Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 20. September 2017

The truth beyond the Klassenzimmertür: Ein Arbeitstag mit Frau Müller - Schulpraktische Studien Teil 2



An meinem Vormittag als Schneewittchen im Haus der Zwergen-Bildungselite habe ich euch bereits im letzten Blogartikel "The truth beyond the Klassenzimmertür: Ein Arbeitstag mit Frau Müller Teil 1" wortreich teilhaben lassen. Doch wer glaubt, Schneewittchen hat Zeit für prinzenrelevanten Schönheitsschlaf und ihre Maniküre während die Zwerge zurückkehren an ihre heimischen Fliesentische, der irrt gewaltig. Schließlich spielt das Leben nicht Grimms Märchen. Auch wenn es manchmal genauso grausam ist...


Mittlerweile ist es kurz vor halb zwölf. Große Mittagspause. Den König unter den Schwarzen Petern hat man, wenn man auch hier wieder Aufsicht hat. Nach vier Stunden Unterricht werden die Irren quasi auf dem Schulhof ausgewildert. Optimale Witterung: circa 17,5 Grad Celsius, bewölkt und niederschlagsfrei. Bei allen anderen Wetterverhältnissen drehen die sensiblen Schülerindividuen am Rad und pflügen übers Gelände wie eine Horde Affen nach dem ersten Schuss mit dem Betäubungsgewehr. Wenn es sein muss auch bei sengender Hitze und Sonnenschein, nur um nach der Pause mit heraushängender Zunge und hochrotem Kopf im Klassenzimmer eine Nahtoderfahrung zu machen.

Apropos Nahtoderfahrung: 
gehe nie zwischen eine Prügelei, 
bei der die Körpergröße 
mindestens eines Beteiligten 
deine eigene Körpergröße 
um mehr als die Hälfte übersteigt. 
Ich bin zum Glück nicht groß. 
Oder wie ein älterer Kollege zu sagen pflegt: 
Wir müssen unsere Ressourcen schonen – 
Schüler kommen immer nach, Lehrer sind rar.


Wenn man keine Aufsicht hat, macht man das Gleiche wie in allen Pausen – entweder sich erfolgreich verstecken oder Erledigungen, für die bisher keine Zeit war: Unterrichtsvorbereitung zum Beispiel oder leidige Telefonate mit Eltern:


 „Ja Hallo, Frau Erte-Elzwei. Hier Müller von der Hans-Meißer-Schule zur Lernförderung…neeein, es ist nichts Schlimmes passiert blabla…Federmäppchen bitte täglich kontrollieren…blabla… schon drei Wochen keinen Bleistift … blabla … hatte ich schon fünf Mal ins Hausaufgabenheft geschrieben… blablabla… sie müssen  mit der Schule zusammenarbeiten.“


Am anderen Ende: „Mimimi… den Luca-Finley-Tyron sein Papa ist ausgezogen… mimimi…kann mir die Wohnung nicht mehr leisten… wuuuhäää… muss noch umziehen bevor den Luca seine Schwester geboren wird…mimimi… Bleistifte schon in Umzugskarton… mimimi…das Hausaufgabenheft zeigt mir der Luca immer gleich wenn er um fünf mit den Taxi aus den Hort kommt … wuhäää…“


Das folgende Gestammel aus dreisten Lügen und dummen Ausreden wird übertönt vom „Dingdongdong“ und schon ist Hufgetrappel auf dem Flur zu hören. Pause ist rum. „Vielen Dank Frau Dings, einen schönen Tag noch.“

  
Die ganz Hartgesottenen gehen mittags Essen in der Schulkantine. Wenn ich ekliges warmgemachtes Essen aus Eimern und Dosen zwischen lauten und ungepflegten Menschen haben möchte, dann kauf ich mir ein Festivalticket für Rock am Ring und ne Dose Ravioli. Dort ist wenigstens die Musik besser.



 
Fächer mit einem hohen Grad an Eigenaktivität und praktischem Handeln werden ja bevorzugt auf die Zeit rund um das Mittagstief gelegt, das heißt so lange sich die Schulleitung bei der Stundenplanung diesen Luxus leisten kann. Für mich bedeutet das: Werkunterricht, yeah! 


Die Förderung im Bereich Feinmotorik, Koordination und Handlungsplanung beginnt bereits vor dem eigentlichen Unterricht, wenn die kleinen Körperwunder gefordert sind, auf ihrem Rücken aus den Bändern ihrer Schürzen eine Schleife zu binden. Bei einigen erinnern mich die ausgeklügelten Strategien an mich selbst, wenn ich abends auf dem Sofa meinen BH durch den Ärmel meines T-Shirts ausziehe. Der Rest sieht aus wie Pinguine beim Rückenkratzen. 


