Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 8. November 2017

Klopf, klopf - Wer ist da? Ich bin's, der TOD (oder Isolde)

Wir befinden uns mitten im nasskalten, düstern und unsympathischen November - quasi dem Alexander Gauland unter den Monaten. Keiner will ihn, die einen trauern dem wie immer viel zu lahmen Spätsommer hinterher, die anderen sehnen sich Schnee und weihnachtlichen Lichterglanz herbei. Ein Monat, in dem nur noch die Ultras unter den Übermüttern ihre Kinder weg von der Konsole und hinaus in den Schlamm scheuchen.Den November muss man halt irgendwie überstehen.
Was passt also besser zu dieser tristen Stimmung als ein Post, der sich mit dem Sterben beschäftigt? Der heutige Artikel ist schon vor einer Weile entstanden, genauer gesagt zur Weihnachtszeit im Jahre 2016. Ein ernstes, vielleicht auch trauriges Thema, ein bisschen mülleresk interpretiert...

Es gibt wahrscheinlich nur wenige Orte, an denen Tragik und Komik so dicht beieinander liegen wie in Absurdistan, dem Ort meines täglichen pädagogischen Wirkens. Wenn zum Beispiel der stark übergewichtige Jason mit der dauerkrustigen Nase aus der dritten Klasse mit offenen Uralt-Turnschuhen in Größe 43 im Dezember ohne Socken und in Jeans, an welcher der Saum eine Handbreit über dem Knöchel endet, deren Beine aber so weit sind, dass sie auch meinen Oberschenkel locker umspielen könnten, über den Schulhof rennt, dabei mit seinen schmutzigen Wurstfingern eine stilisierte Waffe formt und Maschinengewehr-Geräusche nachahmend auf seine Mitschüler zielt, dann ist das tragisch. Sehr sogar.
Man hofft, dass Jason später nur dauerzockender Sozialleistungsempfänger wird und nicht worst case irgendein Krimineller, dessen Fahndungsfoto man im Fernsehen sieht und denkt: 'Dem hab ich früher beim Obstkörbchen kneten geholfen.'

Tragisch vor allem, wenn man die häuslichen Verhältnisse kennt, aus denen Jason stammt und schon einmal nach einem Elterngespräch die verbrauchte Luft im Beratungszimmer atmen musste oder den langhaarigen 2m-Vater im bodenlangen Ledermantel durchs Schulhaus röhren hörte. 
Aber es sieht eben auch lustig aus. Sehr sogar. Ein bisschen wie der Sohn von Samson aus der Sesamstraße, Bruce Willis zu Stirb-Langsam-Zeiten und Hagrid aus Harry Potter.  Wie? Drei Männer können zusammen kein Kind bekommen? Ich denke, so eins schon.

Einige Stunden der letzten Tage verbrachte ich jedoch an einem Ort, der von mir einen noch größeren Spagat zwischen beiden Stimmungen verlangte. Ich befinde mich im Zimmer des Alten- und Pflegeheims, das meiner Oma für ihre letzten Lebensjahre mit Demenz ein gutes Zuhause war. Demenz ist eine gemeine Krankheit, die für die Betroffenen und ihre Angehörigen früher oder später Einiges im Leben ändert. Dennoch sind die Szenen, welche sich mit fortschreitender Erkrankung zuweilen ereigneten, manchmal so tragisch wie komisch.

Wenn ich etwas durch meine Arbeit an einer Förderschule gelernt habe, dann dass es einem die Arbeit nicht erleichtert wenn man Tragisches immerzu fürchterlich ernst und als Last mit sich herumträgt. Ich mache meine Arbeit nicht schlechter, nur weil ich in Erwägung ziehe, mit meinem ausgeprägten Geruchssinn die Arbeitsmittel meiner Schüler bei "Wetten dass" zu erschnüffeln. Ich habe jenseits meiner Arbeitszeit und unter den abschätzigen Bemerkungen meiner Vorgesetzten an Beratungen und Supervisionen teilgenommen, die mir helfen sollten, Kindeswohlgefährdung bei einer Schülerin zu erkennen, die mich jedesmal wenn sie unter ihren speckigen schwarzen Haaren von ihrem Heft aufschaute an den fiesen Severus Snape aus Harry Potter erinnerte, weswegen ich mir immer ein Grinsen verkneifen musste. Und ich habe meine Oma nicht weniger lieb, wenn ich manchmal herzhaft über ihre eigene kleine Welt lache.


