Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 13. September 2017

The truth beyond the Klassenzimmertür: Ein Arbeitstag mit Frau Müller – Schulpraktische Studien Teil 1



Heute seid ihr Studenten der Förderpädagogik im Grundstudium, das heißt ihr dürft Zeit in der Schule verbringen – ganz nah an der Praxis sozusagen – ohne dass ihr selbst aktiv werden müsst. So war das zumindest zu der Zeit, in der ich einst meine berufliche Qualifikation erwarb. Das ist ein bisschen wie bei diesen mutigen Tauchern in den Stahlkäfigen zwischen den Haien. Nach dieser Erfahrung könnt ihr überlegen, ob ihr auch mal ohne schützenden Käfig mit den Haien spielen wollt oder ob ihr Haie einfach scheiße findet. Wenn ihr euch für Ersteres entscheidet, dann achtet darauf, dass ihr nie blutet und immer genug Futter dabei habt. Stellt ihr jedoch eher fest, dass Schwimmen mit Haifischen nicht so euer Ding ist, dann lautet die Diagnose Praxisschock.


„Schatz, du hast heute morgen Aufsicht!“, dringt es von der anderen Seite des Bettes an mein Ohr. Gerade wollte ich Herrn Müller zum fünften Mal auffordern, die Schlummertaste zu drücken. Er hat mich schon im letzten Schuljahr zuverlässig an meine Aufsichtstermine erinnert. 
„Fuck, stimmt. Ach verflucht!" und aus Trotz selbst auf die Schlummertaste gedrückt.  Also dann heute akzeptieren, dass der Lidstrich nicht symetrisch ist, den Ladyskaffee nur zur Hälfte austrinken, den kleinen Müller ins Auto scheuchen und ab, um vor der örtlichen Grundschule das Kind abwerfen. 

Im zweiten Schulbesuchsjahr des Minimüllers habe ich mich an den irritierenden Anblick meines Kindes gewöhnt, das den vorbeigehenden Klassenkameraden mit steinerner Miene den Rücken zudreht, so lange bis diese ganzen lauten Kinder außer Sichtweite sind, damit die letzten Meter zur Schule in herrlich ruhiger Einsamkeit zurück gelegt werden können. Ist eben mein Sohn.

Vor unserer Förderschule sind Parkplätze immer rar, also ist Resteparken angesagt, für diejenigen, die keine feuchte Wohnung haben und nicht schon eine Stunde vor offizieller Anwesenheitspflicht die heiligen Hallen bevölkern. Heißt also, ich parke in den Lücken längs zur Fahrrichtung, an denen meine Kolleginnen mangels autofahrerischer Fähigkeiten vorbeifuhren. Ja, einparken kann ich einigermaßen. Herrlich, wenn der Tag mit einem Erfolgserlebnis beginnt, doof nur wenn es das Einzige des Tages bleibt. Noch blöder, wenn irgendjemand besser einparken kann als ich und nur noch Plätze an der Hauptstraße übrig sind. Abgefahrene Außenspiegel traumatisieren langfristig. Das Gefühl, nach so einem Parkplatztag das Vehikel unversehrt vorzufinden, gleicht einem negativen Schwangerschaftstest.

Tasche reinbringen und direkt nach hinten durch zum Schülereingang. Heute ist Frühaufsicht, das bedeutet die bildungshungrige Meute, die entweder zu früh von den Eltern vor die Tür gesetzt wurde oder einfach die Busverbindungsarschkarte hat, davon abhalten, die Anwohner morgens halb Acht mit NeuKöllner Klassik aus ihren Smartphones und BlueTooth-Lautsprechern zu beschallen beziehungsweise in Abhängigkeit der Witterung, alles was Beine hat und im ersten Moment nicht als Lehrkörper identifizierbar ist, mit Schneebällen zu bombardieren. 

Schulhofsadomasochismus: masochistisch lächeln und winken, wenn die eigenen Erstklässler sich über das Wiedersehen am Morgen freuen und schon aus 50 Metern Entfernung „Hallo Frau Müllaaaa!“ rufen, dabei mehrfach über ihren auf dem Boden schleifenden Turnbeutel stolpern und du weißt, dass sie dich gleich umarmen wollen, an der Schultür für alle aber gut sichtbar der „Achtung – Wir haben Läuse“-Zettel hängt. Im nächsten Moment sadistisch lächeln und demonstrativ „Guten Morgen“ sagen, wenn die Karawane der Sieben- bis Neuntklässler stumm und blickkontaktmeidend an dir vorbei zieht und sich dabei über das Spachtelmake-up und die Smokey-Eyes der zukünftigen Influencerinnen amüsieren.

