Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Alle Jahre wieder: Herr, lass' Glühwein und Ohrenstöpsel regnen!

Im letzten Jahr gab es an dieser Stelle den GAYZEMBER. In diesem Jahr blieb mir  LEIDER die Mehrzahl der zuckerwattig-zauberhaftigen Erlebnisse mit meinen homosexuellen Einhornfreunden verwehrt, weswegen es mir nicht möglich war einen ganzen GAYZEMBER 2018 inhaltlich zu füllen. Verzeiht mir also, wenn ich es wie alle mache und irgendwas über Weihnachten schreibe. Es ist ein bisschen wie mit Glühwein. Eigentlich ist es immer nur Glühwein - allerdings kommt es auf die Qualität an. Und manchmal auch auf den entsprechenden Schuss. Bei mir gibt's viel Schuss. Mit ohne Aufpreis.


An sich mag ich Weihnachten. Mir bleibt im Grunde auch gar nichts anderes übrig, dann da wo ich herkomme wird Weihnachten zelebriert. So sehr, dass es sogar eine Art Weihnachtstourismus ins Land der Müllerin gibt und an den Wochenenden volkskunstgeile Rentner massenhaft von Reisebussen ausgespuckt werden. 

Soweit so gut. Wenn man an der Autobahn wohnt, hört man irgendwann den Verkehr nicht mehr. Für mich bedeutet Weihnachten, dass Weinkonsum jenseits abendlicher Dunkelheit relativiert wird solange die Spirituose dampft und sich in einer bunten Henkeltasse befindet. 
Keiner wundert sich über den Grinch als WhatsappProfilbild und im Radio laufen diese wunderbaren Weihnachtsschinken, die alle hassen. „Last Christmas“, "Driving home for Christmas" und Band Aid… sorry Leute, ich liebe es. Ich steh' sogar auf dieses uralte Mundartliedgut aus meiner Region, das jedem Auswärtigen ein Stirnrunzeln aufs Gesicht zaubert.  Und "Sind die Lichter angezündet" ist sowas wie Ritalin für eine Frau Müller, die kurz davor ist, jemanden mit Kräuselband zu erdrosseln.

Weihnachten ist ganz okay. Noch okayer sind Schnapspralinen im Adventskalender und Mäntel, die lang genug sind um unter der Last des Christstollens anschwellende Arschbacken und Oberschenkel zu kaschieren. Temperatur und Witterungsbedingungen legitimieren Netflix statt Outdoor. Bis an diesen Punkt hat die Weihnachtszeit etwas Beseeltes und Heimeliges. Hygge heißt das doch neudeutsch, oder?
 
Mit der Hygge isses aber spätestens vorbei, wenn das große Müllerkind Montagabend sagt: „Ach Mama, morgen Abend um sechs is das Weihnachtskonzert unserer Schule!“ Und weil ich die Hoffnung nicht aufgebe (oder einfach dumm und naiv bin), frage ich wie jedes Jahr: „Machst du da mit?“ 
– selbstredend macht er da mit. Es ist eine christliche Schule. Natürlich machen da alle mit. Und wo findet das Weihnachtskonzert einer christlichen Schule statt. Yeeehaa – sechs Richtige: In der Kirche natürlich. Freude, Freude!

Nun fragen sich die Kenner unter den Lesern sicherlich, warum eine Frau wie ich, mit einem quasi nichtvorhandenem Verhältnis zum christlichen Glauben, ihr Kind an eine solche Schule schickt. Wie soll ich das erklären. Hier auf dem Lande hat man bei der Entscheidung für eine Schule die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Ich bin an sich ein Lokalpatriot und kaufe meine Weihnachtsgans beim Dorfbauern. Und auch bei der Auswahl der Grundschule gab ich zunächst der Bildungseinrichtung in Steinwurfentfernung eine Chance. Das Problem war allerdings, dass die Philosophie der Chancengeberei nicht auf beiden Seiten funktionierte und die Klassenlehrerin des großen Müllers anscheinend kein Fan der BigBangTheory war. Jedenfalls konnte sie mit dem leicht nerdigen Leistungsverweigerer, welcher sechs Jahre zuvor meinem Becken entsprang, nicht viel anfangen. 

