Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Donnerstag, 19. April 2018

War meine Oma ein Nazi? ODER: Ein Riesenbaby, politischer Joghurt und das Bart-Gen

Oma Heidi war eine gute Oma. Sie war eine dieser Omas, die einem mit 4711 feuchtes Toilettenpapier herstellen lässt und es dann trocken bügelt. Eine, die Leggins mit Totenköpfen trug, weil sie das Muster nicht richtig erkannte und dachte, es seien Blumen aufgedruckt. Eine, die Schmuck und Kleidung (die in ihren Augen so edel war, dass sie sie selbst nie trug) gerne für Modenschauen vor dem großen Schlafzimmerspiegel zur Verfügung stellte. Eine, die zwischen den noch nie benutzten Handtüchern im Wohnzimmerschrank ihre Rente versteckte, um den Enkeln kurz vor dem Gehen mit der Körpersprache eines Koksdealers 20 Mark zuzustecken...


Ich war ein Omakind und noch dazu verdammt verwöhnt. Das ging so weit, dass ich eines dieser Riesenbabys war, die mit vier Jahren noch im Buggy gefahren werden, während die Füße schon auf dem Asphalt schleifen. Für Oma war das Buggy praktisch, denn da brauchte man die Taschen nicht schleppen. Und so ein Rentnertrolly war schließlich nur was für alte Leute. Die Logik, dann lieber ein 25 Kilo schweres Kleinkind plus Einkäufe einen steilen Berg hinauf zu schieben, erschließt sich mir auch nicht, aber Omas müssen auch nicht logisch sein. Nur lieb. So lieb, dass sie einem erlauben einen ganzen Kochbeutel Tiefkühlhühnerfrikassee alleine zu essen, weil es nun mal das Lieblingsessen ist oder so lieb, dass sie das Marmeladenbrötchen zum Frühstück auch dann noch in Häppchen schneiden wenn man längst gelernt hat unfallfrei zu essen.

Meine Mutter brachte es regelmäßig zur Weißglut, wenn sie in den Kaffeetassen im Küchenschrank die ganzen versteckten Schnuller fand, die während des Aufenthaltes in der Casa del Omma mein emotionales Wohlbefinden sicherten. Ohne auf den Schlamm zu hauen, möchte ich fast sagen, meine Großeltern vergötterten mich. Das mag daran liegen, dass ich das erste und einzige weibliche Enkelkind war, welches zudem zuletzt geboren wurde. Die kleine Prinzessin quasi. Ich kann den Hype um mein Geschlecht nicht wirklich verstehen, zumal mein Vater gerne skandierte, dass er lieber noch vier Jungs hätte als eine Tochter wie mich. Klingt hart, war aber lustig gemeint. Mülleresk eben.

Lieblingsplatz für den Heidi-Podcast
Jedenfalls habe ich sehr viel Zeit mit meiner Oma verbracht. Zeit, in der sie mir nach 1989 nicht nur die ersten 15 Barbies meines Lebens kaufte sondern mir auch ziemlich viele Kriegsgeschichten erzählte. Ja, Oma Heidi konnte nicht nur virtuos Märchen erzählen  (Erzählen, NICHT VORLESEN! Kann das heute eigentlich noch irgendjemand oder ist diese Fähigkeit mittlerweile ausgestorben?), sie erzählte auch für ihr Leben gerne von damals. Und ich hörte ihr ebenso gerne zu. Ein bisschen selbstzerstörerisch möglicherweise, denn für ein Kind meines Alters hatte ich damals wahrscheinlich überdurchschnittlich viel Angst vor Krieg und dennoch bettelte ich sie oft an, um eigentlich immer die gleichen Geschichten, die ich so oft und gerne hörte, dass ich mich heute noch an sie erinnern kann.

Meine Lieblingsgeschichten waren die vom BDM. Heidi wurde 1921 geboren und kam als junges Mädchen zum Bund deutscher Mädchen. Sie erzählte von Bauerfamilien, denen sie im Haushalt, bei der Ernte und mit den Kindern half. Beim BDM hatte Heidi in ihrem Spint lauter Bilder von Männern mit Bärten, weshalb sie die anderen Mädchen mit Spitznamen Bärdl riefen. Da bärtige Männer zur damaligen Zeit wohl eher auf Propagandamaterial als in Hochglanzmagazinen als Models für Bartöl und Barbershops abgedruckt waren, kann man sich gut vorstellen, wer genau auf den Bildern zu sehen war. Heidi verehrte diese Männer aus tiefstem Herzen. Nicht zuletzt, weil ihr der wichtigste Bärtige (allerdings der mit dem kleinsten…) in ihrem Leben einmal bei einer Parade zur Einweihung einer Brücke in ihrer Heimatstadt zugewinkt hatte.