Wenn das letzte Opfer der Schulbesuchspflichtjahre im Höllenschlund verschwunden ist, geschwind ins Lehrerzimmer, das Klassenbuch holen und schnell was kopieren. Dabei entweder pseudokollegial tausend entgegen gestreckte Hände schütteln oder eine Erkältung vortäuschen, um die eigene Hand bei sich behalten zu dürfen ohne unsozial zu wirken. 
Am Kopierer steht eine Schlange und alle sind am Labern: 
„Nordic Walking hier… Räucherkäse da… Zucchinisuppe lecker ... das letzte Spiel war eine Katastrophe“. 
Lächeln und Winken. 
„Bla, du hast aber die Haare schön, blabla, Frau Müller, deine Ohrringe/Schuhe/ irgendwas anderes klamottenmäßiges sind/ist aber toll.“ Lächeln und Winken. 

Es klingelt, alle sind plötzlich weg und der Kopierer endlich frei. Er spuckt zwei Blätter aus und sagt mir dann freundlich-fordernd „Bitte legen sie mehr A4-Papier ein!“ Verdammte Axt, das Papierkarma. Also eine Etage höher im Sekretariat um Kopierpapier flehen und wieder runter. Die Zeit, bis der Kopierer begriffen hat, dass jetzt mehr Papier vorhanden ist, fühlt sich genauso lange an wie die letzte Minute auf dem Waschmaschinendisplay vor dem Freischalten der Tür.

Im Klassenzimmer angekommen stellt man fest, dass das Klassenbuch noch fehlt. Egal, braucht eh kein Schwein. Und Feueralarm wird es ja wohl jetzt nicht geben, nicht um die Zeit. Da ist Frühstück in der Schulleitung. Fünf Minuten vergehen bis alle Arbeitsmittel in überschaubar hübschen Häufchen auf den entkrümelten Schülertischen liegen. Was nämlich leider immer zuerst ausgepackt wird ist das Frühstück. Das sorgt dafür, dass schon vor der ersten Stunde die Möbelpolitur aus Nutella und Butter auf den Tischplatten erneuert wird.

Wenn die Milchschnitte und auch der letzte Babybel den kindlichen Schlund in Richtung Magen passiert haben, singen wir das Begrüßungslied. Die Tatsache, dass ich nach fünf Wochen, in denen wir jeden Morgen dieses Lied hören, uns dazu bewegen und mitsingen, immer noch überlegen muss, ob nun zuerst mit den Füßen gestampft oder mit den Händen auf die Schenkel geklopft wird, gibt mir zu denken. Vermutlich liegt es daran, dass ich die 2:32min in denen der Song läuft nutze, um noch einmal geistig abzuschalten bevor der Wahnsinn losgeht. Oder ich verblöde einfach solidarisch.
 
Als nächstes werden die Hausaufgaben kontrolliert. Drei Kinder diskutieren wie jeden Tag mit mir darüber, welchen Lobstempel ich ins Heft drücke, obwohl es für Hausaufgaben schon immer nur ein „Super“-Blümchen gibt. Fünf Kinder wissen nicht, in welchem Hefter die Hausaufgabe war, dabei haben wir nur zwei. Einen roten und einen blauen. Und einer heult, weil er die Hausaufgabe nicht hat. Jaaa, in Klasse 1 sind Eltern und Kinder noch hochmotiviert.

Danach machen wir irgendwas, bei dem jeder mal an die Tafel schreiben oder malen kann. Alle müssen sich die Tafel unbedingt auf ihre individuelle Zwergengröße einstellen und pfefferen dabei dank innenarchitektonischer Fehlleistungen mehrmals fast meine Teetasse runter, brauchen genauso lange sich für eine von vier Kreidefarben zu entscheiden wie Margarete Schreinemakers bei der Auswahl ihrer Showbrille und malen dann so ungeschickt zwei Striche, dass dabei die Kreide abbricht und der Fingernagel auf dunkelgrünem Metall fiese Quietschgeräusche erzeugt. Jedes Kind muss einzeln davon abgehalten werden, sich sofort die blauen oder roten oder grünen oder gelben Finger zu waschen, weil sonst irgendwann alle von spritzendem Wasser und Schaumbergen im Waschbecken abgelenkt sind.