Jetzt sitze ich am Sterbebett meiner Oma. Während ich ihre Hand halte, fällt mir auf wie ähnlich sich Menschen am Anfang und Ende ihres Lebens sind. Egal ob gerade geboren oder mit einem gelebten Leben hinter sich: sie wollen nicht alleine sein. Sie halten die Hand, die man ihnen hinhält. Sie werden gefüttert und liegen in Windeln. Weil sie es nicht anders können. Und so wie sie sich ins Leben kämpften, so kämpfend verlassen sie es auch. Ob sie dabei gegen den Tod oder das Leben kämpfen, darüber lässt sich nur spekulieren. Genau wie Babys lächeln sie im Schlaf und als Beobachter lässt einen das mitschmunzeln und grübeln, was wohl "da oben drin" gerade vorgeht. 
Kaum ein Mensch käme auf die Idee ein hilfloses Baby mit seinen Bedürfnissen einfach alleine zu lassen. Und trotzdem sterben so viele alte Menschen einsam.

Ich bin mit dem bevorstehenden Tod meiner Oma im Reinen. Sie ist 87, hatte ein schönes Leben und war nie ernsthaft krank. Nach dem Abschied von ihrem Mann lebte sie ein paar Jahre allein.  Als die Demenz kam wurde das zu gefährlich. Der Umzug ins Heim war nicht einvernehmlich, trotzdem unvermeidlich und ist niemandem leicht gefallen.

In der Anfangszeit hatte sie Mühe die Rundumverpflegung zu realisieren, forderte sie doch ganz dringend noch Waschmaschine und Kühlschrank in ihrem Einzimmer-Apartment mit Schrankwand, Seniorensessel und Pflegebett. Wenn man sie fragte, was es zu Mittag gab antwortete sie oft: 
„Ach, ich hatte noch Kartoffelsalat da. Da hab ich mir ein Würstchen dazu warm gemacht. Aber bring mir doch mal ein paar Flaschen Sekt mit. Damit ich was da habe, wenn Besuch kommt.“

Na Oma? Was hast du heute so gemacht? - "Na ich war mit der Hausordnung dran. Du kannst dir nicht vorstellen wie der Hausflur aussah. Den ganzen Tag rennen die Kinder raus und rein und keiner putzt sich die Schuhe ab."
 
In ihrer Welt war alles wie damals. Vor der Demenz. Und vor dem Umzug. Nur die Nachbarn waren jetzt viel netter. Die brachten ihr nämlich jeden Nachmittag ein Stückchen Kuchen.
Schon wenige Wochen nach ihrem Einzug hatte die ehemalige eher menschenscheue Einzelgängerin eine beste Freundin gefunden. Die beiden liefen Hand in Hand die Flure entlang und teilten die Leidenschaft für Eierlikör und Kreuzworträtsel genauso wie ihre Abneigung gegen freudbetonte Gruppenaktivitäten. Beim Aufruf zum Seniorentanz bekamen die beiden das große Rennen. 

Nach dem Schlaganfall samt Krankenhausaufenthalt meiner Oma vor drei Wochen war Hilde verwirrt über das plötzliche Verschwinden ihrer besseren Hälfte. Während wir an ihrem Bett sitzen, öffnet sie fünfmal die Tür nur einen Spalt breit, um nachzusehen ob ihre Freundin noch da ist.
Die Schwester erzählt uns, dass Hilde auch am Bett sitzt wenn gerade keiner von uns da ist. Und dass Hilde wartet. Auf den Sommer. Wenn sie mit Oma im Garten wieder spazieren gehen kann.
Und so sitzen wir also, unterhalten uns im Flüsterton, schauen auf den Brustkorb der Oma unter dem Nachthemd mit Stehkragen und Knopfleiste, der sich unregelmäßig schwach hebt und senkt. Dazwischen immer wieder Stille, das Ticken der goldenen Pendeluhr an der Wand über dem Bett und immer wieder zuverlässig die Stimmen aus dem Pflegeheim-Off:

Ein fortwährend sonor gebrülltes „Schwester!“ 
Zwei Minuten später „Schweeeester!“ in scheinbarer Endlosschleife. 
Darauf immer die gleiche Antwort vom anderen Ende des Ganges – damenhaft zurückgebrüllt: 
„Halt die Schnauze. Halt doch endlich die Schnauze. Du hast doch schon dreimal geklingelt. Die Schwester hat schließlich auch noch andere Sachen zu tun. Schnauze!“ 
Und dazwischen die so verständnisvoll-genervt wie professionell-beschwichtigend klingende Schwester, nach der Herbert so vehement verlangt, acht bis zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche: 
„Herbert, schrei doch nicht so. Ich muss mich auch um die anderen Leute hier kümmern.

Herbert ist erstmal ruhig. Man kann jetzt Isolde hören. Mit ihr hat sich meine Oma das Bad geteilt. Sie schreit: 
„Ich will hier RAUS. Die lassen mich hier nicht mehr raus. Jetzt helft mir doch endlich mal einer! Ich will hier RAUUS!“ 
Meine Mutter öffnet die Tür zum Bad im Durchgangsraum. Isolde rüttelt am Haltegriff der Dusche und schreit die Fliesen an.
Isolde war es auch, die Hilde für „bekloppt“ erklärte, weil sie nicht verstand, warum meine Oma plötzlich nicht mehr in ihrem Zimmer war.

Dann wird es wieder still im Zimmer und auf dem Flur. Mal sieht die Oma ganz entspannt aus. Einen Moment später zieht sie im Dämmerschlaf ihre Stirn in krause Falten und spitzt die Lippen. Was wohl hinter dieser Stirn vorgeht?


Draußen schimpft plötzlich wieder jemand. Meine Mutter sagt: 
„Horch, das ist die Waltraud. Der hat die Oma mal eine gescheuert.“ 
Waltraud hatte die zwei Freundinnen gehänselt und sich damit nach Ansicht der Oma eine ordentliche Backpfeife verdient. Und sie wäre nicht meine Oma, wenn sie sich nicht zu den Umsitzenden gedreht hätte mit den Worten:  
„Habt ihr was gesehen? Nein? Ich auch nicht.“

Einen Tag später scheint es der Oma wieder besser zu gehen. Abwechselnd flüstert sie vor sich hin oder schnarcht ganz laut. Isolde von neben an findet mal wieder den Ausgang vom Klo nicht und ruft. Als meine Mutter sie in ihr Zimmer bringt legt Isolde den Kopf an die Schulter der für sie Fremden und sagt: „Eine Gute bist du. So eine Gute. Ich tät dir ja ein paar Mark geben wenn ich was hätte. Aber ich hab doch nichts.“ 

Später wirkt die Oma plötzlich ganz ernst, unruhig und angespannt. Sie möchte uns was sagen. Wir gehen ganz nah an sie heran und sie flüstert uns „Ihr Deppen“  in die lauschenden Ohren. Dabei verzieht den Mundwinkel der ungelähmten Gesichtshälfte zu einem kleinen Lächeln. Sie sagt an diesem Vormittag noch viel mehr. Mal mit runzliger Stirn, mal mit feuchten Augen, mal mit diesem seeligen Gesichtsausdruck um die Lippen. 

Wäre ich nun ein besserer Begleiter für die letzten Tage meiner Oma gewesen, wenn ich mich mit übertriebener Ehrfurcht und einer Art gesellschaftlich aufoktroyiertem Respekt vor Alter und Tod gefürchtet hätte. Ist es das, was die Menschen von ihren sterbenden Angehörigen leider so oft fern hält?


Ich würde meinen Job auch nicht besser machen, wenn ich den Gedanken an all die vorgezeichneten Biografien meiner Schüler täglich mit nach Hause auf's Sofa nehmen würde. Ich würde ihn vermutlich sogar schlechter machen, wenn wir "schlecht" gleichsetzen mit "nicht so gerne", "entkräftet" und "halb so lange".

Ich muss nicht traurig und ernst sein. Das kann das Leben alleine schon ganz gut. 

Im FACEBOOK-Lehrerzimmer
macht das Leben eine Ausnahme. 
Schaut rein und gebt der verrückten Frau
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