Eine Werkstunde kann so vielgestaltig sein – eigentlich ist dafür ein eigener Blogpost nötig. In Kurzform:


Schulgarten: für mich die angenehmste und netteste Version von Unterricht. Wenn diese putzigen Gartenzwerglein in den Furchen des Gemüsebeets kauern, Steinchen aufsammeln, ich dazwischen stehe und die kleinen Pflänzchen auf das Unkraut aufmerksam mache …halt nein, andersrum…erinnert mich das immer ein wenig an den Film „Die Verurteilten“. Schulgarten ist toll. An der frischen Luft riecht es auch in einer sechsten Klasse zur sechsten Stunde nicht nach ungewaschenen Vorpubertären. Und man braucht nichts vorbereiten. Unkraut, Kartoffeln und Bodendecker gedeihen quasi von allein. 


Töpfern und Modellieren: gut ist, wenn man das selbst nur semiprofessionell kann, denn dann sind die Ansprüche an die Schülerarbeiten auch nicht so hoch. Schlecht wenn man Schüler wie Mohammed hat, deren formbare Masse nach jedem Zwischenschritt, den man selbst erledigt um dem Kind zu helfen, wieder wie in dem Moment aussieht als man den Klumpen aus dem Eimer gefischt hat. Wie Schnee schippen wenn es schneit. Das, was den Schülern an Phantasie fehlt, braucht man als Lehrer zusätzlich, um die Lücke zwischen der Definition des Gebildes durch den Schöpfer und der deformierten Realität zu schließen.


Worst case Holzbearbeitung: es gibt hier zwei Sorten von Schülern. Die Einen, meistens die, deren Formulare für Ordnungsmaßnahmen auf dem PC der Schulleitung noch in der Taskleiste geöffnet sind um möglichst ökonomisch beim nächsten Vergehen nur das Datum zu ändern, sind wahre Paganinis an der Laubsäge. Wenn sie jetzt noch wüssten, dass Millimeter ein Längenmaß sind, könnte man sich direkt eine Zukunft im Handwerk für sie vorstellen. Und dann sind da noch die Anderen: man zieht eine Feinsäge aus dem Schrank, hält sie dem Schüler hin und die Körpersprache gleicht augenblicklich der Reaktion auf eine geladene und entsicherte Walter PP. 
Sie greifen nach den Werkzeugen mit zwei linken Händen an denen sich insgesamt zehn Daumen befinden, so als wären es Uran-Brennstäbe und sorgen auf diese Weise dafür, dass Frau Müller nach einer Doppelstunde Werken Muskelkater im Arm und Sägemehl vom Fuchsschwanzgebrauch auf ihren hübschen Schuhen hat, weil sie nicht mitverantwortlich sein möchte für den Tod von Schutz und Futter suchenden Standvögeln, die im Winter an Vogelhäuschen landen, welche eine Beleidigung für jeden TÜV-Prüfer darstellen.


Die letzten zehn Minuten einer solchen Unterrichtsstunde schenken wir der Erkenntnis, dass Dreck von oben nach unten fällt. Der Schwerkraft sei Dank. Wenn man nicht möglichst eingängig und anschaulich wiederholt, dass doch erst der Tisch abgeputzt und dann der Fußboden gekehrt wird, ergibt sich so etwas wie ein Putz-Perpetuum Mobile.


Die Kirsche auf der Pädagogen-Tagestorte verbirgt sich hinter einer schmucken Dienstberatung alle paar Wochen. Ihr könnt euch darunter nichts vorstellen? Kein Problem – das Ganze läuft in etwa ab wie ein Familienessen bei der Schwiegerfamilie. 
Alle treffen mehr oder weniger gestresst und pünktlich am Ort des Geschehens ein, während die Schwiegermutter bzw. Schulleiterin auch schon mit den Augen rollt. Sie ist es dann auch, die der Veranstaltung ihren anstrengend einzigartigen Charakter verleiht indem sie 90 Minuten wirres Zeug erzählt. Die Schwiegermutter drischt Phrasen, die aus dem Wahlprogramm der AfD stammen könnten. Die Schulleiterin stammelt irgendwas über Dienstvorschriften, Quereinsteiger und Altpapiersammlung. Dabei wirkt sie genauso kompetent und aufgeklärt wie ihr Pendant am Familientisch. Effekt beim Zuhören bei Beiden: Fremdscham und der Wunsch, an Ort und Stelle vom Blitz erschlagen zu werden.
  
