Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 31. Januar 2018

Menschen und ihre Jacken: Monologe, Polyamorie und eine Nähmaschine

Ich muss gestehen: Ich habe eine große Schwäche. Nachdem ich mich mittlerweile selbst nahezu komplett vom Konsum einschlägiger Programmen der Privatsender geheilt habe, greife ich gelegentlich doch noch zu Ersatzdrogen. Vermutlich ist mein Organismus durch meine Arbeit an der Förderschule so stark an sehr niedriges geistiges Niveau gewöhnt, dass der Drang visualisierte Dummheit zu konsumieren, durchbricht sobald ich einige Tage nicht zur Arbeit gehen kann. In den schwachen Momenten ergreift es Besitz von mir, das Kommentarspaltenborderline. In den wildesten Threads einschlägiger Magazine beginne ich Diskussionen, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. Das Gute an solchen Rückfällen ist, dass Blogposts wie der Folgende Teil eines Gedankenreinigungsprozesses sind...


Ich musste mir eine Jacke anziehen. Dabei war mir gar nicht kalt. Ich wollte gar keine Jacke. Jacken, vor allem sehr dicke Jacken, engen meistens ein. Sie sorgen dafür, dass wir uns bewegen wie Marshmallowmännchen. Oftmals gelingt es mir, um den Jackenzwang einen Bogen zu machen. Und manchmal werde ich schwach. 

Menschen ohne Jacken werden zwischen Jackenmenschen schnell krank und schwach und schließlich sterben sie. Zumindest wenn die Abwehrkräfte nicht stimmen und das Wetter beschissen ist. Und mit den Abwehrkräften ist das so ne Sache. An Apple each day - ihr wisst schon.

Äpfel mag ich nicht.Äpfel sind ein bisschen wie Menschen. Meistens langweilig. Wenn man doch mal einen isst, ist man hinterher enttäuscht. Und meistens sind es diese besonders schön glänzenden, die die sich rausgeputzt haben, die dann in ihrem Inneren so mehlig sind, dass einem der Staub aus den Ohren kommt.

Oft ist es ja auch oft so: Du schaust zum Fenster hinaus, weil du wissen willst, wie das Wetter ist und alle Menschen tragen eine Jacke. Du ziehst dir auch eine an – du tust es einfach, weil alle es tun. Selber darüber entscheiden, hinfühlen und denken „Brauche ich eine oder nicht?“ - dieses Bedürfnis haben wir verlernt.

Das Feine ist: wenn man sich ne bestimmte Jacke anzieht, dann erkennen einen die Leute leichter. Is ganz simpel: du weißt, der mit dem weißen Kittel ist der Arzt und der mit der blauen Jacke ist Dieter Bürgy. Alle anderen sind einfach Menschen. Wäre eigentlich auch schön so. Ist aber nicht so einfach. Weil man Menschen nun mal nicht so einfach einteilen kann. Aber Menschen möchten einteilen und eingeteilt werden. Am eingeteilt werden ist das Schöne, dass man sich nicht so oft neu erklären muss.

Ich hab mir mal die Polyjacke angezogen. Nicht Polyester - Polyamorie. Als ich sie anhatte, dachte ich: Naja, so gut passt die eigentlich auch nicht. Der Reißverschluss klemmt und die Ärmel sind zu kurz. Aber besser als erfroren. 

Das Interessante war: nicht nur die Anderen mit den Polyjacken nehmen mich jetzt wahr, sondern man selbst hat plötzlich auch einen anderen Blick auf die Menschen mit den gleichen Jacken. Die anderen – die Monojacken – interessieren einen eigentlich gar nicht. Das sind viele, richtig viele. Die sind eben da – nicht mehr und nicht weniger. Die tragen halt ne Jacke, wie ich. Nur ne andere. Wenn interessiert es.

Wirklich merkwürdig an den Monojackenträgern ist aber: Sie kucken so komisch. Pah, kann einem egal sein, denkt man. Und ist es auch. Aber wehe man fragt sie, warum sie eigentlich so kucken. 