Erlösung fanden wir tatsächlich in den flexibleren Unterrichtsmethoden und einem sehr viel humaneren Menschenbild der Privatschule in christlicher Trägerschaft aus dem Nachbarort. Nützt eben nix. Jetzt verweilt der große Müller eben dort und bereichert den Unterrichtsalltag mit glaubenskritischen Diskussionseinwürfen und unser Weihnachtsfest alljährlich mit einer Veranstaltung, bei der wir mitten unter betenden Menschen weilen.

Einziger Lichtblick ist der Weihnachtsmarkt direkt vor der Kirchentür. Zwei Tassen Glühwein mit Schuss vor Beginn des Programms ermöglichen mir zwar, das Ganze geistig durchzustehen, spätestens nach der ersten Viertelstunde nötigt mir meine Blase allerdings einen Besuch auf dem Heiligen Stuhl, also der Kirchentoilette, ab. Bemerkenswert finde ich, dass es dort angesichts der gesteigerten Luftfeuchtigkeit des alten Gemäuers, feuchtes Toilettenpapier direkt von der Rolle gibt. 

Es folgen 60 Minuten Inferno aus Kindern, die Instrumente foltern – Blockflöte from Hell – und pickligen Milchbärten, die mit brüchigem Bass den Einsatz beim Kanon verpassen. Die Kombination aus einer Geige, die klingt als würde sie das Lied vom Tod spielen und nicht „Leise rieselt der Schnee“, der Wirkung des Glühweins und der erhöhten Konzentration elterlicher Glückshormone in der Luft versetzt mich in einen tranceähnlichen Zustand in dem ich halluziniere, dass dem kleinen rothaarigen Mädchen aus dem Mittelgang plötzlich gewundene Hörner und Hufe wachsen und es dem Pfarrer an die Kehle springt.

Herr Müller reißt mich aus meinem Tagtraum, als er mich fragt ob es eigentlich erlaubt ist in der Kirche zu essen. „Hallooo? Weißt du wie egal mir das ist? Kuck, dort drüben, die stillt. Also kannst du auch essen. Außerdem wurde mir hier nie eine Hausordnung oder irgendwelche Nutzungsbedingungen präsentiert. Ich hab nichts unterschrieben.“
Herr Müller kramt in meiner Handtasche nach den gebrannten Mandeln vom Weihnachtsmarkt. Und während er mitten im Gebet mit der Tüte raschelt und geräuschvoll Mandeln knuspert, denke ich: Ein Eismann, so wie im Kino. Das wäre jetzt gut. Dann wäre auch ein Schild am Kirchenportal mit der Aufschrift „Verzehr von mitgebrachten Speisen und Getränken verboten“ legitim. Vermutlich würde ich Nachos mit Käsedipp essen. Hier drin isses ja schon kalt. Kirchen haben ein schlechtes Catering.

Weil wir nicht wie gute Eltern schon vor Einlass an der Kirchentür standen um die Plätze mit der besten Sicht zu ergaunern, sondern lieber zum Dienstagabend das Tagesgeschäft der Budenbetreiber auf dem Weihnachtsmarkt retteten, sitzen wir jetzt hinten irgendwo am Rand auf den Stühlen quer zur Betrichtung. Das hat den Nachteil, dass einen beim Mandeln knuspern strafende Blicke aus allen Richtungen treffen und man nur kurz einen Blick aufs im Klassenverband singende Müllerkind werfen kann. Unschlagbarer Vorteil dieser Plätze ist allerdings, dass man die betenden und singenden Menschen beobachten kann. Das ist echt lustig. Wer Walking Dead kuckt, kann die Faszination am Menschen verstehen.

