Der überwiegende Teil meines zuweilen skurrilen Berufsalltags schafft es nicht in einen eigenen Blogartikel. Der Blogartikel "Biete Job - suche Fliesentisch" war der erste dieser Kategorie, zudem der erste je veröffentlichte und kommt bis heute bei den Lesern recht gut an.
Die meisten Anekdoten, insbesondere die aus der Kategorie „Kognitiv stark benachteiligt“, gewinnen ihre Unsterblichkeit im world wide Kosmos nur durch ein mehr oder minder beachtetes Status-Update Frau Müllers bei Facebook. Die nun folgende kleine Geschichte, welche sich kürzlich exakt so zugetragen hat, soll mir heute als unterhaltsamer Einstieg in einen Artikel dienen, der auf gewohnt direkte Art auf einen gravierenden Missstand hinweisen soll.
Kollege M. bekam in seiner Funktion
als „Springer“ die Aufgabe von der Schulleitung kurzfristig eine Doppelstunde
Werken zu vertreten. Da Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in einem so
motorik-betonten Fach viel Anleitung benötigen, wird nicht klassenweise- sondern in Kleingruppen unterrichtet. Eine weitere Gruppe hatte regulär Unterricht bei
mir. Im Nebenraum.
Die umsichtige Kollegin, welche M. an diesem Tag vertrat,
hatte die beiden Stunden inhaltlich bereits vorbereitet. M. begann nach dem
Klingelzeichen die Stunde mit der für ihn typischen (für mich oft verzweifelt
übertrieben wirkenden) Lockerheit. Kollegiale, gut gemeinte Hinweise meinerseits wurden mit
einem „Is mir scheiß egal, Hauptsache die Stunde geht vorbei!“ beantwortet.
Nach etwa zehn Minuten musste ich nach Nebenan
um Arbeitsmaterial aus dem Schrank zu holen. Beim Gang durch das Zimmer fielen
mir die verzweifelten Kinder auf, die hilflos versuchten mit den (zur
Sicherheit) nahezu stumpfen Scheren eine Schablone aus einer Pappe
auszuschneiden, die in Festigkeit und Dicke an Sperrholz erinnerte. Sogar ein
Erwachsener hätte Blasen davon getragen. Im Vorbeigehen sage ich in
kollegial-lockeren Ton zu M.: „Oh, da mutest du den Kindern aber was zu. Das
lässt sich doch kaum schneiden“. Dreimal dürft ihr raten was ich zur Antwort
bekam. Für die schlechten Rätsler: siehe oben.
Etwa fünf Minuten später ging
die Tür zu meinem Raum auf, darin stand M. mit den Worten: „Weißt du wo die
Cutter-Messer sind?“ (offenbar hatte auch er die Überforderung der Kinder
bemerkt und nach einer praktikableren Lösung gesucht).
Ich: „Ähh… ja… hier…
(ich gebe ihm die Kiste)… aber du weißt schon dass das gefährlich ist?“
Er: „Ich
hab die belehrt (und dreimal dürft ihr raten)…“. Beim Blick nach nebenan kurze Zeit
später bietet sich mir derselbe verzweifelte Anblick wie ein paar Minuten
früher. Jedes Kind fuhrwerkt mehr oder weniger (eher weniger) geschickt mit
einem Cuttermesser umher.
Weitere fünf Minuten später – die Tür öffnet sich
erneut. Kollege M.: „Weißt du wo Pflaster sind?“
Ich: „Äh, ja, da – im Verbandskasten!“
M. wirkt etwas gestresster und verlässt mit dem Pflaster den Raum. Diesmal
nicht ganz fünf Minuten später öffnet sich die Tür ein letztes Mal. M.: „Ich
brauch mal mehr als Pflaster!“ – „Ja, im Verbandskasten…“
Bei der Erstversorgung der Wunde eilt
ihm dann schließlich noch der unterrichtende Kollege der dritten Werkgruppe zu
Hilfe. Mittlerweile ist der Schülerfinger, nachdem er später noch fachmännisch
notfallmedizinisch versorgt wurde, gut verheilt. Keine bleibenden Schäden. In
diesem Fall.
Diese kleine Geschichte, deren Absurdität mir wie so oft in
ihrer Gänze erst viel später auffiel, steht symbolisch für ein Vergehen, das
viel mehr kaputt macht, als ein Cuttermesser in ungeschickten Schülerhänden. Sie
zeigt (zum Glück) ganz banal, was passiert, wenn man den Steinmetz zum Gärtner
macht (ich kenne das Sprichwort vom Bock und dem Gärtner – es würde hier aber
nicht passen weil es Kollege M. abwerten würde – das soll hier aber nicht das
Ziel sein.)
Lasst es mich erklären. Nehmen wir an beide – Gärtner und
Steinmetz – entscheiden sich ganz bewusst für ihren Beruf. Der Steinmetz, weil
er die Beständigkeit seiner Produkte sowie die Kraft und Bestimmtheit schätzt, die es
bedarf um diese zu formen. Der Gärtner wiederum ist fasziniert von der
Veränderung und den individuellen Bedürfnissen, welche seine Schützlinge
kennzeichnen. Wenn man nun von beiden Berufsgruppen erwartet, das
Tätigkeitsfeld ohne intrinsische Motivation zu tauschen, kann es aller
Wahrscheinlichkeit nach zu Schwierigkeiten kommen…
Kollege M. kam als studierter Germanist in Kombination mit
dem Gymnasiallehramt an unsere Förderschule. Er hatte sich das nicht direkt
ausgesucht. In unserem Bundesland werden leider ein Zuviel an Gymnasiallehrern
und ein Zuwenig an Förderschullehrern ausgebildet. Die Lösung des Problems
setzt fälschlicherweise erst NACH dem erfolgreichen Studienabschluss an indem
diese Menschen, mehr oder weniger dazu genötigt werden sich „schulartfremd“
einsetzen zu lassen. Nach dem Motto „Friss, Vogel – oder stirb!“.