„Na hast du dich mal angeschaut? Weißt du denn gar nicht, dass wir ALLE diese eine Jacke tragen sollten? Das wissen ALLE. Und du? Hältst dich für was Besonderes? Wie sieht denn das jetzt aus? Alle halten sich dran. Nur ihr mit euren lächerlichen Polyjacken müsst hier einen auf bunten Vogel machen? Wollt wohl unbedingt was Besseres sein? Könnt ihr euch nicht entscheiden? Habt wohl noch zig andere Jacken im Schrank, hä? Wahrscheinlich ist euch gar nicht bewusst, wie kostbar so eine Jacke ist. Wenn man seine Jacke gut pflegt, dann hält die ein Leben lang. Wollt ihr unbedingt abweichen. Das hier jeder die Jacke anzieht die er will, das hättet hier wohl gerne? Soweit kommts noch! Und überhaupt: meine Monojacke war sehr teuer, sie ist mir wichtig. Ohne diese Jacke bin ich nichts! Nackt! Das lass ich mir von euch schrägen Polyvögeln doch nicht kaputt machen!"

Tja, ööhm. Okayyyyy. Hätte ich mal lieber nicht gefragt. Wer ist eigentlich dieser ALLE, der bestimmt hat, welche Jacke akzeptiert ist?
Während dieses Monojacken-Monologs laufen ziemlich viele Monojackenmenschen vorbei. Die meisten rufen Dinge wie:
 "Ja, mal ehrlich!"
"Was denkst du dir eigentlich!?"
 oder "Also ich finde das auch unerhört!"

Einige laufen einfach vorbei, kucken gleichgültig und kümmern sich nicht. Und wenige tippen ihrem Monomitmensch auf die Schulter und raunen: „Fahr dich mal runter, is doch nur ne Jacke.“
 
Der Monomensch schimpft immer noch, er hört gar nicht mehr auf, wird wütend und beleidigend und man selbst geht in der Polyjacke einfach weiter. Vereinzelt trifft man auf andere Polyjackenträger, die einem zulächeln, vielleicht sogar ein Stück des Weges mitgehen, ein wenig netter Smalltalk. Sie haben alle schon mal Monojackenmonologe gehört.

Zur Zeit ist die Grippewelle in vollem Gange und die Jackendiskussion in aller Munde. Du musst dir eine Jacke anziehen, wenn du ein Teil der Gesellschaft sein willst. Ohne geht nicht. Wann immer jemand auch nur zaghaft eine Alternative zur Monojacke vorschlägt, fühlen sich die Herdentiere unter den Jackenträgern bedroht und der Monolog beginnt von neuem. Dabei scheint es, als wird die Polyjacke nur pro forma vorgeschlagen, damit sie alle Welt anschauen kann und feststellt: Näää, das is doch keine richtige Jacke! Ein bisschen wie Haute Couture. Schräg. Trägt kein Mensch.

Hey! Keiner interessiert sich für eure Jacken. Sie scheinen euch zu passen, mir persönlich gefällt das Modell nicht, mir steht‘s auch nicht. Und gut. So what. Tragt doch was ihr wollt.

Warum definieren Menschen den Wert von etwas nicht für sich selbst? Warum glauben sie, sie müssten etwas, dass sie selbst als Norm definieren, durch gesellschaftliche Anerkennung rechtfertigen?

Eigentlich hätte ich mir am liebsten gar keine Jacke angezogen. Niemand sollte eine Jacke anziehen müssen. Man stelle sich diesen bunten Menschenhaufen vor. Keiner weiß, wie der andere lebt und es interessiert auch niemanden. Aber wäre ich dann ins Gespräch gekommen? Hätte ich Leute kennengelernt, die sich auch gegen die Monojacke entschieden haben? Hätte ich vielleicht nie erfahren, dass sich der ein oder andere von ihnen genauso eingezwängt fühlt, wie ich in dieser Jacke? Vermutlich wäre man aneinander vorbei gegangen und nicht ins Gespräch gekommen. 

Aber der Mensch ist ja von Natur aus ein soziales Wesen. Austausch mit Artgenossen und Kommunikation sind intrinsische Bedürfnisse. Es sei denn, der Austausch hat uns müde gemacht. Erschöpfender Empathiemangel, zu viel Selbstgerechtigkeit, zu lange Monologe, die gesprochen wurden ohne je für gegenteilige Meinungen erdacht worden zu sein.