Notiz am Rande: Liebe zu Bärten scheint vererbbar zu sein. Auch ich ziehe männliche Exemplare mit ausgeprägtem Gesichtshaar unterhalb des Jochbeins vor. Allerdings nicht ohne ausgedehnte Kinnbewaldung. Schnurrbärte und Schnäuzer sind –egal wie dimensioniert sie sind - etwas für Klischeezorros, Pädobären, Fasching und Horst Lichter.

Das Unheil und den Krieg brachten die Russen ins Land. Immer wenn Bombenalarm war, Heidi und ihre Schwestern die Flieger hörten und auch später, wenn sich russische Soldaten in der Nähe herum trieben, versteckten sich alle in einem großen Loch unter dem Kirschbaum im Garten, das mit Brettern und Laub von oben unsichtbar gemacht wurde. Mir spendete der gleiche Kirschbaum gut 40 Jahre später Schatten im Sommer und leckere Kirschen natürlich.

In all ihren Geschichten waren die Russen das Übel. Für Heidi gab es ihr Leben lang nur Schwarz und Weiß. Es gab ihren Führer, mit dem es den Menschen gut ging, der Familien und Kinder liebte. Und es gab die Russen. Vergewaltiger, Plünderer, Kriegsverbrecher. Mit diesen Geschichten und ironischerweise Märchen aus aller Welt – russische Märchen liebte Heidi besonders – wuchs ich auf. 


Ich liebte meine Oma und ihre Geschichten. Und ich liebte ihre Westverwandtschaft. Ihr Bruder Horst schickte nämlich regelmäßig Pakete von drüben. Minzschokolade mit der Kaminuhr, Schaumküsse, Butterspritzgebäck, goldene Sahnebonbons und den guten Markenkaffee hütete sie wie Reliquien in einer Truhe auf dem Dachboden, die nur zu besonderen Anlässen geöffnet wurde. Heute steht das gute Stück restauriert in der MüllerMansion und bewahrt die Skihosen der kompletten Sippe auf. Kekse und Süßkram werden konsumentenfreundlicher in der Nähe des Sofas aufbewahrt.

Horst schickte auch Feinstrümpfe. Wusstet ihr, dass man Feinstrümpfe stopfen kann, wenn sie Löcher haben? Oma Heidi war Profi darin. Horst war reich, er lebte mit seiner Frau in einer Villa im Westen. Bei den Beiden habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Becher Marken-Fruchtjoghurt gegessen. Und Horst war ein ehemaliger SS-Offizier. Allerdings fragte ein siebenjähriges Kind damals nicht: „Warum bist du so reich? Warst du mal ein Nazi?“

Die Welt um Heidi veränderte sich in den Jahren. Heidis Weltbild blieb bestehen. An ihrem Küchenschrank Bilder von Adolf und Kollegen. Jede politische Diskussion beendete sie schon bevor sie dement wurde mit dem Satz: „Mit dem Führer wäre uns das nicht passiert!“


Nachdem auch sie, wie meine andere Oma , wegen ihrer Demenz einige Zeit im Heim verbracht hatte, starb Heidi mit 93 Jahren. Bei der Regelung der Erbangelegenheiten stießen wir auf ein bisher unbekanntes Kind. Heidi hatte noch vor meinem Vater und seinen Geschwistern ein Kind zur Welt gebracht, offenbar ein Mädchen. Die Recherche ergab, dass dieses Mädchen nur wenige Wochen alt wurde. Was war passiert? Ein Kind, über das die Mutter nie ein Wort verlor? Unehelich in dieser Zeit und bald verstorben? In einer Zeit gezeugt und geboren, in der Vergewaltigungen durch russische Besatzer an der Tagesordnung waren? Die Russen, die Oma Heidi bis an ihr Lebensende inbrünstig hasste? Meinem Vater erzählte sie in den Jahren vor ihrem Tod einmal, dass sie und alle ihre Schwestern von russischen Soldaten vergewaltigt wurden…

Wir wissen nicht, was genau geschah und werden es nicht erfahren. Wir können nur mutmaßen. Heidis lebenslange Verbundenheit zu einem politischen Regime, mit dem sie als junges Mädchen aufgewachsen war, machte einen Teil ihrer Persönlichkeit aus. Ein Fakt, der ein letztes Mal interessant wurde, als die Trauerrednerin ihre Ansprache vorbereitete. Sie sprach in der Kapelle neben der blumengeschmückten Urne von einer „großen Heimatliebe, die Heidis Wesen ausmachte“, ein Moment in dem jeder der Anwesenden wusste, was gemeint war und unweigerlich schmunzeln musste.

Warum schreibe ich das Ganze? Oma Heidi war eine Zeitzeugin. Auch sie hat in einer Gesellschaft gelebt, die die Menschen bald nur noch aus Geschichtsbüchern und Dokus kennen. Ihre Persönlichkeit wurde durch die Zeit und ihre Erlebnisse geformt. Menschen sind Individuen, geprägt - aber auch begrenzt - durch ihren Horizont. 

