Heute
seid ihr Studenten der Förderpädagogik im Grundstudium, das heißt ihr dürft
Zeit in der Schule verbringen – ganz nah an der Praxis sozusagen – ohne dass ihr selbst
aktiv werden müsst. So war das zumindest zu der Zeit, in der ich einst meine
berufliche Qualifikation erwarb. Das ist ein bisschen wie bei diesen mutigen Tauchern
in den Stahlkäfigen zwischen den Haien. Nach dieser Erfahrung könnt ihr
überlegen, ob ihr auch mal ohne schützenden Käfig mit den Haien spielen wollt
oder ob ihr Haie einfach scheiße findet. Wenn ihr euch für Ersteres
entscheidet, dann achtet darauf, dass ihr nie blutet und immer genug Futter
dabei habt. Stellt ihr jedoch eher fest, dass Schwimmen mit Haifischen nicht so euer Ding ist, dann lautet die Diagnose Praxisschock.
„Schatz, du hast heute
morgen Aufsicht!“, dringt es von der anderen Seite des Bettes an mein Ohr. Gerade wollte ich Herrn Müller zum fünften Mal auffordern, die Schlummertaste zu drücken. Er hat mich schon im letzten Schuljahr zuverlässig an meine Aufsichtstermine erinnert.
„Fuck, stimmt. Ach verflucht!" und aus Trotz selbst auf die Schlummertaste gedrückt. Also dann heute akzeptieren, dass der Lidstrich nicht symetrisch ist, den
Ladyskaffee nur zur Hälfte austrinken, den kleinen Müller ins Auto scheuchen und ab, um vor
der örtlichen Grundschule das Kind abwerfen.
Im zweiten Schulbesuchsjahr des Minimüllers habe ich mich an den
irritierenden Anblick meines Kindes gewöhnt, das den vorbeigehenden
Klassenkameraden mit steinerner Miene den Rücken zudreht, so lange bis diese ganzen lauten Kinder außer Sichtweite sind, damit die letzten Meter
zur Schule in herrlich ruhiger Einsamkeit zurück gelegt werden können. Ist eben mein Sohn.
Vor unserer Förderschule
sind Parkplätze immer rar, also ist Resteparken angesagt, für diejenigen, die
keine feuchte Wohnung haben und nicht schon eine Stunde vor offizieller
Anwesenheitspflicht die heiligen Hallen bevölkern. Heißt also, ich parke in den Lücken
längs zur Fahrrichtung, an denen meine Kolleginnen mangels autofahrerischer
Fähigkeiten vorbeifuhren. Ja, einparken kann ich einigermaßen. Herrlich, wenn
der Tag mit einem Erfolgserlebnis beginnt, doof nur wenn es das Einzige des
Tages bleibt. Noch blöder, wenn irgendjemand besser einparken kann als ich
und nur noch Plätze an der Hauptstraße übrig sind. Abgefahrene Außenspiegel
traumatisieren langfristig. Das Gefühl, nach so einem Parkplatztag das Vehikel
unversehrt vorzufinden, gleicht einem negativen Schwangerschaftstest.
Tasche reinbringen und
direkt nach hinten durch zum Schülereingang. Heute ist Frühaufsicht, das bedeutet die
bildungshungrige Meute, die entweder zu früh von den Eltern vor die Tür gesetzt
wurde oder einfach die Busverbindungsarschkarte hat, davon abhalten, die
Anwohner morgens halb Acht mit NeuKöllner Klassik aus ihren Smartphones und
BlueTooth-Lautsprechern zu beschallen beziehungsweise in Abhängigkeit der
Witterung, alles was Beine hat und im ersten Moment nicht als Lehrkörper
identifizierbar ist, mit Schneebällen zu bombardieren.
Schulhofsadomasochismus:
masochistisch lächeln und winken, wenn die eigenen Erstklässler sich über das
Wiedersehen am Morgen freuen und schon aus 50 Metern Entfernung „Hallo Frau
Müllaaaa!“ rufen, dabei mehrfach über ihren auf dem Boden schleifenden
Turnbeutel stolpern und du weißt, dass sie dich gleich umarmen wollen, an der
Schultür für alle aber gut sichtbar der „Achtung – Wir haben Läuse“-Zettel
hängt. Im nächsten Moment sadistisch lächeln und demonstrativ „Guten Morgen“
sagen, wenn die Karawane der Sieben- bis Neuntklässler stumm und blickkontaktmeidend
an dir vorbei zieht und sich dabei über das Spachtelmake-up und die Smokey-Eyes
der zukünftigen Influencerinnen amüsieren.
