen wollte "das wächst sich aus, Jungs sind halt sprachfaul") eine massive Entwicklungssörung im Bereich Sprache. Niemand wagte eine Prognose, ob das Kind überhaupt lesen und schreiben lernen würde. Und tatsächlich hat es 1,5 Jahre gebraucht, bis der Groschen fiel und im Gehirn die Erkenntnis endlich zündete! Zeit, die er auf einer Regelschule niemals gehabt hätte!
Beim Kleinen Kind spielten neben der Sprache auch andere Faktoren eine Rolle. Im Kindergarten hatte ich einst eine fette Diskussion, weil man dort nicht verstehen konnte warum ich mich einst dafür ein setzte dieses Kind in einen "normalen" Kindergarten zu bekommen, um dann jetzt doch den Schritt zur Förderschule zu machen. (Weil dieses Kind fast nur Kinder mit Handycap um sich herum kannte, ich aber wollte dass er als Kleinkind auch durch "normalen" Kinder geprägt wird!)
Diesen Schritt konnte man dort einfach nicht nachvollziehen.
Das Große Kind ist noch während der Grundschulzeit auf die Regelschule gewechselt, weil er am Niveau seiner Mitschüler leider irgendwann nicht mehr wachsen konnte und (als KLassenbester) gemobbt wurde. Das klappte zunächst zwar gut, was aber auch am echt engagiertem und aufgeschlossenem Lehrer lag. Mit dem dritten Schuljahr bekamen wir leider eine "alte" Lehrerin für die das Gymnasium das übergeordnete Ziel war. Mein Kind konnte das natürlich nicht leisten, und diente ab da nur noch als schlechtes Beispiel!
Mit dem Wechsel auf die Hauptschule war das Kind dann plötzlich wieder Klassenbester. Und wieder wechselten wir aufgrund von Mobbing die Schule! Inzwischen besucht er eine der besten Gesamtschulen der Gegend, steuert einen guten Realschulabschluß ab, und hat bereits Pläne für die berufliche Zukunft.
Das kleine Kind haben wir aufgrund der schlechten Erfahren in der Grundschule bis zum Ende der vierten Klasse auf der Förderschule gelassen. Er wurde dort allerdings auf höherem Niveau unterrichtet als seine Mitschüler. Allerdings hatte er mehr Glück mit seinen Mitschülern und wurde nicht gemobbt.
Von dort wechselte er, ohne weiteren Förderbedarf, direkt auf eine Realschule. Er hätte auch auf ein Gymnasium gedurft, aber wir wollten ihm nicht gleich dem enormen Leistungsdruck dort aus setzen.
Er ist ein überwiegend guter Schüler mit Höhen aber auch Tiefen. Seine mangelnde Sozialkompetenz steht ihm manchmal im Weg, aber er ist auf einem guten Weg.
Aktuell sind 6 "normale" Kinder seiner Klasse akut versetzungsgefährdet!
Beide Kinder hätten im Regelsystem die individuelle Zeit, die sich brauchten um sich entwickeln zu können, niemals erhalten!
Das ist eine unheimlich spannende Geschichte. Solche Geschichten müssen viel öfters erzählt werden, um den Eltern Vorbehalte zu nehmen. Ich freu mich total, dass deine Jungs beide so einen tollen Weg gegangen sind. Da gehören auch engagierte und sensible Eltern dazu, die notfalls fürs Kind kämpfen. Aber natürlich auch Lehrer und Schulen, die individuelle Wege zulassen und fördern. Was mich im positiven Sinne verblüfft, ist die Möglichkeit nach der vierten Klasse der Förderschule auf eine Realschule wechseln zu können. Das ginge bei uns gar nicht, auch wenn differenziert unterrichtet wird. Dafür ist der Lehrplan gar nicht konzipiert. Bei uns ist es in 98% der Fälle so, dass der Weg weg von der Förderschule nur noch abwärts aber nicht aufwärts führt. Vielleicht sollte man dort ansetzen. Aber das sind LEIDER in hiesigen Gefilden Luxusprobleme...
LöschenLG
Frau Müller