Ist Oma Heidi ein schlechter Mensch gewesen, weil sie ihr Weltbild nie hinterfragt hat oder noch viel schlimmer: in mein unverdorbenes kindliches Hirn gepflanzt hat? Weil sie mich sehenden Auges Nazijoghurt hat essen lassen? Und warum hat sie eigentlich nie hinterfragt? Boten ihr die Erinnerungen an diese bessere Zeit, das nostalgische Schwelgen, vielleicht einen Rückzug? Eine Art Schutzraum? Waren die Schuldzuweisungen einfach nur eine Erklärung um Ruhe zu finden, für eine Frau, die auch lange nach Kriegsende vom Schicksal nicht verschont blieb, zum Beispiel als ihre einzige und innig geliebte Tochter als erwachsene Frau einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel?

Sorgt euch nicht. Als Jugendliche hab ich den ein oder anderen kläglich gescheiterten Versuch unternommen, aus Heidis Schwarz und Weiß zumindest ein Grau zu machen. Jeder der mich schon länger liest, kennt einige meiner Ansichten und ahnt zumindest vage, dass sich diese nur schwerlich bis gar nicht mit der Weltanschauung um 1945, die aktuell ein erschreckendes Revival erlebt, vertragen. Also calm down and love Heidi. Es sind nicht nur die Geschichten, mit denen wir aufwachsen, die uns zu dem machen was wir sind, sondern es ist auch der Verstand, mit dem wir bewerten.

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4 Kommentare:

  1. So eine Oma (*1920) hatte ich auch! Und was habe ich sie geliebt! Wir hatten auch ein sehr ähnliches Verhältnis. War zwar nicht das erste weibliche Enkelchen, aber wir lebten im gleichen Haus. Ich durfte ALLES! Meine Mama hat mir später dann erzählt, dass es da wohl oft zu Konflikten gekommen war.
    Auch sie erzählte viel und gerne vom Krieg. Von ihren 3 Verehrern. Deren Armbanduhren sie mir immer wieder zeigte, und die ich heute noch in einer kleinen Schachtel aufbewahre. (Neben der Weihnachtskrippe, die mein Opa während seiner Gefangenschaft in Sibirien geschnitzt hat.) Von den Bäuerinnen und den Erntehelfern. Und dass es nicht selten die Frauen waren, die untreu waren. Sie war im Alter offener und sehr neugierig. Den Zivi mit afrikanischer Abstammung wollte sie unbedingt einmal anfassen, um zu sehen ob "die sich genauso anfühlen". Die Homophobie hat sie sich jedoch bis zum Ende bewahrt. Das war ein Thema, womit sie sich überhaupt nicht anfreunden konnte.
    Ach ja, ich vermisse sie schon sehr!
    Verurteilen würde ich sie nie. Haben wir das Recht dazu? Wir verpesten wissentlich die Umwelt. Wahrscheinlich werden unsere Kinder uns das einmal zum Vorwurf machen.

    Schön geschriebener Beitrag! Hat mich wieder 20 Jahre zurückkatapultiert! Danke!
    LG, Tina

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    1. Ich danke dir für den wunderbaren Kommentar. Freut mich wirklich, dass sich so auch andere Menschen mit ähnlichen Erinnerungen und Erfahrungen habe. Ich habe auch eine ganz besondere Erinnerung an meine Oma: ihr rotgoldner Ehering wurde zu einem Teil der Eheringe der Müllers verarbeitet... (allerdings ist meiner LEIDER schon länger verschwunden).
      Meine Oma wurde leider im Alter durch die Demenz sehr bösartig und hat es uns als Enkel sehr schwer gemacht, noch an sie dran zu kommen... Sie war trotzdem eine Gute und ich danke ihr für ALLES, das sie mir mitgegeben hat.
      LG
      Frau Müller

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  2. Wie sehr sich die Geschichten doch ähneln.
    Meine Oma ist '22 geboren. Erst vor wenigen Jahren hat sie "gebeichtet", dass meine Tante einen russischen Vater hat.

    Ich glaube nicht, das wie über die Generation urteilen können. Die haben so viel Extremes siehte und niemand von uns kann sagen, wie man selbst in der Situation gehandelt hätte.

    Danke für den Beitrag!
    Nadi

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    1. Ich danke DIR für diesen tollen Kommentar. Es ist so wichtig, dass wir diese Geschichten erzählen. Bald gibt es keine Zeitzeugen mehr - nur noch das bewusste und unbewusste in unseren Köpfen. Wir müssen uns damit auseinandersetzen um bewerten zu können ...
      GlG
      Frau Müller

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