Den krönenden Abschluss eines solchen Events bilden die Kinder mit den Kollektekörbchen am Ausgang. Herr Müller kann den Sanifair-Wertbon vom Autobahnklo nicht so schnell finden und ich entschließe mich spontan die Edeka-Treuepunkte doch lieber in neue Steakmesser zu investieren. Also klimpert man im Vorbeigehen nur kurz mit den Fingern im Kleingeld des Körbchens. Ihr wisst schon, wegen Weihnachtskarma und wegen des Eindrucks. 

Das mit dem Eindruck hat übrigens noch nie funktioniert, weswegen dem jüngeren Müllerkind die Beschulung mit Gottes Segen verwehrt wurde. Der geht jetzt in die Dorfschule nahe der Müllermansion und dank gesteigerter Anpassungsbereitschaft seinerseits und seitens seiner Lehrerin verglichen mit der Causa „Müllerkind 1“ klappt das auch ganz gut. Schade eigentlich für die Seelenfänger unterm Kruzifix, denn der jüngste Müller ist der Einzige mit Glaubensambitionen in der Familie. Nun gut, ich denke auch er lernt noch, dass die Gebrüder Grimm und StarWars glaubwürdiger sind.

Der Versammlungsort, an dem ich Ende der Achtziger eingeschult und den die Dorfbewohner Volkshaus nannten, wurde wenige Jahre nach meiner Schulanfangszeremonie dem Erdboden gleich gemacht. Das lag nicht an mir oder meinem Matrosenkleidchen von damals, sondern viel mehr an der Bausubstanz, die den neuen Standards nicht entsprach oder schlicht weg am Wandel der Zeit. Denke ich. Heute steht dort ein schmucker Prunkbau der Freiwilligen Feuerwehr. 
Da jedoch im Spritzenhaus zu wenig Platz für die Familien von acht Grundschulklassen ist und eine Bestuhlung der örtlichen Turnhalle zu aufwendig wäre, greift auch die staatlich-weltlich finanzierte Grundschule natürlich auf welchen Veranstaltungsort für das obligatorische Weihnachtsprimborium zurück? Selbstverständlich! Auf die Kirche!

Zwei Kirchenbesuche in einer Woche. Eigentlich ein Fall für Amnesty International, wie ich finde. Aber ich mach ja gerne den Märtyrer. Weil alle wissen, dass Zeit kostbar ist, Grundschüler sich besonders lange konzentrieren können und die Grundschullehrerinnen unter den Dörflern hier ein besonderes Geltungsbedürfnis haben, geht dieser darstellerische Schwanzvergleich der Unterstufenpädagogik ganze zwei Stunden. 

Immerhin wurden dieses Jahr die Eintrittskarten pro Familie auf Drei beschränkt. Entweder die Brandschutzbeauftragten der örtlichen Feuerwehr haben nach dem Chaos des letzten Jahres die Auflagen verschärft oder eine der Mütter im Elternbeirat hatte genau wie ich nicht im Schlafsack vor der Kirche übernachtet, um einen der wenigen Sitzplätze mit Blick auf die Aktionsfläche zu bekommen und musste ebenso auf graue Kaltwellen, Halbglatzen und die Digitalkamera-haltenden Filzärmel in gedeckten Farbtönen von Urgroßtante Ursula und Stiefschwippschwager Herbert starren.

Aktionsfläche ist das Stichwort. Die Architektur einer Kirche ist nicht gemacht für eine Revue mit 170 halben Menschen unter 1.50m. Sie ist gemacht für genau einen Selbstdarsteller, der viel zu viele Jahre Studium und damit vermutlich staatliche Ausbildungsförderung darauf verschwendet hat, etwas sehr hanebüchenesaus einem Buch zu studieren, dass mich bei der Lektüre in die Gefühlswelt eines Legasthenikers mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom schlüpfen lässt. Dieser Selbstdarsteller steht sonntags auf dem eigens für ihn gezimmerten hölzernen Podest und erzählt entweder schräges Zeug oder übersetzt grundlegende Regeln eines friedlichen und respektvollen Miteinanders ins Wort von Jesus Crispus. 