M. kennt sich aus mit Literaturwissenschaften, Etymologie
und Kasusmarkierungen – man spürt deutlich Interesse an diesen Wissenschaften
über den Beruf hinaus. Vermutlich hatte er sich bewusst für DIESES Studium
entschieden. Für die Bedürfnisse lernschwacher Kinder hatte er weder Gespür
noch Verständnis. Damit steht er symbolisch für eine Vielzahl von Kollegen, die
in den letzten Jahren (un)freiwillig den Weg zu uns antraten, sich (zu Recht?)
weigerten, ihre Ansprüche an die Schüler sowie ihre Vorstellungen von gutem
Unterricht an unsere Klientel anzupassen und wenig später frustriert den
Rückweg antraten.
Der schulartfremde Einsatz und seit neuestem die wachsende
Zahl der Quereinsteiger in unserem Schulsystem mag vielleicht kurzfristig die
Lösung eines Problems sein, das langfristig durch unattraktive Studien- und
Arbeitsbedingungen verursacht wurde. Ich pflege immer zu sagen: wer in meinem
Bundesland freiwillig Lehrer wird muss schon sehr gute Gründe dafür haben. Bei
mir waren es persönliche.
Früher oder später MÜSSEN die Verantwortlichen aber
erkennen, dass es sich dabei nicht um eine Lösung sondern um ein Vergehen
handelt. Man macht sich schuldig an ALLEN Beteiligten.
Beginnen wir bei den Kindern. Während der eingangs
beschriebene Finger wohl ohne weitere Beeinträchtigungen verheilen wird, kann
man nicht davon ausgehen, dass der Bildungsweg eines Kindes mit Symptomen der
Legasthenie völlig unbeeinflusst bleibt von einem Lehrer, der ohne sich jemals
mit diesem Störungsbild auseinandergesetzt zu haben, per Dienstanweisung dazu
genötigt wird es durch den Schriftspracherwerb zu führen.
Grundschuldidaktik
ist in seiner Fächeraufteilung ein eigener Studiengang. Man übt über mehrere
Semester, wie man Inhalte entsprechend erforschter Lerntheorien und kindlichen
Bedürfnissen aufbereitet. Zusätzlich lernt man im förderpädagogischen Studium
Defizite in allen Wahrnehmungsbereichen zu erkennen, mit entsprechenden
Methoden zu kompensieren und im Ansatz zu therapieren.
So wie ich das Recht
darauf habe, dass der KfZ-Mechaniker weiß was er tut, wenn er bei meinem Auto
die Bremsbeläge wechselt, haben unsere Kinder ein Recht auf
fachrichtungsentsprechend ausgebildete Pädagogen. Es geht hier nicht um eine
Vormittagsbetreuung während die Eltern dem Erwerb nachgehen. Es geht um einen
LEBENSWEG!
Dann sind da diese bedauernswerten Kollegen. Aus Überzeugung
haben sie sich ein Studium ausgesucht, mit Herzblut studiert und nun werden sie
willkürlich an Schulen verteilt. Sie sagen Ja um ihre Existenz zu sichern und
verkaufen damit ihre noch nicht mal richtig erwachte Freude am Lehrer-Job. Die
Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und dem täglichen Berufs-Setting
macht diese Menschen kaputt.
Und schließlich bin da noch ich. Sinnbildlich für alle
Kollegen meiner Art. Was ist mein Studium noch wert, wenn diesen Job eigentlich
„jeder“ machen kann?
Ich danke allen „Schulartfremden“, abgeordneten Lehrkräften
und Quereinsteigern, die es schaffen (wollen) sich auf UNSERE Aufgabe
einzulassen. Ich entschuldige mich bei den
Zugehörigen dieser Gruppen, die sich durch meinen Artikel angegriffen
fühlen. Ein Angriff war nicht mein Ziel – der Angriff gilt unser aller
beruflicher Identität und er kommt NICHT aus meiner Richtung.
Nun ist das Problem da. Eine kurzfristige Lösung wird es wohl
nicht geben. Vielleicht wäre eine Attraktivitätssteigerung des Lehrerberufs ein
erster Schritt um die vielen Klugen, die nach der inhaltlich wirklich guten Lehrerausbildung
hierzulande in andere Bundesländer abwandern, zum Bleiben zu bewegen.
Bedarfsgerechte UND REALISTISCHE Regelung der Bewerberzahlen auf die
verschiedenen Studiengänge könnte auch helfen, nur sollte die Wirklichkeit und
nicht der Wunsch zum Berater in dieser Frage werden.
Übrigens: Mein eigenes Kind wurde in diesem Jahr eingeschult.
Die Klassenlehrerin meldete sich nach einem Vierteljahr krank und ist es bis
heute. Den so wichtigen Anfangsunterricht teilt sich eine Kollegin in
Altersteilzeit mit einer abgeordneten Lehrerin aus dem Nachbarort. Drei Tage
die Eine, zwei Tage die Andere. Eine Lösung für das zweite Halbjahr gibt es
noch nicht. Geschweige denn für Klassenstufe 2. Ich hörte einst in meinem
Studium in mehreren pädagogischen sowie lern- und entwicklungspsychologischen Seminaren
wie wichtig ein Klassenlehrer gerade für Kinder zum Schulstart ist…
Die oben kurz erwähnten News aus Absurdistan sowie meinem langweiligen Leben drumherum gibt es häufiger als nur mittwochs hier auf Facebook.
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