Die stellvertretende Schulleiterin gibt den Schwiegervater, der sich nur ins Gespräch einklinkt, wenn er den Blödsinn nicht mehr aushält. Quittiert wird der vorwitzige Einwurf mit einem Laser-Blick, der selbst Metall trennen könnte. 


Weitere Gemeinsamkeiten zwischen Familienessen und Dienstberatungen: wenn es Alkohol gibt, hebt das die Stimmung ungemein, 
irgendjemand lacht ständig bescheuert an den unpassendsten Stellen, 
die Schlauen beschäftigen sich heimlich unter dem Tisch mit was anderem und alle, die nicht reden kämpfen gegen die Müdigkeit. 
Ach ja und mindestens einer schläft ein. 
Beim Familienessen ist das in der Regel die Oma. Bei der Dienstberatung ist das die Kollegin, die mangelnde Kompetenz mit Schwerbeschädigung ausgleicht und deswegen so fest auf ihrem Posten wie Schimmel im Mauerwerk von Gutshäusern sitzt. Das Figurenschlafen der Kollegin steht dem der dicken Omi im Seniorensessel in nichts nach und wenn die Zufallspädagogin auch sonst nichts kann, für die Belustigung des ganzen Kollegiums sorgen, in dem sie während den Redebeiträgen der Schwiegermutter… äh Direktorin gut sichtbar für alle am langen Tisch immer wieder einnickt – das kann sie. True Story.

Wie dem auch sei, genau wie bei Familientreffen werden solcherlei Zusammenkünfte bevorzugt genutzt um unangenehme Nachrichten, an die sich später keiner mehr erinnern kann oder will, unters „Volk“ zu bringen. Dennoch wird es immer heißen: „Darüber haben wir doch gesprochen!“ Haben wir? Vermutlich. Möglicherweise habe ich da aber auch gerade einen Post für Facebook geschrieben, Diktate korrigiert oder einfach diskret geschlafen. Und im Privatleben wie im Beruf freuen sich alle Beteiligten wenn das Leiden ein Ende hat.


Gegen halb drei macht Frau Müller sich endlich auf zur zweiten Schicht pädagogischen Wirkens und sammelt ihre Nachkommen ein. Sie hofft, dass beide heute möglichst wenig Hausaufgaben aufhaben. Ihre Geduld ist inzwischen so aufgebraucht wie die Plastik-Christbaumkugeln bei Ikea am letzten Wochenende vor Weihnachten. Noch schnell in die Hausaufgabenhefte kucken, rotes Gekrakel erblicken und sich fragen, welcher dieser nichtsnutzigen Lehrer heute lieber Einträge geschrieben hat, statt sich vor der Arbeit auf dem Klo zu verstecken.

"Werte Frau Müller, ihr Sohn hat heute in der Stunde
seinen Radiergummi gesucht!"
Frau Müller: "Und? hat er ihn gefunden?" 


Wenn man es zwischen oder nach den Stunden noch nicht geschafft hat, das didaktische Feuerwerk des nächsten Schultages zu planen, dann bleibt einem diese freudvolle Tätigkeit für die kostbaren Abendstunden. Ein ebenso variantenreiches Unterfangen, das stark von der intraindividuellen Motivation abhängt und in seiner Bandbreite vom Laminieren bunter selbst am PC erstellter Kärtchen über die Suchwörter „Arbeitsblatt“ und "Mandala" bei Google bis hin zur Auswahl einer Lehrbuchseite und der dazugehörigen Aufgabe im Arbeitsheft reicht. 
Seltener sammelt man Laubblätter, Blumen, Klorollen oder Bilder aus Zeitschriften. Immer allerdings reinigt man gummibehandschuht die Schreibfolien der Erstklässler mit Nagellackentferner.


Den wahren Experten erkennt man übrigens nicht daran, dass er täglich sein Equipment für jede einzelne Stunde im Trolly in die Schule karrt sondern dass er auch völlig unvorbereitet, übermüdet und wenn es sein muss auch mit 39Grad Fieber vier Stunden Klassenleiterunterricht abfeuert ohne dass Schüler oder Lehrer aus Frust durchdrehen oder dauerhafte Schäden erleiden. Ich nenne mich den Rüdiger Nehberg der Didaktik…


2 Kommentare:

  1. Liest sich mal wieder traumhaft. Ich bin gespannt auf eine Fortsetzung.

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    1. Ich hoffe Teil 2 konnte die in Teil 1 geschürten Erwartungen erfüllen. Jetzt sind zum Glück erstmal Ferien. Aber die "Rückkehr zum Planet der Affen" ist nicht all zu fern. Also wird's schon klappen mit ner Fortsetzung. Ich bin zuversichtlich.
      GlG
      Frau Müller

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