Jedenfalls haben alle frommen Menschen einen guten Blick auf den Referenten des Herrn. Ich habe jetzt nur einen guten Blick auf seine leere Kanzel und die geschnitzten Hipster in weißen Bettlaken an der Wand. Kinderstimmen kommen aus dem Off und Lautstärke steigt bei einigen Jungtalenten proportional mit gesanglicher Inkompetenz.
Hatte ich schon erwähnt, dass es in unserem Dorf  nur einmal im Jahr an einem einzigen Adventssonntag nachmittags öffentlich Glühweinausschank gibt. Dieser Tag ist nicht heute. Und der Ort, an dem das Büdchen steht, ist auch mehr als eine Becherfüllung von der Kirche entfernt.

Wie dem auch sei: wenn ich nach zu viel Tag – und dieser Tag war verdammt viel Tag für einen einzigen Tag – noch so nüchtern bin, ist der Grat zwischen resignierter Starre und emotionalem Ausbruch schmal. Es war nur Glück für die fremde Frau hinter dem großen Müllerkind, dass Herr Müller zwischen ihm und mir saß, als sie ihn recht unfreundlich aufforderte, das Handyspielen zu unterlassen. Niemand hätte den Bitchfight zum Ende des Programms dokumentieren können, weil alle Handyakkus am 6-Minuten-Löffelpolka starben. Und wenn das Kind nicht Handy zocken darf, dann faltet es eben Origami-Schwäne aus den herumliegenen Krippenspielflyern für Heilig Abend.

Ob nun ein flüchtiger Blick auf mein vor Publikum popelndes Kind, ein beherztes Gähnen seinerseits just in dem Moment als sich die Kaltwellen und Halbglatzen vor mir lichten oder aber ein mit inbrünstiger Mimik und Gestik vorgetragenes Lied: Bekommt Kinder, haben sie gesagt. Sie machen Freude, haben sie gesagt. Tun sie auch. Nur manchmal muss man die Freude eben suchen.

zwar nicht beim Geschenke einpacken oder
Teig ausrollen, aber möglicherweise
lenkt sie euch davon ab. Ob das jetzt
besser oder schlechter ist,
müsst ihr selbst entscheiden. Also
brav liken. Dann bringt euch auch
der Weihnachtsmann einen Gutschein
für den Drogeriemarkt. Oder so. 

6 Kommentare:

  1. Göttlich Frau Müller :-)
    Zwar habe ich keine Kinder und somit auch keine kirchlichen Verpflichtungen ( aus derselben bin ich schon vor Jahren ausgetreten ) Aber dennoch habe ich beim lesen sehr gelacht!
    LG Perdita

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    1. Für das Lachen der Leser klimper' ich doch gerne ein bisschen im Kleingeld des Kollektekörbchens... :-))))
      LG
      Frau Müller

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  2. Herrliches Betthupferl! Danke! Übrigens verlinke ich immer mit sehr großer Freude meine beste Freundin. Ihres Zeichens Oberschulrätin im Gymnasium 🤣

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  3. Ich habe keine Kinder, jedoch eine pflegebedürftige Mutter, die wenigstens einmal im Jahr den Pfarrer sehen möchte. Naja, es ist ja Weihnachten... haha, oh je, ein Fall für Amnesty, unbedingt! Und das mit dem feuchten Klopapier von der Rolle ist in Süddeutschland ganz genauso. Schade, dass ich nur Tee intus hatte. Haha, Danke für den Beitrag :-)

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    1. Ich sage dir: DAS ist gelebte WAHRE Nächstenliebe. Für Menschen, die man liebt in die Kirche gehen. ;-)

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