Anschließend malen wir die Zeichen von der Tafel noch einmal mit den Fingern erst in die Luft und dann auf die Bank. Einige sehen dabei aus wie Emily Rose im Zuge ihres Exorzismus, wieder andere fühlen sich so ungelenk an wie halbseitig Gelähmte bei der Physiotherapie, wenn ich ihren Arm dabei führe.

Jetzt das Ganze ins Heft. In welches? In das Heft, in dem wir seit fünf Wochen jeden Tag schreiben. In das rote? In das? Ja, in das. 
„Alle Kinder nehmen einen Bleistift!“ Drei nehmen einen Bleistift, vier irgendeinen anderen Stift, zwei machen gar nichts und der Rest fragt zum fünfzehnten Mal, warum wir nicht mit Füller schreiben. 
Wenn der erste gleich seinen Bleistift weg wirft, die Hand hoch reißt und „Fääärtisch!“ ruft, sucht der andere noch einen Bleistift. 
Frau Müller mittendrin. 

Mach doch was mit Steinen, hatten sie gesagt. Steine reden nicht, hatten sie gesagt.
Kennt ihr dieses Spiel aus den Spielhallen, bei dem Trolle unvermittelt aus irgendeinem Loch auftauchen und man mit so einem großen Holzhammer möglichst schnell draufhauen muss, damit sie wieder verschwinden? So ungefähr fühlt sich dieser Unterrichtsschritt an. Hier ein Lob, da eine Aufforderung doch endlich mal anzufangen, dort verhindern, dass über drei Zeilen gleichzeitig gemalt oder die erste Zeile mit der rechten und die zweite mit der linken Hand geschrieben wird. Zwischendurch Fabians Hand führen, damit wenigstens eines der Zeichen der Vorgabe ähnelt. Danach schnell Hände waschen. Die Hand war klebrig. Fabian hat Schnupfen. Immer.

Dann eine Runde Smileys verteilen und der Hälfte der kleinen Selbstüberschätzer erklären, warum ich heute leider kein Foto für sie habe …äh… warum die Smileys in meinem Stift leider schon aus sind. Irgendwie haben es dann alle geschafft. Es gibt ein Blatt für die Hausaufgabe und die letzten fünf Minuten verbringe ich damit, beim Unterscheiden des roten vom blauen Hefter zu helfen und anschließend komplett verdrehte Blätter wieder aus- und richtig einzuheften. 

Bis zum Klingeln nach diesen 45 Minuten hat Kevin fünfmal gesagt, dass er Hunger hat, dreimal gefragt, wann er frühstücken kann und sechs Mal dazu angeregt, doch ein Spiel zu spielen. Dazwischen Justin, der ganz dringend pullern musste und die Hälfte der Klasse mit dieser Not ansteckte. Alle Bedürfnisbekundungen gerne ohne vorherige Meldung mitten in meinen Lehrervortrag oder mit Fingerzeichen als sinnvollen Beitrag zum Unterrichtsgespräch.

So, jetzt ist Pause. Vielseitig nutzbare Zeit in vier Varianten:

Variante 1: man hat Aufsicht und tingelt von Zimmertür zu Zimmertür um beim Betreten des Klassenraums entweder alle andächtig an ihren Bananen nuckelnd vorzufinden oder aber epische Schlachten á la „300“ zu befrieden. Dabei ist man selbst der akuten Gefahr ausgesetzt, von herum fliegenden Federmäppchen, Brotdosen, Tafelschwämmen oder Schülerkörpern außer Gefecht gesetzt zu werden.

Variante 2: man hat keine Aufsicht und verpisst sich irgendwo hin, wo man von keinem menschlichen Wesen entdeckt wird. Arztzimmer, Klo oder ein Kellerraum sind zu empfehlen. Dort hat man die Qual der Wahl: Notdurft, Frühstück oder Whatsapp und Facebook – sicherlich ein Stück weit abhängig von der gewählten Location. Da ich selten tagsüber zum Essen und Trinken komme, daher auch keine Notwendigkeit besteht, daraus entstehenden Bedürfnissen nachzugehen, bleibt viel Zeit für das Pflegen sozialer Kontakte.