Aber hilft es, die bösen argwöhnischen Gesichter der Monojacken zu ignorieren? Läuft man nicht Gefahr, irgendwann genauso selbstgerecht und voller Misstrauen auf „die mit den anderen Jacken zu schauen“? Ist es nicht viel sinnvoller auf diese Menschen zu zugehen und zu sagen: Hey, chill mal. Deine Jacke ist hübsch aber mir passt die gar nicht.

Mir kommt gerade ein Gedanke: Tragen diese Monomenschen ihre Jacke vielleicht mit so viel Überzeugung, weil es für sie eine Uniform ist? Eine Universaljacke, die aus allen gemeinsam eine große, starke Einheit macht? Was ist ein Heer, bei dem jeder am Tag der Schlacht was anderes anzieht? Es ist machtlos. Weil keiner weiß, wer Freund und wer Feind ist.

Ich kenne Herrn Müller seit 17 Jahren, mehr als vier Jahre davon sind wir verheiratet. Die Müllerkinder sind 7 und 11 Jahre alt. Seit über dreieinhalb Jahren verbindet uns mit Marco und Sarah eine Freundschaft, die den „beste Freunde“-Status weit überschritten hat. Man teilt alles miteinander, auch das Bett. Nur gibt es kein 1+1+1+1 sondern ein 2+2. Das beschreibt am kürzesten, was wir sind. Das Paar ist Partner in einer Beziehung zu einem anderen Paar. Nennt mir eine Schublade, die es dafür gibt. Ich hab noch keine gefunden. Und im Grunde brauchen wir die ja auch nicht. Wir nennen es Quattroehe.


Wir alle vier hatten ganz „normale“ monogame Rollenvorbilder in Kindheit und Jugend. Wir haben monogam lebende Freunde. Wir haben die Entscheidung, wie wir leben wollen, für uns getroffen. Nicht monogam. Soviel steht fest. Aber poly? Ist das so? Polyamorie wird definiert als „Liebe zu mehreren Menschen“. 
Ich als Individuum liebe dieses Paar, bzw. beide einzelnen Personen des Paares nicht wie meinen Ehepartner. Vielmehr empfinde ich mich in Verbindung mitmeinem Ehemann als Einheit, die wiederum eine aus zwei Personen bestehendeEinheit liebt. 
Herunter reduziert auf die Verbindungen zwischen den einzelnen vier Personen wäre es nicht das gleiche. Ein Äpfel- und Birnenvergleich. Hört sich kompliziert an. Ist es aber eigentlich nicht. Denn man lebt einfach. 

Übrigens gibt's auch Polyhosen... oder Einteiler...

Kompliziert wird es erst, wenn man eine passende Jacke sucht und es zu wenig Auswahl gibt. Also schneidert man selbst. Ungeachtet der eigenen Fähigkeiten in Design und Umgang mit Nadel und Nähmaschine. Wir schneidern eine Jacke, die nur uns passt, die dafür aber wie angegossen sitzt.  Eine Jacke - unsere Jacke - in der wir uns wohlfühlen.

„Wie läuft die denn rum?“ 
„Naja, mein Geschmack wäre das nicht, aber wem’s gefällt!“ 
„Wie krass, wo hast du diese geile Jacke her?“ 
Manchmal überraschen uns Menschen, die Jacken, welche sie tragen und ihre Reaktionen auf mutiges Selbstdesign auch. Und manchmal wartet auch schon der nächste Monolog auf uns. 

Gedanken, Anekdoten und
Synapsenkurzschlüsse aus
Absurdistan, der Müllermansion
oder dem Atelier alternativer
Beziehungsformen ;-) 
- gibt's täglich 

1 Kommentar:

  1. Frau Müller, Sie treffen wieder mal den Nagel auf den Kopf oder so...
    Ich war schon immer anders als die Anderen und immer auf Krawall gebürstet. Quasi der eine Pinguin von Uli Stein mit dem Schild "Dagegen"
    Ich habe beschlossen (weil ich nen neuen Job suche) was schicker zu werden. Und weil alles langweilig ist und mir nicht entspricht bin ich grade dabei einen Rotkäppchen Umhang zu nähen. In schwarz mit lila changierenden Futter... Bin sehr gespannt ob sich jemand traut mich überhaupt anzusprechen oder zu fragen... In diesem Sinne! Horrido!

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