Wenn das letzte Opfer der
Schulbesuchspflichtjahre im Höllenschlund verschwunden ist, geschwind ins Lehrerzimmer,
das Klassenbuch holen und schnell was kopieren. Dabei entweder pseudokollegial
tausend entgegen gestreckte Hände schütteln oder eine Erkältung vortäuschen, um
die eigene Hand bei sich behalten zu dürfen ohne unsozial zu wirken.
Am Kopierer steht eine Schlange und alle sind am
Labern:
„Nordic Walking hier… Räucherkäse da… Zucchinisuppe lecker ... das letzte Spiel war eine Katastrophe“.
Lächeln und Winken.
„Bla, du
hast aber die Haare schön, blabla, Frau Müller, deine Ohrringe/Schuhe/
irgendwas anderes klamottenmäßiges sind/ist aber toll.“ Lächeln und Winken.
Es klingelt, alle sind plötzlich
weg und der Kopierer endlich frei. Er spuckt zwei Blätter aus und sagt mir dann
freundlich-fordernd „Bitte legen sie mehr A4-Papier ein!“ Verdammte Axt, das
Papierkarma. Also eine Etage höher im Sekretariat um Kopierpapier flehen und wieder runter. Die Zeit, bis der Kopierer begriffen hat, dass jetzt mehr
Papier vorhanden ist, fühlt sich genauso lange an wie die letzte Minute
auf dem Waschmaschinendisplay vor dem Freischalten der Tür.
Im Klassenzimmer angekommen
stellt man fest, dass das Klassenbuch noch fehlt. Egal, braucht eh kein Schwein.
Und Feueralarm wird es ja wohl jetzt nicht geben, nicht um die Zeit. Da ist Frühstück in der Schulleitung. Fünf Minuten vergehen bis
alle Arbeitsmittel in überschaubar hübschen Häufchen auf den entkrümelten
Schülertischen liegen. Was nämlich leider immer zuerst ausgepackt wird ist das
Frühstück. Das sorgt dafür, dass schon vor der ersten Stunde die Möbelpolitur
aus Nutella und Butter auf den Tischplatten erneuert wird.
Wenn die
Milchschnitte und auch der letzte Babybel den kindlichen Schlund in Richtung Magen
passiert haben, singen wir das Begrüßungslied. Die Tatsache, dass ich nach fünf
Wochen, in denen wir jeden Morgen dieses Lied hören, uns dazu bewegen und
mitsingen, immer noch überlegen muss, ob nun zuerst mit den Füßen gestampft
oder mit den Händen auf die Schenkel geklopft wird, gibt mir zu denken.
Vermutlich liegt es daran, dass ich die 2:32min in denen der Song läuft nutze,
um noch einmal geistig abzuschalten bevor der Wahnsinn losgeht. Oder ich verblöde einfach solidarisch.
Als nächstes werden die
Hausaufgaben kontrolliert. Drei Kinder diskutieren wie jeden Tag mit mir darüber,
welchen Lobstempel ich ins Heft drücke, obwohl es für Hausaufgaben schon immer
nur ein „Super“-Blümchen gibt. Fünf Kinder wissen nicht, in welchem Hefter die
Hausaufgabe war, dabei haben wir nur zwei. Einen roten und einen blauen. Und
einer heult, weil er die Hausaufgabe nicht hat. Jaaa, in Klasse 1 sind Eltern
und Kinder noch hochmotiviert.
Danach machen wir irgendwas, bei dem
jeder mal an die Tafel schreiben oder malen kann. Alle müssen sich die Tafel
unbedingt auf ihre individuelle Zwergengröße einstellen und pfefferen dabei dank
innenarchitektonischer Fehlleistungen mehrmals fast meine Teetasse runter,
brauchen genauso lange sich für eine von vier Kreidefarben zu entscheiden wie
Margarete Schreinemakers bei der Auswahl ihrer Showbrille und malen dann so
ungeschickt zwei Striche, dass dabei die Kreide abbricht und
der Fingernagel auf dunkelgrünem Metall fiese Quietschgeräusche erzeugt. Jedes Kind muss einzeln davon abgehalten werden, sich sofort die blauen oder roten oder
grünen oder gelben Finger zu waschen, weil sonst irgendwann alle von spritzendem
Wasser und Schaumbergen im Waschbecken abgelenkt sind.