Variante 3: man entscheidet sich für die Kaffee-Runde im Lehrerzimmer. Dafür muss man Menschen im Allgemeinen und Lehrer im Speziellen mögen. Fällt für mich also aus. Spätestens nach vier Minuten zwischen diesem verlogenen Gegacker sehnt man sich nach hochfrequentem Kindergeschrei oder Tod durch Enthauptung.
Variante 4: man hat keine Aufsicht und bleibt im Klassenzimmer. Keine gute Entscheidung aber leider die am häufigsten gewählte Variante. Dort wird man dann zehn Minuten dazu genötigt, fettige Trinkflaschen zu öffnen, Bananen mit Nutellaschmauch zu schälen, freundlich lächelnd leberwurstverschmierte Plätzchen oder gar matschige Obstschnitze aus schmutzigen Kinderhänden abzulehnen oder sich langweilige und agrammatisch vorgetragene Wochenenderlebnisse anzuhören. 
„Weisst duuu, Frau Müllaaa…“ und „Hier, für dich Frau Müllaaaa!“ und schon meldet sich der Fluchtreflex. Die ständige Behelligung durch die Oberpetzen Shanaia und Shakira  - Zwillinge, rote Haare und bescheuerte Namen – nicht zu vergessen. 

Dazwischen Schreibkram. Einträge schreiben: 
„Werte Frau K., ihr Sohn hat zur Aufsichtsführenden Kollegin „Fick dich!“ gesagt, als sie ihn zur Tür schickte. Bitte sprechen sie mit ihm über dieses Fehlverhalten."
Elternbriefe beantworten: 
„Der Justin hat gestern am Bus dem Finn seine Jacke kaputt gemacht. Die war teuer. Mein Mann und ich kriegen nur Hartz IV. Können sie mir die Telefonnummer von dem Justin seine Eltern aufschreiben?"
 
Ach ja – und den Streit um die Toiletten-Rangfolge schlichten. Toiletten, Toilettenpapier und Klobürsten scheinen einen unglaublichen Aufforderungscharakter auf den kindlichen Spieltrieb auszuüben. Das heißt entweder mit nassen, stinkenden Schülerschuhen im Klassenzimmer und dem Hausmeister als Dauergast leben oder isoliertes Einmann-Pullern. Weil das Jungsklo im Unterstufenbereich schlimmer riecht, als eine rumänische Autobahntoilette, mich diese Gruppenexzesse zwischen den Porzellanschüsseln aber immer wieder zum Betreten dieses Raumes nötigen, mach ich gerne den Zweitjob als WC-Ordner und sorge für geregelten Stuhlgang ... äh ... Einzelzutritt.

Nach dem Stundenklingeln wiederholt sich das Desaster aus der ersten Stunde in leicht abgewandelter Form noch bis zu dreimal, die Fragen bleiben die gleichen. Abwechslung bringen die Wutausbrüche der schlechten Verlierer und die offenbar gesteigerte Erdanziehungskraft im Bereich einiger Schülertische, deren Platzinhaber mehr Zeit unter dem Tisch beim Suchen von Stiften, Würfeln, Kärtchen und Chips verbringen als auf ihrem Stuhl. 
Ein Bewegungslied, bei dem Frau Müller regelmäßig mehr Ausdauer im Schütteln, Wackeln und Zappeln beweist als eine Gruppe Siebenjähriger oder eine spannende Igelballpartnermassage zwischen distanzgeminderten Bewegungslegasthenikern sind die Streusel auf dem Pädagogik-Keks. 

Zu guter Letzt noch sechs von neun Ränzen selbst einpacken, auf links gedrehte Jacken umkrempeln, Mützen aus dem obersten Regalfach fischen (dabei wieder an den Läusezettel erinnert werden) und den Körperwundern beim Hochstellen der Stühle helfen. Das gute alte „Auf Wiedersehen“ im Chor und der Wahnsinn hat für diesen Tag zumindest für die Zwerge ein Ende. Für die Müllerin geht es in Runde 2. Fortsetzung folgt...

Als Lehramtsstudent im Hospitationspraktikum dürftet ihr jetzt nach Hause gehen um dort brav an eurem Bericht zu schreiben. Wenn ihr jedoch einen guten Eindruck bei eurer Mentorin (mir natürlich) hinterlassen wollt, bleibt ihr noch ein wenig und zeigt Interesse am Werkunterricht, der Töpfer-AG und einer konstruktiven Dienstberatung. Nächste Woche im Blog (Hier klicken).
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