Anschließend malen wir
die Zeichen von der Tafel noch einmal mit den Fingern erst in die Luft und dann
auf die Bank. Einige sehen dabei aus wie Emily Rose im Zuge ihres Exorzismus,
wieder andere fühlen sich so ungelenk an wie halbseitig Gelähmte bei der
Physiotherapie, wenn ich ihren Arm dabei führe.
Jetzt das Ganze ins Heft. In
welches? In das Heft, in dem wir seit fünf Wochen jeden Tag schreiben. In das
rote? In das? Ja, in das.
„Alle Kinder nehmen einen Bleistift!“ Drei nehmen
einen Bleistift, vier irgendeinen anderen Stift, zwei machen gar nichts und der
Rest fragt zum fünfzehnten Mal, warum wir nicht mit Füller schreiben.
Wenn der
erste gleich seinen Bleistift weg wirft, die Hand hoch reißt und „Fääärtisch!“
ruft, sucht der andere noch einen Bleistift.
Frau Müller mittendrin.
Mach doch was mit Steinen, hatten sie gesagt. Steine reden nicht, hatten sie gesagt. |
Kennt ihr
dieses Spiel aus den Spielhallen, bei dem Trolle unvermittelt aus
irgendeinem Loch auftauchen und man mit so einem großen Holzhammer möglichst
schnell draufhauen muss, damit sie wieder verschwinden? So ungefähr fühlt sich
dieser Unterrichtsschritt an. Hier ein Lob, da eine Aufforderung doch endlich
mal anzufangen, dort verhindern, dass über drei Zeilen gleichzeitig gemalt oder
die erste Zeile mit der rechten und die zweite mit der linken Hand geschrieben
wird. Zwischendurch Fabians Hand führen, damit wenigstens eines der Zeichen der
Vorgabe ähnelt. Danach schnell Hände waschen. Die Hand war klebrig. Fabian hat
Schnupfen. Immer.
Dann eine Runde Smileys verteilen und
der Hälfte der kleinen Selbstüberschätzer erklären, warum ich heute leider kein
Foto für sie habe …äh… warum die Smileys in meinem Stift leider schon aus sind.
Irgendwie haben es dann alle geschafft. Es gibt ein Blatt für die Hausaufgabe
und die letzten fünf Minuten verbringe ich damit, beim Unterscheiden des roten
vom blauen Hefter zu helfen und anschließend komplett verdrehte Blätter wieder
aus- und richtig einzuheften.
Bis zum Klingeln nach diesen 45 Minuten hat Kevin
fünfmal gesagt, dass er Hunger hat, dreimal gefragt, wann er frühstücken kann
und sechs Mal dazu angeregt, doch ein Spiel zu spielen. Dazwischen Justin, der
ganz dringend pullern musste und die Hälfte der Klasse mit dieser Not ansteckte. Alle Bedürfnisbekundungen gerne ohne vorherige
Meldung mitten in meinen Lehrervortrag oder mit Fingerzeichen als sinnvollen
Beitrag zum Unterrichtsgespräch.
So, jetzt ist Pause. Vielseitig
nutzbare Zeit in vier Varianten:
Variante 1: man hat Aufsicht und tingelt von
Zimmertür zu Zimmertür um beim Betreten des Klassenraums entweder alle andächtig
an ihren Bananen nuckelnd vorzufinden oder aber epische Schlachten á la „300“
zu befrieden. Dabei ist man selbst der akuten Gefahr ausgesetzt, von herum fliegenden Federmäppchen, Brotdosen, Tafelschwämmen oder Schülerkörpern außer Gefecht gesetzt zu werden.
Variante 2: man hat keine
Aufsicht und verpisst sich irgendwo hin, wo man von keinem menschlichen Wesen
entdeckt wird. Arztzimmer, Klo oder ein Kellerraum sind zu empfehlen. Dort hat
man die Qual der Wahl: Notdurft, Frühstück oder Whatsapp und Facebook –
sicherlich ein Stück weit abhängig von der gewählten Location. Da ich selten
tagsüber zum Essen und Trinken komme, daher auch keine Notwendigkeit besteht,
daraus entstehenden Bedürfnissen nachzugehen, bleibt viel Zeit für das Pflegen sozialer Kontakte.
Variante 3: man entscheidet sich für die Kaffee-Runde im Lehrerzimmer. Dafür muss man Menschen im Allgemeinen und Lehrer im Speziellen mögen. Fällt für mich also aus. Spätestens nach vier Minuten zwischen diesem verlogenen Gegacker sehnt man sich nach hochfrequentem Kindergeschrei oder Tod durch Enthauptung.
Variante 4: man hat keine
Aufsicht und bleibt im Klassenzimmer. Keine gute Entscheidung aber leider die
am häufigsten gewählte Variante. Dort wird man dann zehn Minuten dazu genötigt,
fettige Trinkflaschen zu öffnen, Bananen mit Nutellaschmauch zu schälen,
freundlich lächelnd leberwurstverschmierte Plätzchen oder gar matschige
Obstschnitze aus schmutzigen Kinderhänden abzulehnen oder sich langweilige und
agrammatisch vorgetragene Wochenenderlebnisse anzuhören.
„Weisst duuu, Frau
Müllaaa…“ und „Hier, für dich Frau Müllaaaa!“ und schon meldet sich der
Fluchtreflex. Die ständige Behelligung durch die Oberpetzen Shanaia und
Shakira - Zwillinge, rote Haare und
bescheuerte Namen – nicht zu vergessen.
Dazwischen Schreibkram. Einträge
schreiben:
„Werte Frau K., ihr Sohn hat zur Aufsichtsführenden Kollegin „Fick
dich!“ gesagt, als sie ihn zur Tür schickte. Bitte sprechen sie mit ihm über
dieses Fehlverhalten."
Elternbriefe beantworten:
„Der Justin hat gestern am Bus
dem Finn seine Jacke kaputt gemacht. Die war teuer. Mein Mann und ich kriegen
nur Hartz IV. Können sie mir die Telefonnummer von dem Justin seine Eltern
aufschreiben?"
Ach ja – und den Streit um
die Toiletten-Rangfolge schlichten. Toiletten, Toilettenpapier und Klobürsten
scheinen einen unglaublichen Aufforderungscharakter auf den kindlichen
Spieltrieb auszuüben. Das heißt entweder mit nassen, stinkenden Schülerschuhen
im Klassenzimmer und dem Hausmeister als Dauergast leben oder isoliertes
Einmann-Pullern. Weil das Jungsklo im Unterstufenbereich schlimmer riecht, als
eine rumänische Autobahntoilette, mich diese Gruppenexzesse zwischen den
Porzellanschüsseln aber immer wieder zum Betreten dieses Raumes nötigen, mach
ich gerne den Zweitjob als WC-Ordner und sorge für geregelten Stuhlgang ... äh ... Einzelzutritt.
Nach dem Stundenklingeln
wiederholt sich das Desaster aus der ersten Stunde in leicht abgewandelter Form noch bis
zu dreimal, die Fragen bleiben die gleichen. Abwechslung bringen die Wutausbrüche
der schlechten Verlierer und die offenbar gesteigerte Erdanziehungskraft im
Bereich einiger Schülertische, deren Platzinhaber mehr Zeit unter dem Tisch
beim Suchen von Stiften, Würfeln, Kärtchen und Chips verbringen als auf ihrem Stuhl.
Ein Bewegungslied, bei dem Frau Müller regelmäßig mehr Ausdauer im Schütteln,
Wackeln und Zappeln beweist als eine Gruppe Siebenjähriger oder eine spannende Igelballpartnermassage
zwischen distanzgeminderten Bewegungslegasthenikern sind die Streusel auf dem
Pädagogik-Keks.
Zu guter Letzt noch sechs von neun Ränzen selbst einpacken, auf
links gedrehte Jacken umkrempeln, Mützen aus dem obersten Regalfach fischen (dabei wieder an den Läusezettel erinnert werden) und
den Körperwundern beim Hochstellen der Stühle helfen. Das gute alte „Auf
Wiedersehen“ im Chor und der Wahnsinn hat für diesen Tag zumindest für die
Zwerge ein Ende. Für die Müllerin geht es in Runde 2. Fortsetzung folgt...
Als Lehramtsstudent im Hospitationspraktikum dürftet ihr jetzt nach Hause gehen um dort brav an eurem Bericht zu schreiben. Wenn ihr jedoch einen guten Eindruck bei eurer Mentorin (mir natürlich) hinterlassen wollt, bleibt ihr noch ein wenig und zeigt Interesse am Werkunterricht, der Töpfer-AG und einer konstruktiven Dienstberatung. Nächste Woche im Blog (Hier klicken).
Bis dahin: Schaut im Facebook-Lehrerzimmer vorbei.
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Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht. :D
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